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E&W Oktober 2008 - GEW

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E&W-HINTERGRUND<br />

„Weniger auf Abschlüsse fixiert“<br />

Interview mit Bildungsforscher Harry Neß über europaweite Kompetenzmessung<br />

Der Europäische und der Deutsche<br />

Qualifikationsrahmen (EQR, DQR)<br />

können traditionelle Bildungsstrukturen<br />

aufbrechen. Sie können Individuen<br />

befähigen, ihr gesamtes Potenzial<br />

zu erkennen und in Beruf, Familie<br />

und Gesellschaft einzubringen. Davon<br />

ist Harry Neß überzeugt. Der Wissenschaftler<br />

am Deutschen Institut für Internationale<br />

Pädagogische Forschung<br />

(DIPF) kennt sich bei der Zertifizierung<br />

nicht-formalen und informellen<br />

Lernens aus. Er hat maßgeblich den<br />

Profilpass mitentwickelt, ein Instrument<br />

zur Selbstbilanzierung von<br />

Kompetenzen.<br />

E&W: Befürworter des DQR sprechen allein<br />

dem Vorliegen eines achtstufigen Qualifikationsrahmens<br />

„bildungsreformerische Kraft“<br />

zu. Teilen Sie das?<br />

Harry Neß: Dass alle europäischen<br />

Staaten eine gemeinsame Sprache für<br />

die Anerkennung von Qualifikationen<br />

suchen, ist bereits ein Wert an sich. Das<br />

hilft beim Abbau von manch standespolitischer<br />

Borniertheit, das bricht die<br />

strikte Trennung von Bildung und Beschäftigung,<br />

von hochschulischer, allgemeiner<br />

und beruflicher Bildung auf. Ein<br />

einheitliches Übersetzungsinstrument<br />

für Kompetenzen und Qualifikationen<br />

wird Rückwirkungen auf Curricula und<br />

Prüfungen in Deutschland haben. Die<br />

Effekte werden bis ins allgemein bildende<br />

Schulwesen reichen.<br />

E&W: Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter<br />

im nationalen Arbeitskreis zum DQR<br />

haben einen gemeinsamen Vorschlag vorgelegt:<br />

acht Stufen – vom Hilfsarbeiter bis zur<br />

Universitätsdozentin?<br />

Neß: Es ist gut, dass die Sozialpartner<br />

eine gemeinsame Haltung gefunden haben,<br />

um ihr Gewicht gegenüber den anderen<br />

Akteuren, dem Bundesbildungsministerium<br />

(BMBF), dem Bundesinstitut<br />

für Berufliche Bildung (BIBB) und<br />

der Kultusministerkonferenz (KMK),<br />

zu stärken. Vernünftig ist, an die acht<br />

Stufen des EQR anzuknüpfen, Prozesse<br />

des lebenslangen Lernens zu beschreiben<br />

und weniger auf Abschlüsse fixiert<br />

zu sein. Außerdem ist es differenziert<br />

gedacht, Fachkompetenz in Wissen und<br />

Fertigkeiten zu unterteilen sowie perso-<br />

nale Kompetenz in Sozial- und Selbstkompetenz<br />

aufzuschlüsseln.<br />

E&W: Richtig anschaulich ist die Matrix<br />

nicht: Hängt nicht alles an der Frage, auf<br />

welcher Stufe sich eine Facharbeiterin oder<br />

ein Hochschulabsolvent einordnen lässt?<br />

Neß: Ich plädiere dafür, Abschlüsse erst<br />

im zweiten Schritt zuzuordnen. EQR<br />

und DQR sind keine Kategorien der Bildungsforschung.<br />

Es sind Übersetzungsinstrumente,<br />

deren Form und Inhalt politisch<br />

entschieden wird. Fragen gibt es<br />

noch genug: Auf welche Stufe gehört<br />

das Übergangssystem zwischen Schule<br />

und Beruf? Wohin gehört ein Techniker<br />

mit Fachschulabschluss, der im Betrieb<br />

wie ein Masterabsolvent arbeitet? Und<br />

vor allem: Wie lässt sich individuelle<br />

Differenz in streng hierarchischen Niveaustufen<br />

einordnen? Ich meine die<br />

Fälle, in denen hohe Fachkompetenz<br />

nicht unbedingt mit starker Sozialkompetenz<br />

einhergeht – und umgekehrt. Da<br />

ist noch viel Klärungsbedarf. Bis hin zur<br />

Frage, ob sich so etwas wie Reflexionsfähigkeit<br />

oder Selbstkompetenz überhaupt<br />

objektiv messen lassen...<br />

E&W: Welche Vorteile haben EQR und<br />

DQR?<br />

Neß: Sie können dazu beitragen, das<br />

formale und das informelle Lernen besser<br />

zu verzahnen. Das führt zu einer<br />

Aufwertung von Berufserfahrung, von<br />

Ehrenamt oder Familientätigkeit und<br />

erleichtert berufliche Wiederein- und<br />

Umstiege.<br />

E&W: Die Absicht, es komme auf die Qualifikationen<br />

an und nicht auf den Weg, auf dem<br />

sie erworben wurden, birgt auch Risiken...<br />

Neß: ...dann, wenn dem Individuum<br />

die Verantwortung für das Lernen und<br />

die Ergebnisse ganz alleine aufgebürdet<br />

wird. Um das zu verhindern, ist bundesweit<br />

dreierlei nötig: Eine regionale Vernetzung<br />

der Bildungsinstitutionen, eine<br />

flächendeckende Bildungsberatung und<br />

staatlich verantwortete Dokumentations-,<br />

Anerkennungs- und Bewertungsverfahren.<br />

E&W: Gibt es Instrumente, um beispielsweise<br />

den Wert von Zertifikaten oder Portfolios<br />

zu messen, in denen Einzelne informelle<br />

Kompetenzen dokumentieren?<br />

Neß: Parallel zur Einigung auf einen nationalen<br />

Qualifikationsrahmen muss<br />

dafür Entwicklungsarbeit geleistet werden.<br />

Es gibt bereits Forschungsprojekte<br />

zur Kompetenzerfassung, zu Portfolio-<br />

Foto: dpa<br />

verfahren und zur Bildungsberatung. Wir<br />

können auf Erfahrungen aus Irland,<br />

Frankreich oder Australien zurückgreifen.<br />

Bei uns gibt es bereits branchenbezogene<br />

Qualifikationsrahmen, etwa in der<br />

Chemieindustrie oder in der sozialen Arbeit.<br />

Ich bin überzeugt, dass die verantwortlichen<br />

Akteure sehen, dass der DQR<br />

nicht ohne wissenschaftliche Expertise<br />

einfach als Verwaltungsakt verordnet werden<br />

kann. Es ist noch eine riesige – auch<br />

finanzielle – Kraftanstrengung nötig, um<br />

die nächsten Schritte zu gehen.<br />

E&W: Funkt der Föderalismus dazwischen?<br />

Neß: Gegenüber der EU sind Bund und<br />

Länder gemeinsam zuständig. Für ein<br />

gutes Unterstützungssystem zum DQR<br />

muss die Kultusministerkonferenz<br />

(KMK), müssen die Länder sorgen. Was<br />

allgemein bildende Schulen angeht,<br />

bleibt noch viel zu tun. Ich vertraue<br />

nach der Föderalismusreform auf die<br />

Selbstverpflichtung der Bundesländer.<br />

Nicht nur aus demographischen Aspekten<br />

wird man demnächst viel stärker auf<br />

die Menschen zugehen müssen, um sie<br />

im Beschäftigungssystem zu halten.<br />

E&W: Noch beschränkt sich die Debatte um<br />

EQR und DQR auf Expertenkreise.<br />

Neß: Es ist tatsächlich häufig ein Versäumnis<br />

der EU-Politik, die Menschen<br />

nicht frühzeitig bei Veränderungsprozessen<br />

mitzunehmen. Für die Max-Traeger-Stiftung<br />

befragen wir im Spätherbst<br />

engagierte Lehrkräfte zu ihren Erwartungen<br />

und zu den vermuteten Konsequenzen<br />

des DQR für ihre Arbeit. Da<br />

werden dann erstmals die Betroffenen<br />

einbezogen.<br />

Interview: Helga Ballauf, freie Journalistin<br />

„Dass alle europäischenStaaten<br />

eine gemeinsame<br />

Sprache für<br />

die Anerkennung<br />

von Qualifikationen<br />

suchen, ist<br />

bereits ein Wert<br />

an sich.“<br />

Harry Neß,<br />

Bildungsforscher<br />

10/<strong>2008</strong> Erziehung und Wissenschaft 37<br />

Foto: privat

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