Nimm zwei! - BRAK-Mitteilungen
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182 Aufsätze <strong>BRAK</strong>-Mitt. 4/2011<br />
Henssler/Kilian, Die Berufsregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Union in der Rechtsprechung deutscher Gerichte<br />
gesetzes. Der Senat ließ es dahingestellt sein, ob er die CCBE-<br />
Regel für die Ausfüllung des Begriffs der „Würdigkeit“ (§ 43<br />
BRAO) oder des Begriffs der „Sachlichkeit (§ 43a BRAO) heranzog.<br />
Gegen eine solche Fruchtbarmachung der CCBE-Regeln<br />
als Auslegungshilfen zur Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe<br />
des Anwaltsrechts bestehen keine Bedenken. 25 Der<br />
Rückgriff auf die in den CCBE enthaltenen Wertungen erscheint<br />
nicht nur legitim, sondern sogar geradezu zwingend. Das deutsche<br />
Berufsrecht nähert sich über die Ausfüllung unbestimmter<br />
Rechtsbegriffe jenen Standards an, die vom CCBE als gemeinsame<br />
Grundlagen der Anwaltschaften Europas festgestellt worden<br />
sind.<br />
Im Ergebnis leisten die CCBE-Regeln damit einen Beitrag zur<br />
Harmonisierung des anwaltlichen Berufsrechts der Mitgliedstaaten<br />
der EU. Eine gewisse Zurückhaltung ist freilich geboten:<br />
Manche CCBE-Regel wurzelt in Stellungnahmen, die der<br />
CCBE in den 1970er und 1980er Jahren erarbeitet hat und<br />
über die der berufsrechtliche Zug der Zeit mittlerweile hinweggegangen<br />
ist (hierzu auch unten III. 3. c.). Da §29 BORA<br />
eine statische Verweisung enthält, werden modernisierende<br />
Anpassungen der CCBE-Regeln durch den CCBE auf der Ebene<br />
des deutschen Rechts nicht unmittelbar nachvollzogen. Die<br />
Entwicklungsgeschichte der CCBE-Regeln zwingt auch zu Behutsamkeit<br />
bei einer rechtsvergleichenden Auslegung deutscher<br />
Berufsrechtsvorschriften anhand der CCBE-Regeln. Die<br />
rechtsvergleichende Auslegung, die mittlerweile als weiterer<br />
Auslegungskanon neben den klassischen vier Auslegungsmethoden<br />
akzeptiert wird, muss beachten, dass die CCBE-Regeln<br />
in ihren Grundlagen vor mehr als 20 Jahren von einem damals<br />
deutlich süd- und westeuropäischer geprägten CCBE statuiert<br />
worden sind. Sie müssen daher nicht mehr in allen Details<br />
dem Berufsrechtsverständnis entsprechen, das sich heute als<br />
Substrat der Berufsrechte in einem deutlich an Größe und geographischer<br />
Ausdehnung gewachsenen CCBE ergibt. Gleichwohl<br />
gilt selbstverständlich, dass die CCBE-Regeln Ausdruck<br />
eines in fast allen Bereichen sehr homogenen Berufsrechtsverständnisses<br />
sind. Abweichungen, die wie in diesem Beitrag zu<br />
einem kritischen Hinterfragen zwingen, sind die Ausnahme,<br />
nicht die Regel.<br />
3. Der Vorrang des Gesetzes<br />
a) Vereinbarkeit der CCBE-Regeln mit höherrangigem Recht<br />
In der Praxis bedeutsamer und in ihren Auswirkungen einschneidender<br />
als die Beschränkung auf den grenzüberschreitenden<br />
Rechtsverkehr ist die Vorgabe, dass die CCBE-Berufsregeln<br />
nur gelten, „soweit nicht europäisches Gemeinschaftsrecht<br />
oder deutsches Verfassungs-, Gesetzes- oder Verordnungsrecht<br />
Vorrang haben“. Einer solchen Regelung hätte es in<br />
§29 BORA nicht bedurft, da Satzungsrecht, das gegen höherrangiges<br />
Recht verstößt, grundsätzlich keine Geltung beanspruchen<br />
kann. Durch die Inkorporierung der CCBE-Berufsregeln in<br />
die Berufsordnung teilen diese deren normhierarchische Stellung,<br />
sind also Satzungsrecht. Zu prüfen ist damit aus Sicht des<br />
deutschen Rechts stets, ob eine über §29 BORA maßgebliche<br />
Vorschrift der CCBE-Regeln nicht Regelungen in den Berufsgesetzen<br />
der Anwaltschaft, namentlich der BRAO und dem<br />
EuRAG, widerspricht und damit gegen den verfassungsrechtlichen<br />
Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes verstößt. Lässt sich<br />
ein solcher Widerspruch nicht feststellen, muss sich die CCBE-<br />
Vorschrift als Berufsausübungsregel im Lichte des Art. 12 GG<br />
auf vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls stützen können<br />
und das Verhältnismäßigkeitsprinzip achten. Geht man davon<br />
25 Ähnlich Knöfel, a.a.O., S. 240; vgl. auch Prütting, ZIP 2002, 1965,<br />
1966.<br />
aus, dass sich Berufsgesetz und Berufssatzung streng an die verfassungsrechtlichen<br />
Grenzen halten, die für Berufsausübungsregeln<br />
gezogen sind, ist die eigenständige Bedeutung der<br />
CCBE-Regeln relativ gering. Die Anordnung, dass sie für den<br />
grenzüberschreitenden Rechtsverkehr an die Stelle der Berufsordnung<br />
treten, ist in weiten Bereichen wenig mehr als eine<br />
Frage der Nomenklatur. 26<br />
Der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes 27 hat bereits auf der<br />
Ebene der Berufsordnung wiederholt Probleme aufgeworfen –<br />
bei „Hineinschachtelung“ der CCBE-Regeln in das Satzungsrecht<br />
wird die Rechtslage insbesondere für die mit berufsrechtlichen<br />
Fragen nur selten befassten ordentlichen Gerichte offensichtlich<br />
derart unübersichtlich, dass es statt zu einer sorgfältigen<br />
Sonderung der unterschiedlichen Problemebenen zu einer<br />
recht unkritischen Anwendung der CCBE-Regeln kommt. Als<br />
Prüfungsmaßstab muss freilich gelten: Die Satzungsversammlung<br />
kann nicht schlechthin Regeln für den grenzüberschreitenden<br />
Rechtsverkehr bestimmen, sondern lediglich solche Aspekte<br />
der grenzüberschreitenden Tätigkeit regeln, die sie auch für<br />
eine rein inländische Berufsausübung rechtlich gestalten könnte.<br />
Sie ist kein Ersatzgesetzgeber für Fragen des internationalen<br />
Rechtsverkehrs des Rechtsanwalts, da in der Berufssatzung lediglich<br />
„das Nähere zu den beruflichen Rechten und Pflichten<br />
bestimmt“ wird, die in der BRAO und anderen Gesetzen mit<br />
anwaltsspezifischen Inhalten bereits verankert sind. Die Satzungsversammlung<br />
kann den Gesetzgeber nicht nur nicht korrigieren,<br />
28 also gezielt aus anderen Gesetzen folgende Grenzen<br />
derogieren. Sie darf, da sie lediglich einen Konkretisierungsauftrag<br />
erhalten hat, auch keine Fragen beantworten, von deren<br />
Regelung der Gesetzgeber insgesamt abgesehen hat. Hierdurch<br />
sind all jene Fragen der grenzüberschreitenden Betätigung der<br />
Regelungsmacht der Satzungsversammlung entzogen, die sich<br />
nicht als Konkretisierung von Rechten und Pflichten darstellen,<br />
die in der BRAO oder in anderen Gesetzen, die einen anwaltsspezifischen<br />
Regelungsgehalt aufweisen, 29 angelegt sind.<br />
b) Nr. 5.7. CCBE-Regeln als Anspruchsgrundlage?<br />
Die richtige Übertragung dieser Grundsätze bereitet in der Gerichtspraxis,<br />
dies belegen die referierten Entscheidungen, insbesondere<br />
im Kontext von Nr. 5.7. der CCBE-Regeln erhebliche<br />
Probleme. Das AnwG Hamburg hat Nr. 5.7. CCBE-Regeln<br />
ohne Problembewusstsein für die verfassungsrechtlichen<br />
Grundlagen von Berufsausübungsregeln – abstrakt – als zivilrechtliche<br />
Anspruchsgrundlage qualifiziert. Das AG Aachen<br />
gab auf diese Vorschrift gestützt gar einer Zahlungsklage eines<br />
Rechtsanwalts statt. Diese kaum näher begründeten Entscheidungen<br />
scheinen gleichwohl eine solche Autorität zu besitzen,<br />
dass Teile des Schrifttums sich einer Diskussion bereits unter<br />
Hinweis auf die Macht des Faktischen entziehen und sie als<br />
rein akademisch betrachten. 30 Kann Nr. 5.7. CCBE-Regeln<br />
i.V.m. §29 BORA tatsächlich eine zivilrechtliche Anspruchsgrundlage<br />
sein?<br />
Denkbar wäre zunächst, dass Nr. 5.7. CCBE-Regeln lediglich<br />
einen zivilrechtlichen Tatbestand des deutschen Rechts wiederholend<br />
bekräftigt. 31 Nr. 5.7. in einem solchen Sinn als zivil-<br />
26 Vgl. den Abgleich Kilian bei Henssler/Streck, a.a.O., N 158.<br />
27 Hierzu ausführlich Wirtz, Die Regelungskompetenz der Satzungsversammlung,<br />
2003, S. 118 ff.<br />
28 Vgl. auch Dahns in Gaier/Wolf/Göcken, a.a.O., §59b BRAO Rdnr. 5.<br />
29 Vgl. Wirtz, S. 82.<br />
30 So etwa Eichele in Gaier/Wolf/Göcken, a.a.O., CCBE Rdnr. 86.<br />
31 In diese Richtung, wenngleich das Ergebnis erst über eine international-privatrechtliche<br />
Betrachtung gewinnend, Lörcher in Hartung/<br />
Römermann, Berufs- und Fachanwaltsordnung, 4. Aufl. 2008,<br />
Nr. 5.7. CCBE Rdnr. 6 („… erfährt die bisherige Rechtslage keine<br />
weitgehende Änderung durch Nr. 5.7. der CCBE-Berufsregeln“).