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von Martina Kobiela<br />

Es passierte am helllichten<br />

Tag, gegen<br />

16 Uhr nachmittags.<br />

“Er galoppierte<br />

aus den<br />

Wald, trennte ein<br />

Muttertier und ein Lamm vom<br />

Rest der Herde, schnappte die<br />

junge Ziege im Genick und trabte<br />

davon”, berichtet Ziegenhirte<br />

Andrea Signori vom Wolfsriss<br />

auf der Alpe di Nara. Vor drei<br />

Wochen beobachtete der junge<br />

Italiener aus der Region Bergamasco<br />

mit dem Fernglas, wie eine<br />

der 120 schwarzen Verzasca-<br />

Ziegen mit einem Genickbiss getötet<br />

wurde. Ob es nicht doch ein<br />

verwilderter Hund war? “Es war<br />

ganz sicher ein Wolf. Hunde bewegen<br />

sich anders, gehen nicht<br />

so effizient vor und spielen meist<br />

mit ihrer Beute”, erklärt der<br />

hauptberufliche Hirte, während<br />

er eine selbstgerollte Zigarette<br />

raucht und mit zusammengekniffenen<br />

Augen auf den gegenüberliegenden<br />

Hang blickt, dorthin,<br />

wo er erstmals einen Wolf gesehen<br />

hat. Sein Augenzeugenbericht<br />

hat weitreichende Konsequenzen.<br />

Anders als bei der Fabel<br />

über den Hirtenjungen, der<br />

“Wolf” schreit, kamen ihm die<br />

Dorfbewohner nicht bewaffnet<br />

zur Hilfe, sondern mit zwei Herdenschutzhunden:<br />

Dumbo und<br />

Jerry. Die Initiative für den Leih-<br />

Einsatz ergriff Marco Brignoli<br />

von Agridea, die im Auftrag des<br />

Bundes den Herdenschutz organisiert.<br />

Als Koordinator für den<br />

Herdenschutz im Tessin setzte er<br />

die mobile Einsatzgruppe in Bewegung.<br />

Das, obwohl kein Beweis<br />

vorliegt, dass es sich tatsächlich<br />

um einen Wolfsriss handelt.<br />

Denn wegen der starken Regenfälle,<br />

hätte der eingesetzte<br />

Spürhund die Überreste des getöteten<br />

Lamms nicht finden können<br />

ein genetischer Nachweis, sei somit<br />

unmöglich, erklärt er. Brignoli<br />

hebt hervor, dass die beiden<br />

Pyrenäen-Berghunde die Ziegen<br />

auch vor anderen Raubtieren, wie<br />

Hunden beispielsweise, schützen.<br />

Anders als der kantonale<br />

Jagdaufseher, der Beweise für einen<br />

Wolfsriss brauche, könne<br />

Agridea auch auf eine Beobachtung<br />

hin aktiv werden, meint Brignoli,<br />

der am Dienstag mit dabei<br />

war, als die Herdenschutzhunde<br />

auf die Alp gebracht wurden und<br />

ihre Schützlinge trafen.<br />

Einen Sommer gratis Schutz<br />

Der Hundeeinsatz während des<br />

ersten Alpsommers kostet den<br />

Besitzer der Ziegen nichts. Dementsprechend<br />

schnell hat er zugestimmt,<br />

dass die mobile Hirtin<br />

Jenny Dornig mit den beiden<br />

Herdenschutzhunden auf seine<br />

Alp auf 2000 m ü. M. kommt.<br />

Die beiden Pyrenäen-Berghunde<br />

werden die Herde bis zum Alpabzug<br />

gratis beschützen. Jenny<br />

Dornig ist in der ersten Woche<br />

20. Juli 2012<br />

Reportage<br />

Der Ziegenhirte Andrea Signori hat auf der Alpe di Nara beobachtet, wie ein Wolf ein Lamm riss.<br />

Herdenschutzhunde sorgen dafür, dass das Opfer das nächste Mal eine Gams oder ein Hirschkalb ist<br />

BODYGUARDS: DUMBO UND<br />

JERRY SCHÜTZEN120 ZIEGEN<br />

Andrea Signori beobachtete, wie ein Wolf eine Ziege riss. Die Pyrenäen-Berghunde Dumbo und Jerry werden ihm diesen Sommer beim Schutz der Verzasca-Ziegen helfen<br />

Für manche Hirten ist der Wolf ein Feind, der den Tod verdient<br />

vor Ort und hilft Tieren und Menschen,<br />

sich aneinander zu gewöhnen<br />

und potenzielle Konflikte<br />

frühzeitig zu erkennen. Gut zwei<br />

Wochen nachdem das Lamm gerissen<br />

wurde, steigt sie an einem<br />

Dienstag um sechs Uhr früh in ihren<br />

dunkelgrünen Subaru Kombi.<br />

Im Kofferraum sitzen die beiden<br />

grossen weissen Herdenschutzhunde<br />

Dumbo und Jerry. Auf<br />

dem Rücksitz reisen die kleinen<br />

und wendigen Hütehunde Hanky<br />

und Lutzek. Die Alpe Nara erreicht<br />

Jenny Dornig nach über<br />

vier Stunden Fahrt und einem fast<br />

zweistündigen Alpaufstieg. Oben<br />

angekommen erfährt sie, dass der<br />

Hirte Andrea Signori mit zwei<br />

Hütehunden arbeitet. Ein poten-<br />

tielles Problem, denn einer der<br />

Hunde des Hirten ist ein Rüde<br />

und die Schutzhündin Jerry wird<br />

bald läufig. Auf Englisch, der einzigen<br />

Sprache, die die Deutschschweizerin<br />

vom Herdenschutzverein<br />

und der italienische Ziegenhirte<br />

gemein haben, erklärt<br />

sie, wie er im Konfliktfall reagieren<br />

muss. Denn der Umgang mit<br />

Herdenschutzhunden ist für Hirten<br />

in Mitteleuropa, wo der Wolf<br />

ausgerottet worden war, keine<br />

Selbstverständlichkeit mehr – obwohl<br />

die Tiere seit Jahrhunderten<br />

eingesetzt wurden.<br />

Hirtenlehre für Arbeitslose<br />

Der Einsatz von Hütehunden ist<br />

nicht ausreichend, um die Ziegen<br />

und Schafe vor Raubtierangriffen<br />

zu schützen. Herden müssen behirtet<br />

werden und Hirten müssen<br />

wissen, wie sie mit Herdenschutz-<br />

und Hütehunden umgehen<br />

sollen. Es gibt zu wenige<br />

ausgebildete Hirten in der<br />

Schweiz. Deswegen hat Agridea<br />

in Zusammenarbeit mit dem<br />

Kanton diese Woche das Experiment<br />

gestartet, Langzeitarbeitslose<br />

zu Hirten auszubilden. An<br />

Wissen über die in der Herde lebenden<br />

Hunde mangelt es auch<br />

bei Bergtouristen. Denn ein Herdenschutzhund<br />

beschützt indem<br />

er sein Territorium markiert, abschreckend<br />

bellt und Dominanz<br />

zeigt. Immer wieder kommt es zu<br />

Konflikten zwischen Wanderern<br />

und Herdenschutzhunden. Um<br />

solche unangenehmen Situationen<br />

zu vermeiden, werden in den<br />

betroffenen Gebieten Hinweistafeln<br />

aufgestellt. Auf der Alpe di<br />

Nara könne man beim Alpfest am<br />

Samstag, den 11. August, mehr<br />

über die Pyrenäen-Berghunde erfahren,<br />

erklärt der Verantwortliche<br />

der Alp Mirko Togni. Zum<br />

Mittagstisch mit Polenta und Alpkäse<br />

solle man sich unter der<br />

Nummer 079/ 797 12 13 anmelden.<br />

Den Wolf jagen oder verjagen?<br />

Herdenschutzhunde schützen<br />

Nutztiere in den Alpen vor<br />

Grossraubtieren. Damit helfen sie<br />

auch streng geschützten Tieren<br />

wie Bär und Wolf, weil diese<br />

wegen der Hunde weniger Nutztiere<br />

reissen, und so die Akzeptanz<br />

für Grossraubtiere in den<br />

betroffenen Regionen verstärkt<br />

wird. Der Wolf ist 1995 in die<br />

Herdenschutzhunde sollen Raubtiere zwingen, statt Ziegen Wildtiere zu jagen<br />

Schweiz zurückgekehrt. Im Tessin<br />

leben heute mehrere Exemplare.<br />

Die Einstellung der<br />

Bevölkerung zur Rückkehr von<br />

Meister Isegrimm ist gemischt.<br />

Hirte Signori ist überzeugt, dass<br />

man den Wolf nicht abschiessen<br />

soll: “Man sollte den Wolf nicht<br />

töten, sondern nur verjagen,<br />

wenn er der Herde zu nahe<br />

kommt.” Auch Jenny Dornig<br />

glaubt, dass ein Zusammenleben<br />

von Wölfen, Menschen und<br />

Nutztieren möglich ist, wenn die<br />

Herden in den Bergen entsprechend<br />

geschützt werden. Marco<br />

Brignoli von Agridea und der<br />

Verantwortliche der Alp, Mirko<br />

Togni, können sich eine Koexistenz<br />

von Mensch und Wolf nicht<br />

vorstellen und wünschen sich,<br />

dass der Wolf zum Abschuss freigegeben<br />

wird.<br />

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