E&W Oktober 2009 - GEW
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Reiches Land – arme Kinder<br />
Die Schwächsten bleiben in Deutschland auf der Strecke<br />
Obwohl Deutschland so viel Geld<br />
für den Nachwuchs ausgibt wie nur<br />
wenige OECD-Länder, bleiben die<br />
Schwächsten – die Kinder aus ärmeren<br />
Familien – auf der Strecke. Das<br />
zeigt der Anfang September von der<br />
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung<br />
(OECD) erstmals vorgelegte Bericht<br />
zur Lage der Kinder.<br />
Die Zehnjährige – nennen<br />
wir sie Mandy –gehtinBerlin<br />
zur Schule. Ihre Mutter<br />
ist Alleinerziehende, lebt<br />
von Hartz IV, hat mit sich<br />
selbst genug zu tun. Der<br />
Senat bezahlt Mandys Schulplatz und<br />
ihre Mutter bekommt für sie Kindergeld.<br />
Das erhalten die Eltern von Merle<br />
auch – und noch viel mehr, denn die<br />
Hortkosten kann das gut verdienende<br />
Paar zum Teil von der Steuer absetzen.<br />
Merle gibt Mandy jeden Tag etwas von<br />
ihrem Pausenbrot ab. Aus Mitleid, denn<br />
von ihrer Mutter bekommt Mandy kein<br />
Essen mit in die Schule und am Mittagessen<br />
im Schulhort nimmt Mandy nicht<br />
teil, da ihre Mutter die 23 Euro, die das<br />
Essen im Monat kostet, nicht zahlen<br />
kann.<br />
Der Fall von Mandy und Merle demonstriert<br />
die Schieflage der Sozialund<br />
Familienpolitik in Deutschland:<br />
Der Staat gibt Geld für Kinder an den<br />
falschen Stellen aus. Zwar zahlt die öffentliche<br />
Hand umgerechnet 144 500<br />
US-Dollar für jeden seiner jungen Bürger<br />
von der Geburt bis zur Volljährigkeit,<br />
nur wenige der in der Studie untersuchten<br />
30 Länder sind spendabler.<br />
Doch besonders erfolgreich ist diese Politik<br />
nicht. 40 Prozent der Haushalte mit<br />
Alleinerziehenden in Deutschland sind<br />
arm, d.h. ihr Einkommen beträgt weniger<br />
als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens;<br />
im OECD-Schnitt gilt dies<br />
für 30 Prozent der alleinerziehenden Eltern.<br />
Rund 16 Prozent der Kinder sind<br />
in Deutschland arm, im OECD-Mittel<br />
beträgt die Quote zwölf Prozent, in Dänemark,<br />
dem Land mit der geringsten<br />
Kinderarmut in der OECD, leben nur<br />
knapp 2,3 Prozent der Heranwachsenden<br />
in relativer Armut.<br />
Auch im Bildungssystem schneidet<br />
Deutschland im OECD-Vergleich nach<br />
wie vor schlecht ab. Die Leistungsunterschiede<br />
zwischen den guten und<br />
schwächeren 15-jährigen Schülern (s.<br />
PISA-Befunde) sind groß – und das bei<br />
eher durchschnittlichen Gesamtleistungen.<br />
Der Abstand in den Bereichen Mathematik,<br />
Lesen und Naturwissenschaften<br />
zwischen den besten und den<br />
schwächsten zehn Prozent eines JahrgangsistnurinMexiko,Italien,Tschechien,<br />
Belgien, Frankreich, USA und<br />
Griechenland größer.<br />
Auf den Prüfstand: Kindergeld<br />
Die Erklärung für diese offensichtliche<br />
Diskrepanz zwischen Aufwand und<br />
Nutzen staatlicher Ausgabenpolitik liefert<br />
der OECD-Bericht gleich mit.<br />
Deutschland gibt zwar je nach Altersgruppe<br />
zehn bis 20 Prozent mehr Geld<br />
für Kinder aus als andere OECD-Länder,<br />
doch etwa 40 Prozent der öffentlichen<br />
Mittel werden direkt an die Eltern<br />
gezahlt – entweder in Form von direkten<br />
Geldleistungen wie Kindergeld oder<br />
indirekt in Form von Steuernachlässen.<br />
Wie man es anders machen kann, zeigen<br />
die skandinavischen Länder: in<br />
Finnland etwa beträgt der Anteil für das<br />
Betreuungssystem bei den öffentlichen<br />
Ausgaben für Kinder rund 20 Prozent,<br />
der deutsche Staat wendet dafür lediglich<br />
zehn Prozent auf.<br />
Allein mehr Geld in das Betreuungsund<br />
Bildungssystem zu stecken, reiche<br />
aber nicht, betont <strong>GEW</strong>-Vorstandsmitglied<br />
Norbert Hocke. Notwendig sei<br />
zusätzlich eine von den Eltern unabhängige<br />
Grundsicherung für jedes<br />
Kind (s. E&W 9/<strong>2009</strong>). Ähnlich sieht es<br />
die OECD: Deutschland müsse Leistungen<br />
wie Kinderbetreuung und Ganztagsschulen<br />
weiter ausbauen, zugleich<br />
aber auch seine Transfers stärker auf bedürftige<br />
Kinder und deren Familien<br />
konzentrieren, heißt es in dem Kinderbericht.<br />
Im Klartext: Das Kindergeldsystem<br />
muss auf den Prüfstand, das Steuersystem<br />
reformiert, die dadurch frei werdenden<br />
Gelder direkt in die Schulen und<br />
Betreuungseinrichtungen investiert und<br />
unmittelbar an die Kinder weitergegeben<br />
werden. Eine geringere Steuerrückzahlung<br />
macht Merles Eltern nicht arm,<br />
ein kostenloses Mittagessen Mandy<br />
dafür satt.<br />
Jürgen Amendt, Redakteur<br />
„Neues Deutschland“<br />
GESELLSCHAFTSPOLITIK<br />
10/<strong>2009</strong> Erziehung und Wissenschaft 29