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Was ist Lebensqualität? - in Blankenese

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<strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>?<br />

Objektive und subjektive Bestimmungen am Beispiel der Palliativmediz<strong>in</strong><br />

1<br />

Rüdiger Sachau<br />

Jede Form von Qualität, auch <strong>Lebensqualität</strong>, lässt sich <strong>in</strong> zwei Perspektiven<br />

wahrnehmen. Diese können wir als die objektive und die<br />

subjektive Seite beschreiben. Erst die Zusammenschau beider eröffnet<br />

e<strong>in</strong> Feld der Erkenntnis darüber, was denn Qualität sei, mith<strong>in</strong>, was<br />

denn gut und wert für unser Leben <strong>ist</strong>.<br />

Ich werde mit e<strong>in</strong>igen Überlegungen aus e<strong>in</strong>er autobiographischen<br />

Schrift von Robert M. Pirsig beg<strong>in</strong>nen. Dann werde ich <strong>in</strong> acht Facetten<br />

objektive und subjektive Gesichtspunkte von <strong>Lebensqualität</strong> „umkreisen“.<br />

Schließlich werde ich mit e<strong>in</strong>er kurzen Szene aus den Tagebüchern<br />

von Henry David Thoreau abschließen.<br />

I. Qualität als Ereignis – Selbsterfahrungen e<strong>in</strong>es amerikanischen<br />

Motorradfahrers<br />

„<strong>Was</strong> aber gut <strong>ist</strong>, Phaidros,und was nicht – müssen wir danach erst<br />

andere fragen?“ Mit dieser rhetorischen Frage Platons beg<strong>in</strong>nt das Buch<br />

„Zen und die Kunst e<strong>in</strong> Motorrad zu warten - E<strong>in</strong> Versuch über Werte“<br />

des amerikanischen Autors Robert M. Pirsig. 1974 <strong>in</strong> Amerika erschienen,<br />

wurde es auch <strong>in</strong> Deutschland <strong>in</strong> den späten siebziger Jahre zum<br />

Kultbuch 2 . Pirsig erzählt von e<strong>in</strong>er Motorradreise, die er mit se<strong>in</strong>em elfjährigen<br />

Sohn quer durch die USA gemacht. Aber das <strong>ist</strong> nur der Vordergrund,<br />

denn es geht ihm weder um Motorräder noch um die buddh<strong>ist</strong>ische<br />

Zen-Meditation. In der E<strong>in</strong>samkeit des Motorradfahrers philosophiert<br />

Pirsig über den S<strong>in</strong>n und Wert se<strong>in</strong>es Lebens. Er r<strong>in</strong>gt um se<strong>in</strong>e<br />

Lebensgeschichte, um se<strong>in</strong>e Würde, um die Qualität se<strong>in</strong>es Dase<strong>in</strong>s.<br />

Der Autor verarbeitet <strong>in</strong> diesem Buch se<strong>in</strong>e persönlichsten Erfahrungen,<br />

die er als Patient e<strong>in</strong>er Psychiatrie <strong>in</strong> den frühen Fünfziger Jahren<br />

erlitten hat. Nachdem der hoch<strong>in</strong>telligente studierte Chemiker und Philosoph<br />

e<strong>in</strong>en Zusammenbruch erlitten hatte, wurde er mit Elektroschocks<br />

behandelt. E<strong>in</strong> Gericht hatte angeordnet, se<strong>in</strong>e alte Persönlichkeit<br />

zu löschen. Auf diesem H<strong>in</strong>tergrund beg<strong>in</strong>nen wir zu erahnen, warum<br />

Pirsig die Frage an Phaidros als Motto für se<strong>in</strong> Buch gewählt hat.<br />

1 Vortrag, gehalten am 25. September 2004 im Geme<strong>in</strong>desaal der <strong>Blankenese</strong>r Kirche anlässlich<br />

der sechsten Jahresfeier der Palliativstation im Asklepios Westkl<strong>in</strong>ikum Hamburg. Während der<br />

Verfassung des Vortrags habe ich Alike Smits <strong>in</strong> Houten/NL <strong>in</strong> schwerer Krankheit aus der Ferne<br />

begleitet. Sie starb während der Überarbeitung dieses Textes am 5. November 2004 kurz vor ihrem<br />

44. Geburtstag. Ihren K<strong>in</strong>dern Tom und Anke, und ihrem Mann Uwe <strong>ist</strong> dieser Text gewidmet.<br />

2 Robert M. Pirsig, Zen und die Kunst e<strong>in</strong> Motorrad zu warten. E<strong>in</strong> Versuch über Werte. Frank-<br />

furt/M.


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 2<br />

Sie br<strong>in</strong>gt mich als Leser auf e<strong>in</strong>en Denkweg, sie <strong>ist</strong> heur<strong>ist</strong>ischer Natur<br />

und eröffnet neue Denkhorizonte <strong>in</strong> mir: „<strong>Was</strong> aber gut <strong>ist</strong>, Phaidros,<br />

und was nicht – müssen wir danach erst andere fragen?“<br />

<strong>Was</strong> <strong>ist</strong> Qualität, was <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? Oder anders gefragt, was <strong>ist</strong><br />

gut, was <strong>ist</strong> wert, was <strong>ist</strong> s<strong>in</strong>nvoll? Mit Pirsig s<strong>in</strong>d unsere geme<strong>in</strong>samen<br />

Gedanken <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bestimmte Richtung gelenkt worden. Die Frage, was<br />

die Qualität me<strong>in</strong>es Lebens ausmacht, <strong>ist</strong> weder alle<strong>in</strong> von den anderen<br />

noch alle<strong>in</strong> von mir zu entscheiden. Sie bewegt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kontext,<br />

der zwischen den beiden Polen liegt. Diese Grundfigur lässt sich durchaus<br />

auf die Frage übertragen, was denn <strong>Lebensqualität</strong> im Horizont von<br />

Palliativmediz<strong>in</strong> und Palliativpflege <strong>ist</strong>.<br />

Dabei stelle ich mir diese Frage aus dem Blickw<strong>in</strong>kel e<strong>in</strong>es Menschen,<br />

der religiös-chr<strong>ist</strong>lich lebt und sich mit den Auswirkungen der Religion<br />

auf unser Leben befasst. Ich b<strong>in</strong> geprägt von der chr<strong>ist</strong>lichen Überzeugung,<br />

dass der Wert und die Würde des Menschen e<strong>in</strong> Geschenk s<strong>in</strong>d,<br />

unabhängig von unseren Fähigkeiten, Eigenschaften, unseren Zukunftschancen<br />

oder unserem Verhalten. Diese generelle positive Unterstellung<br />

des menschlichen Wertes, der unableitbar, und unbegründbar<br />

gesetzt <strong>ist</strong>, gehört zum Kernbestand jüdisch-chr<strong>ist</strong>licher Auffassung.<br />

Sie <strong>ist</strong> begründet im Vertrauen auf den Beziehungswillen Gottes zu uns<br />

Menschen. Im Schöpfungsbericht <strong>ist</strong> diese Überzeugung ausgedrückt<br />

im Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen: Wir dürfen Gott<br />

e<strong>in</strong> Gegenüber se<strong>in</strong>. Dieses Vertrauen <strong>in</strong> die Beziehung zwischen Gott<br />

und Mensch f<strong>in</strong>det im chr<strong>ist</strong>lichen Glauben se<strong>in</strong>e besondere Fassung. In<br />

Jesus aus Nazareth dürfen wir Gott so sehen, wie er sich von uns sehen<br />

lassen will: Nicht übermächtig, sondern menschennahe. Das <strong>ist</strong><br />

das größte Geheimnis des chr<strong>ist</strong>lichen Glaubens: Gott wird Mensch,<br />

begibt sich <strong>in</strong> die Beziehung zu uns, leidet als e<strong>in</strong> Mensch und teilt<br />

Sterben und Tod mit uns. In der Überzeugung von dieser besonderen<br />

Beziehung wurzeln me<strong>in</strong>e weiteren Überlegungen zur <strong>Lebensqualität</strong><br />

des Menschen.<br />

II. Die objektive und die subjektive <strong>Lebensqualität</strong> – e<strong>in</strong> Grundthema<br />

der Heilkunst <strong>in</strong> acht Facetten<br />

Der Begriff „<strong>Lebensqualität</strong>“ wird 1972 im ersten Bericht über „Die<br />

Grenzen des Wachstums“ populär. 3 Willy Brandt und Erhardt Eppler<br />

greifen ihn als gesellschaftspolitische Parole auf. Schon <strong>in</strong> der damaligen<br />

Debatte wird der Zweifel an e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong> quantifizierenden Denken<br />

deutlich, gefragt wird nach anderen, den persönlichen und gesellschaftlichen<br />

Werten.<br />

Ob <strong>Lebensqualität</strong> anhand von Sozial<strong>in</strong>dikatoren und Indexwerten<br />

messbar <strong>ist</strong>, bleibt umstritten. Aber wer nach <strong>Lebensqualität</strong> fragt, be-<br />

3 J. W. Forrester, Die Grenzen des Wachstums, 1972.


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 3<br />

zweifelt <strong>in</strong> der Regel die Reduktion auf ökonomische Faktoren. <strong>Lebensqualität</strong><br />

<strong>ist</strong> mehr als nur Versorgung und Besitz.<br />

Wäre Qualität re<strong>in</strong> objektiv, dann könnte sie von außen festgestellt<br />

werden. Pirsig hat leidvoll erfahren, was das Ergebnis e<strong>in</strong>es solchen<br />

Enteignungsprozesses <strong>ist</strong>, der sich über die persönliche Seite h<strong>in</strong>wegsetzt.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs müssen wir auch umgekehrt beachten, wäre Qualität<br />

re<strong>in</strong> subjektiv, dann wäre sie nicht kommunizierbar, der Lebenswert<br />

wäre jeweils nur e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividueller und nicht verb<strong>in</strong>dlich e<strong>in</strong>zufordern.<br />

In der jüngeren Mediz<strong>in</strong>soziologie 4 wird diese Frage als der Gegensatz<br />

von Krankheit (disease) und Krankse<strong>in</strong> (illness) verhandelt. Krankheit<br />

wäre dann die verifizierbare Störung von Körperfunktionen, die auf Ursachen<br />

zurückgeführt werden, Krankse<strong>in</strong> h<strong>in</strong>gegen wäre die subjektive<br />

Erfahrung des leidenden Menschen.<br />

Diese Spaltung hat unselige Folgen, auf der e<strong>in</strong>en Seite der Arzt. Se<strong>in</strong>e<br />

laborgestützte „Objektivität“ macht ihn zur Autorität gegenüber dem<br />

Patienten, der auf der anderen Seite lediglich se<strong>in</strong> subjektives Bef<strong>in</strong>den<br />

schildern kann. Der Krankenerzählung des Leidenden steht die Wahrheit<br />

des beurteilenden Fachmanns gegenüber.<br />

Wir wissen, woh<strong>in</strong> diese Aufteilung geführt hat, an der beide Seiten beteiligt<br />

waren, auf der e<strong>in</strong>en Seite der bequeme Patient, der se<strong>in</strong>e Verantwortung<br />

ablegt, auf der anderen Seite der Mediz<strong>in</strong>er, der sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

zunehmend gigantischen Datenberg als Interpret mit objektivem<br />

Anspruch zu behaupten versucht.<br />

Nach <strong>Lebensqualität</strong> <strong>in</strong> der Mediz<strong>in</strong> zu fragen, heißt also nach der Beziehung<br />

zwischen dem Arzt und dem Patienten zu fragen. Und geme<strong>in</strong>sam<br />

abzuwägen, was Krankheit und Gesundheit s<strong>in</strong>d. Denn nicht jede<br />

Abweichung von der Norm <strong>ist</strong> schon e<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>trächtigung. Krankheit<br />

<strong>ist</strong> nicht auf e<strong>in</strong>en Defekt reduzierbar, oder e<strong>in</strong>e Ansammlung von<br />

Symptomen. Mit der Krankheit <strong>ist</strong> immer e<strong>in</strong> ganzer Mensch betroffen,<br />

der sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> neues Verhältnis ganz eigener Art zu sich selbst stellen<br />

muss. Dar<strong>in</strong> fließen sehr persönliche und oft auch religiöse Bezüge e<strong>in</strong>.<br />

Mancher, den wir von außen als krank und e<strong>in</strong>geschränkt ansehen, erlebt<br />

durchaus e<strong>in</strong>e ganz eigene Qualität, eben die se<strong>in</strong>es eigenen unverwechselbaren<br />

Lebens.<br />

1. Das rechte Maß der Mediz<strong>in</strong><br />

In der Mediz<strong>in</strong> heute be<strong>in</strong>haltet die Frage nach <strong>Lebensqualität</strong> immer<br />

e<strong>in</strong>e kritische Rückfrage an die fortlaufende Ausdehnung der technischen<br />

Möglichkeiten. Zwei gegensätzliche Betrachtungen beschäftigen<br />

dabei gegenwärtig viele Menschen, wenn sie an das Ende ihres Lebens<br />

denken. An der Diskussion um die Verb<strong>in</strong>dlichkeit von Patiententestamenten<br />

können wir die Brisanz dieser Gegensätze erkennen: E<strong>in</strong>erseits<br />

wird betont: „An die Masch<strong>in</strong>en will ich auf ke<strong>in</strong>en Fall kommen! Ich<br />

will lieber gleich tot se<strong>in</strong>, als endlos gequält zu werden.“ Und anderer-<br />

4 Vgl. David B. Morris: Krankheit und Kultur, München 2000; S. 39 ff.


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 4<br />

seits fragt man: „Werden die auch alles für mich tun, was s<strong>in</strong>nvoll und<br />

möglich <strong>ist</strong>? Oder falle ich auch schon unter die Sparpolitik?“ Die beiden,<br />

<strong>in</strong> gewisser H<strong>in</strong>sicht komplementären Fragen spiegeln e<strong>in</strong>e große<br />

Unsicherheit wider: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> das richtige Maß der Mediz<strong>in</strong>? <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> angemessen,<br />

hilfreich und lebensdienlich? Wieviel Mediz<strong>in</strong> brauchen wir,<br />

und ab wann kippt die gut geme<strong>in</strong>te Hilfe <strong>in</strong> ihr Gegenteil um? Darf jeder<br />

mediz<strong>in</strong>ische Fortschritt auch angewandt werden?<br />

Früher wurden die Grenzen des Erlaubten das durch das religiöse System<br />

vorgegeben. Davon hat sich die Mediz<strong>in</strong> emanzipiert, und sie soll<br />

auch nicht wieder unter die Vorherrschaft der Theologie geraten. Aber<br />

die fortbestehende Bedeutung der Religion auch im säkularisierten Leben,<br />

beobachte ich immer wieder an der quasi-religiösen Bedeutung,<br />

die wir der Gesundheit geben. „Hauptsache gesund“ wird vielfach als<br />

höchster Wert <strong>in</strong> unserer Kultur angegeben. Aber dieser Wert <strong>ist</strong> nicht<br />

kränkungsres<strong>ist</strong>ent, sondern muss sich mit der Schicksalhaftigkeit des<br />

Lebens, mit Krankheit und der Unverfügbarkeit der Gesundheit, sowie<br />

dem unausweichlichen Tod ause<strong>in</strong>andersetzen. Manche Menschen<br />

wachsen daran, sie entwickeln sich zu Persönlichkeiten gegen den Widerstand<br />

der Begrenzungen. Andere Menschen verfallen dem Irrglauben<br />

an die Machbarkeit, sie reduzieren ihren Blick auf die Möglichkeiten<br />

der Mediz<strong>in</strong> und hoffen auf den Fortschritt, der sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ihnen selbst<br />

oft nicht bestimmbare Zukunft führen soll.<br />

Ich glaube, dass die Fasz<strong>in</strong>ation des Möglichen, e<strong>in</strong>e neue, vormals nie<br />

gekannte Gefahr für die Mediz<strong>in</strong> darstellt. Früher war Mediz<strong>in</strong> begrenzt<br />

durch ihre Möglichkeiten. Das Ethos des Arztes war es, mit allen se<strong>in</strong>en<br />

Möglichkeiten zu helfen. Das Problem der Mediz<strong>in</strong> heute <strong>ist</strong> ihre Maßlosigkeit<br />

ohne begrenzenden Rahmen. Darum muss heute diskutiert<br />

werden, ob sich die Mediz<strong>in</strong> heimlich, unheimlich von den Grundlagen<br />

entfernt hat, die sie mit dem chr<strong>ist</strong>lichen Wertehorizont der westlichen<br />

Zivilisationen verbunden hat. 5 Der Motor dieser Entfremdung <strong>ist</strong> e<strong>in</strong><br />

Fortschrittsdruck, wie wir ihn noch nie vorher gekannt haben. Das<br />

heißt praktisch, dass wir Tag für Tag neue Möglichkeiten <strong>in</strong> die Hand<br />

bekommen, von denen wir noch nicht wissen, ob sie wirklich langfr<strong>ist</strong>ig<br />

wünschenswert und e<strong>in</strong>zusetzen s<strong>in</strong>d. Mediz<strong>in</strong> <strong>ist</strong> ihrem Wesen nach<br />

maßlos, weil sie immer noch mehr helfen will. Heute <strong>ist</strong> die Mediz<strong>in</strong><br />

darauf angewiesen, dass ihr geholfen wird. Dass ihr die Grenzen gezogen<br />

werden, die für sie hilfreich und gut s<strong>in</strong>d. Selbstbegrenzung, die<br />

Tugend des Verzichts s<strong>in</strong>d heute gefragt. Darum brauchen wir nicht<br />

nur e<strong>in</strong>e Ethik des Tuns, sondern auch e<strong>in</strong>e Ethik des Lassens.<br />

Loslassen, nicht alles beherrschen wollen, gelassen se<strong>in</strong> und Vertrauen<br />

f<strong>in</strong>den, das s<strong>in</strong>d Qualitäten, die auf religiösem Boden wurzeln. Und diese<br />

Fähigkeit brauchen Ärzte wie Patienten.<br />

5 Vgl. Rüdiger Sachau, Maßlos aus guter Absicht. In: Franz-Joseph Bartmann, Helga Pecnik, Rüdiger<br />

Sachau (Hrsg.), Das rechte Maß der Mediz<strong>in</strong>. Vom Arztse<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er technisierten Welt,<br />

Hamburg 2001, S.5-15.


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 5<br />

2. Der Hausarzt als Begleiter des mündigen Patienten – gegen<br />

die Gefahr des Spezial<strong>ist</strong>entums<br />

Mediz<strong>in</strong> wird nur dann menschlich se<strong>in</strong>, wenn sie beziehungsfähig <strong>ist</strong>.<br />

Die Qualität der Mediz<strong>in</strong> entscheidet sich wesentlich <strong>in</strong> der Beziehungsdimension.<br />

In den e<strong>in</strong>leitenden Überlegungen zu diesem ganzen Abschnitt<br />

wurde dieses bereits betont und begründet. Wer über <strong>Lebensqualität</strong><br />

am Ende des Lebens nachdenkt, wird nicht um die Klärung der<br />

Beziehung zu sich selbst, zu Gott und zum nächsten herumkommen.<br />

Das betrifft Ärzte, Patienten, Pflegekräften und Angehörige und wird<br />

sich <strong>in</strong> ihrem Umgang mite<strong>in</strong>ander widerspiegeln.<br />

Langfr<strong>ist</strong>ig wird die moderne westliche Mediz<strong>in</strong> nur e<strong>in</strong>e Chance haben,<br />

wenn sie ihre fortgeschrittenen Möglichkeiten transparent macht und<br />

den Patienten nicht mehr alle<strong>in</strong> als Patienten sieht, der behandelt wird,<br />

sondern als Menschen, der selber se<strong>in</strong>en Weg f<strong>in</strong>den und gehen will.<br />

Und wir als Patienten werden die Errungenschaften der modernen Mediz<strong>in</strong><br />

nur dann als wirklichen Fortschritt und nicht als verkappte Bedrohung<br />

erfahren, wenn wir als mündige Patient<strong>in</strong>nen und Patienten uns<br />

an der verantwortlichen Gestaltung des Lebens <strong>in</strong> Krankheit und Gesundheit<br />

beteiligen.<br />

Ich glaube, dass mit der Wahrnehmung der Würde des kranken Menschen<br />

zugleich die Würde der Ärzt<strong>in</strong>nen und Ärzte gewahrt wird. Denn<br />

ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Ärzte dar<strong>in</strong> wohlfühlen können,<br />

wenn sie die Menschen, denen sie begegnen, lediglich als Objekte ihres<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Handelns betrachten.<br />

Die Beziehungsfähigkeit muss gelernt und geübt werden. Beziehungen<br />

zwischen Arzt und Patient lassen sich nicht e<strong>in</strong>fach machen. Sie brauchen<br />

Vertrauen und das wächst nur mit der Zeit. Darum <strong>ist</strong> die Rolle<br />

des Hausarztes neu zu bewerten. Es sollte Ärzt<strong>in</strong>nen und Ärzte geben,<br />

die Menschen <strong>in</strong> ihren Familien, vor Ort begleiten und das über längere<br />

Zeiträume. Die Qualität ihrer kont<strong>in</strong>uierlichen Präsenz <strong>ist</strong> e<strong>in</strong>e andere<br />

als die der wechselnden Spezial<strong>ist</strong>en, die Qualität der Zusammenschau<br />

der verschiedenen mediz<strong>in</strong>ischen, seelischen und sozialen Faktoren <strong>ist</strong><br />

notwendiger denn je. Von ihnen darf erwartet werden, dass sie Menschen<br />

begleiten, dass sie Patienten erklären können, was die mediz<strong>in</strong>ische<br />

Fachdiagnose für ihr Leben bedeutet. Die ärztliche Aufklärungspflicht<br />

<strong>ist</strong> nicht damit erfüllt, dass man e<strong>in</strong>e komplizierte mediz<strong>in</strong>ische<br />

Erkenntnis ohne Fremdwörter wiederholt. Erst wenn wir verstanden<br />

haben, dann <strong>ist</strong> wirkliche Zustimmung erreicht. <strong>Lebensqualität</strong> <strong>in</strong> der<br />

Mediz<strong>in</strong> beruht wesentlich auf dem Willen aller Beteiligten zu e<strong>in</strong>er vertieften<br />

Verständigung.<br />

3. Verantwortliche Patienten – verantwortliche Ärzte<br />

Es <strong>ist</strong> überhaupt nicht akzeptabel, die Verantwortung für die <strong>Lebensqualität</strong><br />

im Angesicht der Krankheit alle<strong>in</strong> den Mediz<strong>in</strong>er<strong>in</strong>nen und Mediz<strong>in</strong>ern<br />

zu überlassen. Genauso gefordert s<strong>in</strong>d wir als Patienten und<br />

Angehörige. Wir sprechen hier von jener Fähigkeit und Bereitschaft zur


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 6<br />

Verantwortung für uns selbst, die weitgehend fehlt. Tag für Tag treten<br />

Patienten mit phantastischen Vorstellungen an die Mediz<strong>in</strong> heran. Sie<br />

treffen auf Ärzte, die diese Erwartungen schüren oder denen es zum<strong>in</strong>dest<br />

schwer fällt, ihnen sachgemäß zu begegnen. Denken wir e<strong>in</strong>mal<br />

an die zahllosen Medikamente, die als Abschlussritual e<strong>in</strong>es Arztbesuches<br />

verschrieben werden. Der Patient hat das Gefühl, dass etwas gemacht<br />

wurde, und der Arzt hat das Gefühl, dem Patient e<strong>in</strong>e gutes Gefühl<br />

gegeben zu haben. Beide aber haben dann die real<strong>ist</strong>ische Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit dem „was fehlt“ verpasst. Fehlen könnte zum Beispiel<br />

das Gespräch über die Angst vor dem Tod, aber wer traut sich<br />

schon daran?<br />

Patientenverfügungen haben <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>e Brückenfunktion <strong>in</strong> dieser<br />

heiklen Situation. Sie s<strong>in</strong>d Ausdruck selbstverantwortlichen Lebens auf<br />

Seiten des Patienten und signalisieren dem Arzt e<strong>in</strong> mündiges Gegenüber.<br />

Gleichzeitig stimulieren sie durch ihre Fragestellungen die persönliche<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Krankheit, Tod und Sterben.<br />

Es <strong>ist</strong> gar nicht so leicht, se<strong>in</strong>e eigene Verfügung mit e<strong>in</strong>em Menschen<br />

des Vertrauens zu besprechen. Denn es werden sich viele Fragen stellen,<br />

die wir immer nur vorläufig beantworten können. <strong>Lebensqualität</strong><br />

<strong>ist</strong> eben ke<strong>in</strong> objektives Gut, sondern wird dynamisch im Laufe des Lebens<br />

immer wieder neu von uns bestimmt. Die Überarbeitung e<strong>in</strong>er Patientenverfügung<br />

<strong>ist</strong> immer möglich und <strong>in</strong> jedem Fall besser als die<br />

Verdrängung der eigenen Entscheidungen. Denn die nicht getroffenen<br />

Entscheidung bedeutet, dass andere entscheiden müssen. E<strong>in</strong>e Patientenverfügung<br />

sichert uns nicht gegen alle Ängste ab, aber sie entlastet<br />

uns und auch die Ärzt<strong>in</strong>nen und Ärzte.<br />

<strong>Lebensqualität</strong> entsteht durch Realismus <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit den Grenzen des Lebens und der Bereitschaft voraus zu denken.<br />

4. Über den Tod nachdenken – gegen die Gefahr der Verdrängung<br />

und gegen die unerfüllbareren Erwartungen 6<br />

Von Woody Allen, dem „neurotischen“ amerikanischen Filmemacher<br />

kommt der Satz: „Ich habe ke<strong>in</strong>e Angst vor dem Tod - Hauptsache ich<br />

b<strong>in</strong> nicht da, wenn er kommt.“ Man muss darüber lachen, weil er die<br />

Stimmung des modernen Menschen gut getroffen hat. Neben solchen<br />

humorvollen entlarvenden Bonmots gibt es auch e<strong>in</strong>e gute chr<strong>ist</strong>liche<br />

Verspottung des Todes, gewonnen aus der Botschaft von der Überw<strong>in</strong>dung<br />

des Todes. Aber der österliche Humor markiert das Ergebnis e<strong>in</strong>es<br />

Prozesses von <strong>in</strong>neren Ause<strong>in</strong>andersetzungen und <strong>ist</strong> nicht dessen<br />

Voraussetzung. Ke<strong>in</strong>em von uns bleibt der Weg dieser Ause<strong>in</strong>andersetzungen<br />

erspart. E<strong>in</strong>em jeden <strong>ist</strong> zu wünschen, dass er sich am Ende<br />

aus guten Gründen an der Verspottung des Todes beteiligen kann. Das<br />

<strong>ist</strong> aber etwas anderes als Flucht und Verdrängung e<strong>in</strong>er Realität, die<br />

uns alle betrifft, zuerst mittelbar, und e<strong>in</strong>st unmittelbar.<br />

6 Vgl. Zum Thema Tod: Rüdiger Sachau, Weiterleben nach dem Tod? Gütersloh 1996.


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 7<br />

Die Situation von Menschen an der Grenze des Lebens <strong>ist</strong> schon immer<br />

bestimmt gewesen durch Ausgesetztheit. So, wie wir hilflos und nackt<br />

<strong>in</strong>s Leben gekommen s<strong>in</strong>d, so gehen wir auch wieder. Das zu sehen<br />

und anzuerkennen fällt uns schwer. Auch wenn durch Hospizbewegung<br />

und viel gute Literatur, durch Palliativstationen und Fördervere<strong>in</strong>e das<br />

Thema „Sterben“ aus der Tabuzone zunehmend an die Öffentlichkeit<br />

gebracht worden <strong>ist</strong>, die Bereitschaft zur Verdrängung besteht immer<br />

noch ungebrochen. Es gibt weiterh<strong>in</strong> die deutliche Tendenz, alles was<br />

an Krankheit, Beh<strong>in</strong>derung und Begrenzung er<strong>in</strong>nert, aus dem normalen<br />

Leben rauszuhalten.<br />

Das <strong>ist</strong> auch ganz natürlich, denn solange es uns gut geht, denken wir<br />

nicht daran – und wenn wir alt und krank s<strong>in</strong>d, können wir nicht mehr<br />

aktiv für unsere Interessen kämpfen. Wer den Tod verdrängt, wer<br />

Angst vor dem Ende hat, wird den Sterbenden und Schwerkranken<br />

ke<strong>in</strong> guter Partner se<strong>in</strong>. „Ich kann andere nicht leiden sehen“, sagen<br />

viele Menschen. <strong>Was</strong> ihnen möglicherweise weichherzig vorkommt, <strong>ist</strong><br />

<strong>in</strong> Wirklichkeit e<strong>in</strong> grausamer, e<strong>in</strong> menschenfe<strong>in</strong>dlicher Satz. Heißt es<br />

doch, dass der andere nur als le<strong>ist</strong>ungsfähiger und gesunder Mensch<br />

anerkannt wird. Auch <strong>in</strong> der modernen Gesellschaft <strong>ist</strong> der Umgang mit<br />

Krankheit und Tod immer noch quasi magisch und erschöpft sich weitgehend<br />

<strong>in</strong> Abwehrhandlungen.<br />

Dazu kommt, dass unsere Gesellschaft e<strong>in</strong> sehr zweifelhaftes und wie<br />

ich denke une<strong>in</strong>lösbares angebliches Recht auf Gesundheit betont. Wir<br />

s<strong>in</strong>d auf dem Wege, die Gesundheit zur Bürgerpflicht zu machen. Nur<br />

der Gesunde, le<strong>ist</strong>ungsfähige Mensch hat e<strong>in</strong> Anrecht auf die Privilegien<br />

und Annehmlichkeiten unseres Geme<strong>in</strong>wesens. Gesundheitspolitik als<br />

Vorsorge, das <strong>ist</strong> durchaus richtig, es überw<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Mediz<strong>in</strong> als Reparaturbetrieb.<br />

Aber damit gerät unter der Hand die Krankheit zurück<br />

<strong>in</strong> die Zone der moralischen Verfehlungen. Indem Krankheit als volkswirtschaftlich<br />

schädlich betrachtet wird, tritt an die Stelle der Solidarität<br />

der Schuldvorwurf.<br />

Zur <strong>Lebensqualität</strong> gehört die Bereitschaft sich mit Sterben und Tod<br />

ause<strong>in</strong>ander zu setzen.<br />

5. Leiden aushalten – gegen die Phantasie vom e<strong>in</strong>fachen Tod<br />

Leider gibt nicht nur die Tendenz zuviel Technik e<strong>in</strong>zusetzen, sondern<br />

auch das Gegenteil, das genauso bedrohlich werden kann für die Würde<br />

der Sterbenden und Schwerkranken. Ich erlebe immer wieder Menschen,<br />

die behaupten, dass sie den Tod leicht nehmen würden. Sie<br />

vertreten die alternative Ideologie zum Thema und bilden die Kehrseite<br />

der Medaille, deren Vorderseite wir <strong>in</strong> den vorangegangenen Überlegungen<br />

betrachtet haben.<br />

Aber die Behauptung, dass Sterben ganz leicht, und das e<strong>in</strong>zige Problem<br />

nur die gesellschaftlich gepflegte Verdrängung und Tabuisierung<br />

sei, verkennt die Realität von Krankheit und Sterben. <strong>Was</strong> die e<strong>in</strong>en<br />

überschätzen, wird von den anderen unterschätzt. Und die Religion ha-


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 8<br />

ben sie dabei nicht auf ihrer Seite, denn alle Religionen sprechen von<br />

dem schweren Durchgang durch den Tod. E<strong>in</strong>e spirituell ernsthafte Haltung<br />

wird den Tod und das Sterben niemals bagatellisieren, gerade um<br />

der größeren Hoffnung auf das ewige Leben willen!<br />

Wenn wir Erfahrungen mit Sterbenden haben, wissen wir auch, dass es<br />

Augenblicke gibt, <strong>in</strong> denen es Mühe macht, <strong>in</strong> ihnen Gottes Ebenbilder<br />

noch wiederzuerkennen. Krankheit, Schmerz und Entstellung können<br />

den E<strong>in</strong>druck bestimmen und zuerst e<strong>in</strong>mal alles andere zurückdrängen.<br />

In Würde sterben lassen, das kann heißen, dass wir Tränen und<br />

Wut, Schmerz und Aufheulen zulassen. In Würde sterben lassen, das<br />

kann heißen, dass wir demütig werden, weil uns niemand den letzten<br />

Übergang abgenommen kann.<br />

Ich me<strong>in</strong>e, dass es e<strong>in</strong>en Terror von alternativer Sterbeideologie gibt,<br />

dem wir im Interesse der Sterbenden widersprechen müssen, weil er<br />

e<strong>in</strong>e Lüge <strong>ist</strong>. Der Tod bleibt schwer, aber was uns von denen unterscheiden<br />

mag, die ihn fliehen, <strong>ist</strong> dass wir von Kräften wissen, die uns<br />

im Angesicht des Sterbens zuwachsen. Dass wir als religiöse Menschen<br />

von der Hoffnung wissen, die über das dunkle Tor h<strong>in</strong>auswe<strong>ist</strong>. Aus<br />

dieser Kraft können wir Menschen im Sterben begleiten. Wir müssen<br />

ihn nicht schönreden und wissen müssen auch nicht <strong>in</strong> die Ideologie<br />

des selbstbestimmten Todes verfallen. Denn wenn heute vom selbstbestimmten<br />

Tod die Rede <strong>ist</strong>, dann nehme ich dar<strong>in</strong> auch die Angst vor<br />

dem Leiden wahr. E<strong>in</strong>e Angst, die durch kompetente Begleitung und<br />

fachkundige palliative Mediz<strong>in</strong> genommen, oder zum<strong>in</strong>dest begrenzt<br />

werden kann.<br />

Der Wunsch nach dem schnellen, dem sauberen und lautlosen Tod <strong>ist</strong><br />

Ausdruck e<strong>in</strong>es Kontrollwunsches, er markiert den Mangel an Vertrauen<br />

und der Fähigkeit, sich zu überlassen. Wir alle wissen, dass sich<br />

Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schwierigen Phase, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schweren Belastung<br />

manchmal den Tod wünschen. Und viele von uns haben sicher auch<br />

schon erlebt, wie diese verzweifelten Menschen e<strong>in</strong>ige Wochen später<br />

durchaus wieder mit Qualität leben und dieses auch anerkennen können.<br />

Gerade hier gilt es, um der Menschen willen, vor ihrer Verzweiflung<br />

nicht davonzulaufen, sondern diese Krise mit ihnen durch zu stehen.<br />

Manchmal kommt mir der Verdacht, dass mancher, der den Wunsch<br />

äußert, nicht wiederbelebt zu werden, damit auch die heimlichunheimlichen<br />

Wünsche unserer Gesellschaft an sich selbst vollstreckt,<br />

es solle möglichst wenig Leidende geben. Dieser Wunsch nach Entsorgung<br />

des Leidens zerstört die <strong>Lebensqualität</strong>. Darum <strong>ist</strong> menschliche<br />

Nähe so notwendig – sie <strong>ist</strong> die Kraft gegen die Bedrohung der Kranken<br />

und Sterbenden durch die Ökonomie.<br />

<strong>Lebensqualität</strong> am Ende des Lebens <strong>ist</strong> die Bereitschaft, Sterben und<br />

Leiden auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en unansehnlichen Seiten nicht zu bagatellisieren,<br />

sondern sich dem Menschen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Leiden und Bedürfnissen zuzuwenden.


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 9<br />

6. Schmerzen l<strong>in</strong>dern – gegen die „deutsche“ Härte<br />

Diesen Punkt möchte ich hier nur kurz benennen, weil im Rahmen von<br />

Palliativmediz<strong>in</strong> dazu von anderen genug und kompetenteres gesagt<br />

und geschrieben worden <strong>ist</strong>. Aber es bleibt <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong> Punkt,<br />

auf den immer wieder beharrlich h<strong>in</strong>gewiesen werden muss, weil die<br />

Vorurteile hartnäckig bestehen.<br />

Ich gehe davon aus, dass wir dar<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>stimmen, dass moderne<br />

Schmerztherapien fast jedem Menschen e<strong>in</strong>en Zustand ermöglichen<br />

können, <strong>in</strong> dem er ohne überwältigende Schmerzen und die damit verbundene<br />

Angst sterben kann. Das setzt, wie wir wissen, voraus, dass<br />

man rechtzeitig genug Schmerzmittel gibt, und wenn es nötig <strong>ist</strong> auch<br />

Opiate. Wann und wie e<strong>in</strong>e wirkungsvolle Schmerzl<strong>in</strong>derung nötig <strong>ist</strong>,<br />

hängt von all den oben genannten subjektiven Faktoren ab. Ich denke,<br />

wir können es auf die Formel br<strong>in</strong>gen, dass Schmerzen nicht erst gel<strong>in</strong>dert<br />

werden sollen, wenn sie e<strong>in</strong>treten, sondern dass bereits ihr Auftreten<br />

verh<strong>in</strong>dert werden soll. An dieser Stelle haben wir <strong>in</strong> Deutschland<br />

e<strong>in</strong>en Nachholbedarf im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern.<br />

Für unsere Gesellschaft gilt es zu lernen, dass Schmerzen von<br />

Schwerstkranken und Sterbenden am s<strong>in</strong>nvollsten im Voraus bekämpft<br />

werden. Das hat nichts mit unnötiger Weichheit zu tun, sondern entspricht<br />

e<strong>in</strong>er vernünftigen und rationalen Betrachtung, die sich nicht<br />

von e<strong>in</strong>er Ideologie der Härte und des Aushaltens von Schmerzen unterwirft.<br />

Wir wissen, dass es den „süchtigen Sterbenden“ nicht gibt,<br />

und gäbe es ihn, es würde mich nicht irritieren. <strong>Was</strong> mich aber irritiert<br />

s<strong>in</strong>d Sterbende und Schwerstkranke, denen unnötige Schmerzen <strong>in</strong> arroganter<br />

Bevormundung zugemutet werden - das <strong>ist</strong> e<strong>in</strong>e Verletzung<br />

der Menschenwürde.<br />

Sollte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Fällen mit e<strong>in</strong>er effektiven Schmerzbekämpfung e<strong>in</strong><br />

Leben um e<strong>in</strong>ige Stunden oder gar Tage verkürzt wird, so <strong>ist</strong> die gewonnene<br />

<strong>Lebensqualität</strong> höher zu bewerten als die pure Quantität. Das<br />

<strong>ist</strong> ethisch verantwortete Hilfe im Sterben und nicht mit e<strong>in</strong>er sogenannten<br />

Sterbehilfe zu verwechseln, die nur Ausdruck des Versagens<br />

e<strong>in</strong>er Gesellschaft <strong>ist</strong>, auch den Leidenden e<strong>in</strong>en Raum zu geben.<br />

7. Befreiung von der Schuld – gegen die heimlichen Schuldzuweisungen<br />

Die Erfahrung e<strong>in</strong>er Krankheit, besonders, wenn sie nicht heilbar <strong>ist</strong>,<br />

kann uns an Grenzen führen. Oft <strong>ist</strong> es die Grenze des Verstehens:<br />

„Warum gerade ich?“ fragen wir. Nun bockt „der alte Esel Leib“, er will<br />

nicht mehr und ratlos stehe ich neben mir selbst. Zwischen me<strong>in</strong>em<br />

Willen und se<strong>in</strong>er Umsetzung klafft mit e<strong>in</strong>em Mal e<strong>in</strong> breiter Graben:<br />

Die Füße versagen, die Be<strong>in</strong>e tragen nicht mehr, die Gedanken rotieren,<br />

die Augen fallen zu.<br />

Krankheit <strong>ist</strong> die Erfahrung der Enteignung des Körpers, der zu e<strong>in</strong>em<br />

unberechenbaren und unzuverlässigen Objekt wird, das mir gegenüber


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 10<br />

steht und von dem ich mich dennoch nicht trennen kann. In diesem<br />

Körper, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Inneren passiert alles mögliche, und ich habe ke<strong>in</strong>en<br />

E<strong>in</strong>fluss darauf. Mühselig lausche ich auf die Zeichen und Signale<br />

und weiß sie doch nur ansatzweise zu deuten.<br />

So <strong>ist</strong> es wohl ke<strong>in</strong>e Überraschung, wenn ich diesen mir rätselhaft gewordenen<br />

Leib den Spezial<strong>ist</strong>en der Leibdeutung übergebe, <strong>in</strong> der<br />

Hoffnung, sie könnten die Zeichen der Zeit lesen und mir durch ihr<br />

Wissen helfen. Das bedeutet natürlich e<strong>in</strong> weiterer Schritt der Entfremdung.<br />

Ich gebe me<strong>in</strong>en mir fremd gewordenen Leib <strong>in</strong> fremde Hände.<br />

<strong>Was</strong> nun geschieht kennen wir alle, das Rätsel Krankheit wird mittels<br />

Diagnosen <strong>in</strong> Teilaspekte zerlegt. Die auch die Mediz<strong>in</strong> überfordernde<br />

Gesamtfrage nach dem S<strong>in</strong>n der Krankheit und ihren letzten Ursachen<br />

wird zerlegt <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelteile. Aber die Frage nach dem S<strong>in</strong>n des Ganzen<br />

bleibt hartnäckig. Denn es hätte ja nicht se<strong>in</strong> müssen, dass diese<br />

Krankheit gerade mich getroffen hat. Immer, wenn uns etwas widerfährt,<br />

was uns nicht notwendig widerfahren musste, entsteht die Frage<br />

nach dessen Bedeutung. Und an dieser Stelle schleicht sich die Schuldfrage<br />

<strong>in</strong> das Krankenzimmer e<strong>in</strong>. Sie besucht den E<strong>in</strong>samen, der mit<br />

se<strong>in</strong>em fremd gewordenen Leib alle<strong>in</strong> geblieben <strong>ist</strong>: „Womit habe ich<br />

das verdient? Warum gerade ich? <strong>Was</strong> habe ich falsch gemacht?“ <strong>Was</strong><br />

auch immer geschieht, wir suchen nach e<strong>in</strong>er verstehbaren Ursache,<br />

weil der Gedanke der völligen Kont<strong>in</strong>genz und Zufälligkeit uns noch<br />

mehr Angst macht.<br />

Da die Krankheit von uns negativ bewertet wird, kann die vermutete<br />

Ursache nur e<strong>in</strong>e Schuld se<strong>in</strong>: „Ob es der Preis <strong>ist</strong>, den ich für me<strong>in</strong>e<br />

Lebensweise zahlen muss?“ Wenn jemand viel geraucht hat, oder wie<br />

e<strong>in</strong> Verrückter Motorrad fuhr, <strong>ist</strong> der Gedanke plausibel. Aber tückisch<br />

wird es, wenn mir „falsches Denken“ als Ursache unterstellt wird: „Wer<br />

so wenig se<strong>in</strong>e Aggressionen rauslässt, der muss sich auch nicht wundern,<br />

wenn er e<strong>in</strong> Magengeschwür bekommt“, lauten dann die populären<br />

Erklärungsmuster. „Gehören Sie auch zu den Krebstypen?“ So wird<br />

der Druck erhöht, die Krankheit zur Schuld, mit ihr werden mir auch<br />

noch me<strong>in</strong>e Gedanken und Gefühle enteignet.<br />

Chr<strong>ist</strong>lich und menschenwürdig <strong>ist</strong> dieses Denken nicht. Vielmehr gilt<br />

es den Patienten zu stärken und nicht nach e<strong>in</strong>er Schuld als Ursache zu<br />

suchen. Jesus hat sehr deutlich gemacht, dass er die Ausgrenzung der<br />

Kranken nicht mitmacht. Für ihn war Krankheit ke<strong>in</strong> Indiz der Gottesferne,<br />

sondern e<strong>in</strong> Anlass zu helfen und beizustehen. Das gilt auch<br />

noch heute. Richtig <strong>ist</strong>, dass wir uns mit der Schuldfrage ause<strong>in</strong>andersetzen:<br />

Wo habe ich gefehlt, wem b<strong>in</strong> ich etwas schuldig geblieben?<br />

Fragen, die wir uns nicht erst am Lebensende stellen sollten. Aber sie<br />

s<strong>in</strong>d nicht zu verwechseln mit der Suche nach den Ursachen e<strong>in</strong>er Erkrankung.<br />

<strong>Lebensqualität</strong> <strong>in</strong> der Palliativmediz<strong>in</strong> wird dort befördert, wo wir uns<br />

mit den Schuldfragen des Lebens angemessen, das heißt am richtigen


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 11<br />

Ort ause<strong>in</strong>andersetzen und die heimliche Identifikation von Krankheit<br />

und Schuld auflösen.<br />

8. Gegen des Mythos vom reduzierten Lebens<strong>in</strong>n<br />

Zu den Mythen der Moderne gehört die Vorstellung, dass die Maximierung<br />

von Erlebnissen gleichbedeutend mit der Vermehrung von Lebenss<strong>in</strong>n<br />

<strong>ist</strong>. Der Event wird zum Inbegriff von Qualität: Ich konsumiere,<br />

ich erlebe, also b<strong>in</strong> ich. Vordergründig wird <strong>Lebensqualität</strong> zu e<strong>in</strong>er<br />

Funktion von Luxus. „Fit for fun“ lautet die Parole der Postmoderne.<br />

Aber was <strong>ist</strong>, wenn wir nicht mehr fit s<strong>in</strong>d? Ohne Spaß ke<strong>in</strong> S<strong>in</strong>n?<br />

In gewisser H<strong>in</strong>sicht <strong>ist</strong> diese moderne Welt sehr arm, denn sie hat<br />

Angst. Jede Beschränkung von Möglichkeiten bedroht sie elementar <strong>in</strong><br />

der Behauptung, Lebenss<strong>in</strong>n beruhe auf der Erlebnismenge. Darum<br />

können Krankheit und Leiden auch nicht <strong>in</strong>tegriert werden. Die Angst<br />

vor Verlust an Möglichkeiten wird auf den Wert des ganzen Lebens<br />

ausgedehnt.<br />

Als Menschen, die sich mit dem Tod ause<strong>in</strong>andersetzen, als Menschen,<br />

die um die religiöse Tiefendimension des Lebens bemüht s<strong>in</strong>d, wissen<br />

wir e<strong>in</strong>e andere Wahrheit: Lebenss<strong>in</strong>n kommt nicht durch Vermehrung<br />

von Möglichkeiten sondern durch Vertiefung der Erfahrungen. Gerade<br />

die Verr<strong>in</strong>gerung von Möglichkeiten, wie sie mit Krankheit, Leiden und<br />

auch dem normalen Alterungsprozess verbunden s<strong>in</strong>d, eröffnen bisweilen<br />

S<strong>in</strong>nerfahrungen, die sich erst unter Bed<strong>in</strong>gungen der Reduktion<br />

e<strong>in</strong>stellen können. Nicht mehr dauerhaft abgelenkt und betäubt durch<br />

die Menge der Erlebnisse, werden wir aufmerksam für das Kle<strong>in</strong>e, das<br />

E<strong>in</strong>zelne und Besondere. Das setzt voraus, dass wir diese Verr<strong>in</strong>gerung<br />

von Möglichkeiten akzeptieren. Hat uns bisher die überwältige Vielfalt<br />

von Erlebnissen davon abgehalten, vertiefende Erfahrungen zu machen.<br />

Darum lautet jetzt die erste Aufgabe: Wählen lernen, sich entscheiden<br />

lernen. Nicht mehr alles und jedes wollen, sondern das, was<br />

uns gemäß <strong>ist</strong>, mit Entschiedenheit verfolgen.<br />

Qualität des Lebens erwe<strong>ist</strong> sich nicht <strong>in</strong> der Menge der Erlebnisse, die<br />

wir konsumieren, sondern <strong>in</strong> der vertieften Erfahrung des e<strong>in</strong>zelnen<br />

Augenblicks.<br />

III. <strong>Lebensqualität</strong> im empathischen Blick des anderen – aus<br />

den Tagebüchern e<strong>in</strong>es amerikanischen Waldbewohners<br />

<strong>Lebensqualität</strong> <strong>ist</strong> weder objektivierbar, noch als re<strong>in</strong>e Bef<strong>in</strong>dlichkeit zu<br />

beschreiben. Sie ereignet sich dazwischen. <strong>Lebensqualität</strong> lässt sich<br />

nicht normativ vorhersagen, sondern <strong>ist</strong> me<strong>ist</strong>ens nur im Rückblick auf<br />

e<strong>in</strong> Leben oder e<strong>in</strong>en Lebensabschnitt zu entdecken. In gewisser Weise<br />

„konstruieren“ wir <strong>Lebensqualität</strong>, <strong>in</strong>dem wir uns für sie öffnen, unsere<br />

S<strong>in</strong>ne schärfen und <strong>in</strong>dem wir diesen Erfahrungen Sprache verleihen.<br />

Damit können wir e<strong>in</strong>e dritte Perspektive beschreiben. Nicht Patient,<br />

nicht Arzt oder Pflegender, sondern Mitmensch, mit fe<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>nen beo-


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 12<br />

bachtend und empathisch gegenüber sich selbst und dem Nächsten.<br />

Diese Haltung f<strong>in</strong>de ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Szene wieder, die <strong>in</strong> den Tagebüchern<br />

von H. D. Thoreau aufgezeichnet <strong>ist</strong>. E<strong>in</strong>e Haltung, die auf die<br />

Wahrnehmung von Patienten übertragbar <strong>ist</strong>.<br />

Der amerikanische Dichter-Philosoph Henry David Thoreau zog sich<br />

1845 für zwei Jahre <strong>in</strong> e<strong>in</strong> selbstgebautes Blockhaus am e<strong>in</strong>samen<br />

Waldensee (USA) zurück. Es war e<strong>in</strong> Selbstexperiment, e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>übung<br />

<strong>in</strong> die Kunst des e<strong>in</strong>fachen Lebens. Se<strong>in</strong> Buch „Walden oder das Leben<br />

<strong>in</strong> den Wäldern“ beschreibt und reflektiert diese Erfahrungen, die sich<br />

auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Tagebuchnotizen wiederspiegeln. E<strong>in</strong>e möchte ich Ihnen<br />

zum Abschluss vortragen:<br />

„Ich war erst e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Stück auf der Carlisle-Straße gegangen, als<br />

ich Brooks Clark sah, der jetzt an die achtzig <strong>ist</strong> und gekrümmt wie e<strong>in</strong><br />

Bogen. Er eilte die Straße entlang, barfuss wie gewöhnlich, mit e<strong>in</strong>er<br />

Axt <strong>in</strong> der Hand – vielleicht war er <strong>in</strong> Eile, weil ihn <strong>in</strong> dem kalten W<strong>in</strong>d<br />

die Füße froren... Als er zu mir kam, sah ich, dass er außer der Axt <strong>in</strong><br />

der e<strong>in</strong>en Hand se<strong>in</strong>e Schuhe <strong>in</strong> der anderen trug mit knorrigen Äpfeln<br />

und e<strong>in</strong>em toten Rotkehlchen dar<strong>in</strong>. Er blieb stehen und sprach e<strong>in</strong><br />

Weilchen mit mir, sagte, dass wir e<strong>in</strong>en prachtvollen Herbst hätten und<br />

uns jetzt auf kaltes Wetter gefasst machen müssten. Ich fragte ihn, ob<br />

er das Rotkehlchen tot gefunden habe. Ne<strong>in</strong>, antwortete er, er habe es<br />

mit gebrochenem Flügel gefunden und getötet. Er fügte h<strong>in</strong>zu, dass er<br />

e<strong>in</strong> paar Äpfel im Wald gefunden habe, und da er nichts besaß, wor<strong>in</strong><br />

er sie hätte tragen können, steckte er sie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Schuhe. Die waren<br />

wohl e<strong>in</strong> seltsamer Früchtekorb. Wie viele er bis vorn zu den Zehen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>brachte,<br />

weiß ich nicht. Ich bemerkte auch, dass se<strong>in</strong>e Taschen<br />

vollgestopft waren. Se<strong>in</strong> alter zerschlissener Gehrock baumelte um se<strong>in</strong>e<br />

nackten Füße. Er schien an diesem stürmischen Nachmittag ausgerückt<br />

zu se<strong>in</strong>, um wie e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Junge zu spähen, was er ergattern<br />

konnte. Es freute mich, diesen fröhlichen Alten zu sehen, der nur mehr<br />

mit e<strong>in</strong>em schwachen Fuß im Leben stand, be<strong>in</strong>ah waagrecht gekrümmt,<br />

und se<strong>in</strong>en Lebensabend so genoss. (...) er war glücklich,<br />

dass die Natur ihn immer noch bewirtete und er se<strong>in</strong>en Lebensunterhalt<br />

picken durfte wie e<strong>in</strong> Vogel. Besser se<strong>in</strong> Rotkehlchen als euer<br />

Truthahn, se<strong>in</strong>e Schuhe voll Äpfel als eure Tonnen. Sie werden süßer<br />

schmecken und etwas Schöneres zu erzählen haben. Wir lauschen ihm<br />

gerne, wenn er erzählt, wie er sie bekommen hat. Er hat auch noch e<strong>in</strong>e<br />

alte Frau daheim, die sie gern mit ihm teilt und erfährt, wie er sie<br />

erworben hat. (...)<br />

Die Fröhlichkeit dieses Alten <strong>ist</strong> mehr wert als tausend Riten und Memento<br />

mori. Sie war besser als e<strong>in</strong>e andächtige Stimmung. Sie bewe<strong>ist</strong><br />

mir, dass das Alter so erträglich und glücklich <strong>ist</strong> wie die K<strong>in</strong>dheit. (...)<br />

Er war draußen gewesen, um nachzusehen, was die Natur ihm spendete,<br />

und eilte nun heimwärts zu se<strong>in</strong>em Unterschlupf, den er kannte, wo<br />

er se<strong>in</strong>e alten Füße wärmen konnte. Wäre er e<strong>in</strong> junger Mann gewesen,<br />

hätte er wahrsche<strong>in</strong>lich aus Scham se<strong>in</strong>e Äpfel weggeworfen und<br />

se<strong>in</strong>e Schuhe angezogen, als er ich kommen sah. Aber das Alter <strong>ist</strong>


R.Sachau: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Lebensqualität</strong>? 13<br />

männlicher; es hat gelernt zu leben und entschuldigt sich sowenig wie<br />

<strong>in</strong> der frühen K<strong>in</strong>dheit, Dies sche<strong>in</strong>t mir e<strong>in</strong> sehr männlicher Mann.“ 7<br />

Dr. Rüdiger Sachau<br />

Amt für Öffentlichkeitsdienst der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche<br />

Feldbrunnenstr. 29<br />

20148 Hamburg<br />

rsachau@nordelbien.de<br />

7 Henry D. Thoreau, The Hearts of Thoreau’s Journals. Hrsg. Odell Shepard, Boston/New York<br />

1927,S.280-282, hier <strong>in</strong> der Übersetzung von Susanne Schaup, Henry Davie Thoreau – Leben<br />

aus den Wurzeln, Freiburg i.Br. 1978, S. 52-54.

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