Herunterladen - tessiner zeitung
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2 20. Juli 2012<br />
Der Hirschkäfer: Im Tessin ist die in Europa als vom Aussterben bedrohte Art noch recht weit verbreitet<br />
SKURRILE FLIEGER MIT GEWEIH<br />
IN DER ABENDDÄMMERUNG<br />
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Preis er mässigungen<br />
Thema<br />
von Kurt F. de Swaaf<br />
Abendstimmung<br />
am Waldrand:<br />
Die Sonne ist<br />
gerade untergegangen,<br />
doch<br />
die Luft ist<br />
noch voll von warmen Sommerdüften.<br />
Auf der Wiese zirpen ein<br />
paar Grillen, irgendwo da hinten<br />
schimpft eine Amsel. Plötzlich<br />
erklingt ein schweres Brummen.<br />
Der Blick wandert suchend umher<br />
und bleibt an einer seltsamen<br />
fliegenden Silhouette hängen.<br />
Ein Insekt, offenbar ein riesiger<br />
Käfer. Seine skurril geformten<br />
Kiefer sind gut erkennbar. Etwas<br />
ungelenk schwirrt das Tier am<br />
Beobachter vorbei und verschwindet<br />
dann im Geäst einer<br />
alten Eiche. Lucanus cervus ist<br />
auf Brautschau.<br />
Im deutschen Sprachraum sind<br />
diese sonderbaren Geschöpfe als<br />
Hirschkäfer bekannt, und der<br />
Name erklärt sich wahrlich von<br />
selbst. Mit einer Länge von bis<br />
zu neun Zentimetern ist dies die<br />
größte Käferart Europas. Ein solches<br />
Gardemass erreichen allerdings<br />
nur die Männchen. Weibliche<br />
Hirschkäfer blieben deutlich<br />
kleiner. Ihnen fehlen auch die geweihartigen<br />
Mandibeln. Den<br />
männlichen Exemplaren dienen<br />
diese tatsächlich als Waffen zum<br />
Austragen von Balzkämpfen –<br />
genauso wie bei Rothirschen.<br />
Zum Beissen sind die übergrossen<br />
Kiefer gleichwohl nicht geeignet.<br />
Man kann die Käfer also<br />
bedenkenlos anfassen und in die<br />
Hand nehmen, ohne Angst vor<br />
gequetschten Fingern.<br />
L. cervus mag von beeindruckender<br />
Statur sein, doch die Körpergrösse<br />
hat auch ihren Preis. „Sie<br />
fliegen nicht so gut“, erklärt der<br />
Biologe Michele Abderhalden<br />
von der Antenna sud delle<br />
Alpi/Schweizer Zentrum für die<br />
Kartografie der Fauna am Museo<br />
Cantonale di Storia Naturale<br />
(MCSN) in Lugano gegenüber<br />
der „TZ“. Der Aktionsradius von<br />
Hirschkäfern dürfte deshalb auf<br />
wenige hundert Meter begrenzt<br />
sein, meint der Experte. Und das<br />
bedeutet höchstwahrscheinlich,<br />
dass die Tiere ziemlich standorttreu<br />
sind. Über Generationen<br />
hinweg. Für den Artenschutz<br />
wiederum hat dies wichtige Konsequenzen.Hirschkäfer-Populationen<br />
werden leicht voneinander<br />
isoliert. Der Hintergrund: In<br />
den vergangenen Jahrzehnten<br />
haben die Grosssinsekten immer<br />
mehr geeignete Lebensräume<br />
verloren, in weiten Teilen<br />
Hirschkäfer in Aktion: Sie bieten sich veritable Balzkämpfe auf den Bäumen, die gut zu hörenden Brummer<br />
Europas sind nur Inselvorkommen<br />
geblieben. Der so wichtige<br />
genetische Austausch wird behindert<br />
oder kommt ganz zum<br />
Erliegen.<br />
Inzwischen gelten die majestätischen<br />
Käfer vielerorts als vom<br />
Aussterben bedroht. Auch in der<br />
Schweiz. Um auf die Problematik<br />
aufmerksam zu machen, haben<br />
Fachleute in Deutschland,<br />
Österreich und der Eidgenossenschaft<br />
den Hirschkäfer zum „Insekt<br />
des Jahres 2012“ gekürt. Die<br />
Art hat einen durchaus speziellen<br />
Lebenszyklus. Die Larven leben<br />
im Erdreich und ernähren sich<br />
dort vom Holzgewebe toter oder<br />
absterbender Baumwurzeln. Die<br />
Entwicklung des Käfer-Nachwuchses<br />
dauert drei bis sechs<br />
Jahre, unter schwierigen Bedingungen<br />
gar bis zu acht Jahren. Je<br />
morscher und von Pilzen bereits<br />
zersetzt das Wurzelwerk ist, desto<br />
besser für die Larven. Ihre<br />
Verdauung hat es dann leichter.<br />
Wenn sie nach langem Wachstum<br />
kräftig genug sind, beginnt<br />
im Herbst die Verpuppung. Die<br />
so genannten Engerlinge können<br />
vorher eine Länge von gut zehn<br />
Zentimetern erreichen und sind<br />
somit grösser als die ausgewachsenen<br />
Käfer.<br />
Für den kompletten Verwandlungsprozess<br />
von der Larve zum<br />
fast geschlechtsreifen Insekt<br />
brauchen die Tiere sechs Wo-<br />
chen. Anschliessend kriechen sie<br />
aus ihrem Kokon hervor, bleiben<br />
aber den Winter über noch im<br />
Boden versteckt. Erst zum Sommerbeginn<br />
geht es dann an die<br />
Erdoberfläche. „Hirschkäfer fliegen<br />
an der Nordseite der Alpen<br />
etwas früher als an der südlichen<br />
Seite“, berichtet Michele Abderhalden.<br />
Der Grund für diese Verzögerung<br />
ist bisher ungeklärt. Im<br />
Tessin wurden diesjährig am 11.<br />
Juni die ersten Sichtungen gemeldet.<br />
Geflogen wird bis August,<br />
vor allem abends, in der<br />
Dämmerung. Die erwachsenen<br />
Käfer leben nur einige Wochen.<br />
Ihre einzige Aufgabe ist die Fortpflanzung,<br />
und die ist vor allem<br />
für die Männchen eine anstrengende<br />
Angelegenheit. Sobald ein<br />
Weibchen mittels seiner Duftstoffe,<br />
den Pheromonen, mehr<br />
als nur einen männlichen Artgenossen<br />
anlockt, kommt es zum<br />
Kampf. Die hochgerüsteten<br />
Sechsbeiner versuchen dabei,<br />
den Gegner durch geschickten<br />
Einsatz des eigenen „Geweihs“<br />
auf den Rücken zu werfen oder<br />
einfach vom Ast zu schieben. Ein<br />
echter Kraftakt. Der Sieger paart<br />
sich später mit der Umworbenen.<br />
Ziel erreicht. Ihren Energiebedarf<br />
decken ausgewachsene L.<br />
cervus übrigens bevorzugt durch<br />
zuckerhaltige Säfte, die aus<br />
Baumwunden fließen und durch<br />
Pollen.<br />
Befruchtete Hirschkäferweibchen<br />
graben sich in der Nähe einer<br />
guten Larven-Nahrungsquelle<br />
im Boden ein und legen<br />
dort 50-100 Eier. Diese schlüpfen<br />
nach etwa drei Wochen, der<br />
Zyklus beginnt von Neuem –<br />
wenn die Umstände günstig<br />
sind. Tote und kranke Laubbäume<br />
sind die Existenzgrundlage<br />
einer jeden Hirschkäfer-Population.<br />
Vor allem Eichen erfreuen<br />
sich bei diesen Insekten<br />
grosser Beliebtheit. Die moderne<br />
Forstwirtschaft jedoch lässt<br />
kaum einen alten Baum eines<br />
natürlichen Todes sterben, und<br />
die tiefe Bodenbearbeitung inklusive<br />
Entfernung von Baumstümpfen<br />
und Wurzeln hat<br />
ebenfalls ihren Teil dazu beigetragen,<br />
die Hirschkäfer-Bestände<br />
grossräumig zu dezimieren.<br />
Vor allem Kinder kennen die<br />
beeindruckenden Krabbler<br />
meist nur noch aus Büchern.<br />
Zum Glück droht die Art indes<br />
nicht überall zu verschwinden. In<br />
der Südschweiz scheinen die Populationen<br />
stabil zu sein. „Sie<br />
sind fast im gesamten Tessin verbreitet“,<br />
erklärt Michele Abderhalden.<br />
"Über die hiesigen Bestandsentwicklungen<br />
liegen<br />
zwar keine genauen Daten vor,<br />
aber es gibt in unserem Kanton<br />
auch keine Hinweise auf einen<br />
Rückgang", sagt der Biologe.<br />
„Die Wälder sind hier noch ein<br />
bisschen natürlicher.“ An Berghängen<br />
kommen Hirschkäfer<br />
meist in Höhen bis zu 800 Metern<br />
vor. Im Allgemeinen mögen<br />
sie es relativ warm. Ein typischer<br />
Fundort ist zum Beispiel der<br />
Waldrand oberhalb der Magadino-Ebene<br />
bei Giubiasco, berichtet<br />
Abderhalden. Doch auch im<br />
Stadtbereich von Lugano könne<br />
man die Grossinsekten beobachten,<br />
unter anderem im Parco Ciani<br />
an der Cassarate-Mündung.<br />
Der Wissenschaftler kennt sogar<br />
ein Hirschkäfer-Vorkommen in<br />
einem Luganer Garten mit abgeholzten<br />
Bäumen. Deren Wurzeln<br />
stecken noch in der Erde.<br />
Um die Tessiner Bestände von L.<br />
cervus präziser zu erfassen, hat<br />
die Eidgenössische Forschungsanstalt<br />
für Wald, Schnee und<br />
Landschaft (WSL) zusammen<br />
mit dem MCSN im Internet eine<br />
Meldeseite für Hirschkäfer-Sichtungen<br />
eingerichtet (siehe unten).<br />
Dort kann jeder seine Beobachtungen<br />
eintragen und so mithelfen,<br />
die Tiere zukünftig besser<br />
zu schützen. Damit auch unsere<br />
Urenkel noch über diese faszinierenden<br />
Riesenkäfer staunen<br />
werden.<br />
Link: http://www.ti.ch/dt/Segnalazioni/Mail_allegati/ScriviE-<br />
MailMCSNCervoVolante.asp?S<br />
iglaUfficio=DT_DA_MCSN_C<br />
ERVOVOLANTE