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Ein Fenster zum ICH - Teil 1 - von Herbert Paukert

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<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 1<br />

<strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> <strong>ICH</strong> - <strong>Teil</strong> 1<br />

Grundbegriffe der Psychologie.<br />

<strong>Ein</strong> Lehrbuch in fünf <strong>Teil</strong>en <strong>von</strong> <strong>Herbert</strong> <strong>Paukert</strong>.<br />

Version 9.0<br />

Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 1<br />

Biologische Grundlagen, Modell der Psyche,<br />

Methoden der Gehirnforschung.<br />

Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 2<br />

Psychische Funktionen: Wahrnehmung, Gedächtnis und Denken,<br />

Psychische Kräfte: Instinkte, Triebe, Gefühle und Wille.<br />

Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 3<br />

Psychologische Tests, Intelligenz, Persönlichkeit.<br />

Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 4<br />

Psychoanalyse, Lerntheorie, sozial-kognitive Theorie,<br />

Entwicklungspsychologie und Sozialpsychologie.<br />

Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 5<br />

Stress, Psycho-Neuro-Immunologie, Selbstheilung,<br />

Psychosomatik, Psychopathologie und Psychotherapie.<br />

Anhang: Gesundes Leben<br />

Hinweis: Das hier vorliegende Lehrbuch ist eine Neufassung des<br />

gleichnamigen Buches, welches 1998 erstmalig im öbv/hpt-Verlag<br />

erschienen ist. Dort befinden sich auch die Quellen-Nachweise.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 2<br />

Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 1:<br />

[1.1] Biologische Grundlagen (03)<br />

[1.1.1] Das biologische System "Mensch" (03)<br />

[1.1.2] Das Nervensystem und seine Bausteine (16)<br />

[1.1.3] Gliederung des zentralen Nervensystems (26)<br />

[1.1.4] Gehirn und Großhirn (31)<br />

[1.1.5] Sensorisches und motorisches System (36)<br />

[1.1.6] Das vegetative Nervensystem (39)<br />

[1.1.7] Das Hormonsystem (41)<br />

[1.1.8] Informationsflüsse im Nervensystem (46)<br />

[1.1.9] Der Weg <strong>zum</strong> Bewusstsein (48)<br />

[1.1.10] Das Erkenntnisproblem "Bewusstsein" (50)<br />

[1.2] <strong>Ein</strong> Basismodell der Psyche (55)<br />

[1.3] Methoden der Gehirnforschung (58)<br />

[1.3.1] Stereotaktische <strong>Ein</strong>griffe (58)<br />

[1.3.2] Enzephalogramme (59)<br />

[1.3.3] Bildgebende Verfahren (61)


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 3<br />

[1.1] BIOLOGISCHE GRUNDLAGEN<br />

Die Psyche ist eine Systemfunktion des Gehirns. Sie ist das Resultat informationsverarbeitender<br />

Prozesse in komplexen Netzwerken aus Milliarden <strong>von</strong> Nervenzellen<br />

(Neuronen).<br />

Durch Interaktion des Gehirns mit seiner Umwelt hat sich die menschliche<br />

Psyche evolutionär entwickelt - <strong>von</strong> einfachen Reflexen für die Reizbeantwortung<br />

über unbewusste instinktive Handlungen für die Lebenserhaltung bis zu den<br />

begriffsbildenden neuronalen Netzen in der Großhirnrinde, wodurch Denken als<br />

Probehandeln möglich wird. Das bewusste Denken erzeugt im Gehirn ein Modell<br />

der Umwelt. Mit Hilfe der Sprache kann dieses Wissen an andere Gehirne weitergegeben<br />

und auch auf materielle Datenträger gespeichert werden. Dadurch wird<br />

das subjektive Wissen <strong>zum</strong> objektiven Geist und zur Grundlage der Kultur.<br />

Die höchste Entwicklung ist die Selbstwahrnehmung (Reflexion) des Gehirns, d.h.<br />

der Mensch konstruiert ein Modell <strong>von</strong> sich SELBST (Ichbewusstsein).<br />

[1.1.1] Das biologische System "Mensch"<br />

Die Psyche, als Ergebnis informationsverarbeitender Prozesse im zentralen<br />

Nervensystem, unterliegt der biologischen Evolution. Die Psyche kann ohne<br />

Biologie nicht hinreichend erfasst werden. Die Biologie ihrerseits stützt sich vor<br />

allem auf die Chemie. <strong>Ein</strong> tieferes Verständnis für das System "Mensch" ist nur<br />

möglich auf dem Wissen um die grundlegenden chemischen Vorgänge in den<br />

Zellen, im Organismus und in unserer Umwelt.<br />

Zur Erklärung vieler biologischer Prozesse sind die Begriffe Information und<br />

Regulation <strong>von</strong> zentraler Bedeutung. Die Ereigniskette A, B, C, D, in welcher<br />

das Ereignis A das Ereignis B verursacht, B dann C, und C dann D verursacht, ist<br />

ein lineares, determiniertes System. Wenn aber D auf A zurückwirken kann<br />

(Rückkoppelung, feed back), dann ist das System zirkulär und hat die Möglichkeit<br />

der Selbstregulation. In solchen Regelkreisen werden reale Ist-Werte durch<br />

Messfühler gemessen und mit einprogrammierten Soll-Werten verglichen. Bei<br />

Abweichungen werden Regelungsprozesse ausgeführt, welche die Ist-Werte an<br />

die Soll-Werte anpassen. Damit können lebenswichtige Gleichgewichtszustände<br />

(Homöostasen) erhalten werden.<br />

Das vorliegende Buch versucht der Verwurzelung der Psychologie in Biologie<br />

und Chemie Rechnung zu tragen und beschreibt daher im ersten <strong>Teil</strong> wichtige<br />

biologische Grundlagen. Der daran nicht interessierte Leser kann diesen <strong>Teil</strong> des<br />

Buches durchaus überspringen.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 4<br />

Die Entwicklung des Lebens<br />

Die unbelebte Welt ist der Bereich <strong>von</strong> Zeit und Raum, in dem Anhäufungen <strong>von</strong><br />

Materie vorkommen, welche ihrerseits aus Atomen und Molekülen bestehen.<br />

Zwischen den Materieteilchen wirken Kräfte, die durch Physik und Chemie beschrieben<br />

werden. Durch die gegenseitigen Wechselwirkungen verschiedener<br />

Moleküle bilden sich immer komplexere Stoffklassen. So bildeten sich in der Uratmosphäre<br />

aus einfachen Molekülen wie Wasser (H2O), Methan (CH4) und<br />

Ammoniak (NH3) bei Energiezufuhr (Sonne, Blitz) neue Moleküle wie Aminosäuren<br />

(z.B. Glycin H2N-CH2-COOH). Diese wurden in die mineralsalzreichen<br />

Urozeane geschwemmt und sie bildeten dort noch komplexere Moleküle; z.B.<br />

werden aus den einfachen Aminosäuren längere Polypeptidketten, die sich zu<br />

Proteinen (Eiweißen) zusammenfalten. <strong>Ein</strong>e andere Klasse sind die so genannten<br />

Phospholipide (komplexere Verbindungen aus Fettsäuren, Glycerin-Alkohol und<br />

Phosphorsäure), welche aus einem wasserabstoßenden und einem wasseranziehenden<br />

Ende bestehen. Sie ordnen sich im Wasser kugelförmig an und bilden<br />

dort doppelschichtige Membrane. Durch <strong>Ein</strong>lagerung <strong>von</strong> Polypeptiden in diese<br />

Membrane können Kanäle erzeugt werden, welche die Verbindung zwischen<br />

Außen und Innen herstellen. Damit ist die "Pore" als erstes Organ der Evolution<br />

erfunden. Im Innern dieser Gebilde sammeln sich auf Grund einseitiger<br />

Membrandurchlässigkeit bestimmte Makromoleküle gehäuft an, die in enge<br />

Wechselwirkung miteinander treten können. Solche, in der Ursuppe schwimmende<br />

Gebilde (Präzellen) sind die Vorläufer der lebendigen Zellen.<br />

In den Präzellen entwickelt sich über die aus Vulkanen stammenden Phosphate<br />

ein einfacher Stoffwechsel. Anorganische Polyphosphate sind zwar stabil gegen<br />

Wasser, aber instabil gegen kohlenstoffhaltige Hydroxylgruppen. Sie verbinden<br />

sich solcherart leicht mit anderen geeigneten Stoffen zu reaktionsfreudigen<br />

Molekülen. Die nunmehr organischen Polyphosphatverbindungen beteiligen sich<br />

rege am Aufbau weiterer Makromoleküle, unter anderem auch an der Synthese<br />

<strong>von</strong> Nukleinsäuren.<br />

Die verdrillten Doppelstränge der Desoxyribonukleinsäure (DNS) bestehen aus<br />

Desoxy-Ribose-Zucker, Phosphatresten und genau vier stickstoffhaltigen Basen<br />

Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin. Aus elektrochemischen Gründen können<br />

nur bestimmte basische Stoffe einander gegenüber liegen (komplementäre Basenpaarung:<br />

A-T und G-C). Wird durch äußere <strong>Ein</strong>flüsse ein solcher DNS-Doppelstrang<br />

aufgetrennt, so können sich an die entsprechenden Basen eines <strong>Ein</strong>zelstranges<br />

frei herumschwimmende, komplementäre Bruchstücke anlagern. Damit<br />

bildet sich wieder ein neuer DNS-Doppelstrang, der identisch mit dem Ausgangsmolekül<br />

ist. Durch diese identische Reduplikation sind solche Makromoleküle in<br />

der Lage, gleichartig aufgebaute Tochtermoleküle zu erzeugen.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 5<br />

Die Abbildung zeigt die Reduplikation eines DNS-Doppelstranges:<br />

Aus dem bereits komplexen chemischen Geschehen in der Präzelle entwickelt<br />

sich eine neue Struktur, nämlich die Zelle. Diese weist nunmehr völlig neue<br />

Funktionsmerkmale auf: einen Energiestoffwechsel, die identische Reduplikation<br />

und einen Baustoffwechsel. Für diese Arbeitsleistungen haben sich auch verschiedene<br />

Unterstrukturen innerhalb der Zelle gebildet, die in Wechselwirkung<br />

zueinander stehen (Kern, Plasma, spezialisierte Zellorganellen, Membran). Die<br />

einzelnen Vorgänge in den verschiedenen Zellabteilungen (Zellorganellen) regulieren<br />

sich gegenseitig derart, dass immer eine optimale Anpassung an die jeweiligen<br />

chemisch-physikalischen Situationen erfolgt. Die im Vergleich zur unbelebten<br />

Präzelle neuen strukturellen und funktionellen Systemmerkmale werden<br />

unter dem Sammelbegriff "Leben" zusammengefasst. Dadurch unterscheidet sich<br />

die belebte <strong>von</strong> der unbelebten Materie. Natürlich sind die Übergänge fließend<br />

und kontinuierlich, z.B. bei den Viren. In weiterer Folge entstehen dann kleinere<br />

Mikroorganismen und schließlich höhere Lebensformen mit spezialisierten Zellverbänden<br />

(Organen).<br />

Das, der stammesgeschichtlichen Entwicklung (Phylogenese) zu Grunde liegende<br />

Prinzip formulierte Charles Darwin (1850) in seiner Evolutionstheorie, wonach<br />

nur jene Strukturen überleben, welche am besten an die jeweiligen Umweltbedingungen<br />

(den Außenraum) angepasst sind. Der Motor unserer Stammesgeschichte<br />

sind die Mutationen (Veränderungen des genetischen Codes) und die<br />

Selektionen (natürliche Auslesen).


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 6<br />

Die wichtigste Funktion der DNS-Moleküle ist ihre steuernde Mitwirkung bei der<br />

Bildung <strong>von</strong> Eiweißen (Proteinen) durch gezielte Verknüpfung <strong>von</strong> Aminosäuren.<br />

Die DNS-Doppelstränge befinden sich in 46 Kernschleifen (Chromosomen) der<br />

Zellkerne. Beim Vorgang der Transkription werden sie ab einer Startposition bis<br />

zu einer Endposition mithilfe bestimmter Enzyme aufgetrennt. Von diesem Abschnitt<br />

wird auf Grund der komplementären Basenpaarung aus Nukleotidstücken<br />

eine Kopie erzeugt, die Messenger-Ribonukleinsäure (mRNS). Die RNS (Ribonukleinsäure)<br />

unterscheidet sich <strong>von</strong> der DNS (Desoxyribonukleinsäure) in ihrer<br />

Struktur nur geringfügig. Dann schließt sich der DNS-Doppelstrang wieder und<br />

die mRNS wandert aus dem Zellkern in das Zellplasma. Dort erfolgt an eigenen<br />

<strong>Ein</strong>richtungen (Ribosomen) der Vorgang der Translation. Dabei steuern jeweils<br />

drei Basen der mRNS (Basentriplett, Codon) die Anheftung einer bestimmten<br />

Aminosäure. Der eigentliche Aminosäuretransport erfolgt mithilfe der Transfer-<br />

RNS (tRNS), die auf der einen Seite über komplementäre Basenpaarungen an die<br />

mRNS andockt und auf der anderen Seite mit einer Aminosäure beladen ist.<br />

In der Basensequenz der Nukleinsäuren ist also die Information für die Verknüpfung<br />

der verschiedenen Aminosäuren zu Eiweißmolekülen (Proteinen) verschlüsselt.<br />

In diesem Zusammenhang spricht man auch vom genetischen Code.<br />

Unter einem Gen versteht man einen Abschnitt des DNS-Moleküls, also eine<br />

bestimmte Sequenz <strong>von</strong> Basentripletts, welche für die Biosynthese eines Proteins<br />

verantwortlich ist. Transkription und Translation sind biochemische Vorgänge,<br />

die durchaus mit komplizierten feinmechanischen Bearbeitungsmaschinen vergleichbar<br />

sind.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 7<br />

Die Proteine ihrerseits werden als Baustoffe oder als Enzyme (Vermittlerstoffe,<br />

Katalysatoren) für weitere chemische Reaktionen verwendet. Die Enzym-Proteine<br />

bestehen aus langen Ketten <strong>von</strong> Aminosäuren, welche sich durch Faltungen zu<br />

komplizierten räumlichen Strukturen anordnen. Dabei bilden die für die spezifische<br />

Enzymleistung wirksamen Aminosäuren eine Vertiefung in der Oberfläche.<br />

An dieses aktive Zentrum des Enzym-Proteins wird dann das passende Substratmolekül<br />

angelagert. Nun können dort bestimmte Ionen (Coenzyme) auf das<br />

Substratmolekül einwirken, sodass dieses beispielsweise chemisch verändert oder<br />

überhaupt zerlegt wird. Die Enzyme wirken so als Biokatalysatoren auf die<br />

Stoffwechselvorgänge in der Zelle, wodurch bestimmte Merkmalsstrukturen aufgebaut<br />

werden. Die Gene enthalten somit die Erbinformationen für die Entwicklung<br />

äußerer Bau- und Leistungsmerkmale des Körpers (Phäne). Die gesamte<br />

genetische Steuerung der Biosynthese <strong>von</strong> Proteinen heißt Genexpression.<br />

<strong>Ein</strong>e wesentliche Leistung der Zellen besteht in ihrer Fähigkeit sich in zwei<br />

Tochterzellen zu teilen. Der zentrale Mechanismus ist dabei die identische Reduplikation<br />

der DNS, wodurch die Erbinformation weitergegeben wird. Durch die<br />

Zellteilung wird erst Wachstum und Regeneration (Ersatz <strong>von</strong> Zellen) möglich.<br />

Zellverbände, welche aus überwiegend gleichartig strukturierten Zellen mit<br />

bestimmten Funktionen bestehen, werden als Gewebe bezeichnet. Man unterscheidet<br />

Epithelgewebe (Oberflächenschutz), Binde- und Stützgewebe, Muskelgewebe<br />

und Nervengewebe.<br />

<strong>Ein</strong> interessantes Phänomen in der Entwicklung eines Individuums (Ontogenese)<br />

ist die so genannte Zelldifferenzierung. Sämtliche Baupläne eines Lebewesens<br />

sind in den DNS-Strängen im Zellkern enthalten. Die Ursachen für die Spezialisierung<br />

der Zellen liegen einerseits in der Genaktivtät und andererseits in der<br />

Zellaktivität. Die so genannte Genregulation bewirkt, dass nur bestimmte Gene<br />

aktiv werden und die Biosynthese spezifischer Proteine steuern. Zur Genregulation<br />

werden verschiedene Verfahren angewendet, z.B. die Substratinduktion,<br />

welche als echter Regelkreismechanismus angesehen werden kann. Eigene Regulationsgene<br />

erzeugen bestimmte Repressorproteine. Diese blockieren die Startposition<br />

eines Gens. Das die Aktivität dieses Gens auslösende Substrat heftet sich<br />

an das Repressormolekül, wodurch sich dieses räumlich umlagert und seine<br />

blockierende Bindung <strong>zum</strong> Gen verliert. So können bestimmte Enzyme (RNS-<br />

Polymerasen) angreifen und die Transkription starten und kontrollieren. Das<br />

wiederum führt im Zellplasma zur Biosynthese des entsprechenden Enzym-<br />

Proteins. Falls dieses das Substrat spaltet, so sinkt im Plasma die Konzentration<br />

des Substrates. Der nunmehr wieder unbeladene Repressor kann den Genabschnitt<br />

neuerlich blockieren und die Biosynthese wird eingestellt.<br />

Neben dieser Genregulation wirken auch die Aktivitäten der Zellen als Ganzes<br />

steuernd auf die Spezialisierung der Zellen. <strong>Ein</strong>e Zelle kann sich bewegen, sich<br />

teilen, sich an andere anheften (Adhäsion), loslassen und auch sterben.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 8<br />

Bei der Befruchtung verschmelzen Eizelle und Samenzelle und damit auch ihre<br />

genetischen Informationen. Durch fortwährende Zellteilung bildet sich daraufhin<br />

das Blastoderm, ein Zellhaufen mit über 100 000 Zellen. Durch Wanderung und<br />

Adhäsion der Zellen kommt es zur <strong>Ein</strong>stülpung des Blastoderms, zur Gastrulation,<br />

wobei sich drei Zellplatten herausbilden (Keimblätter): Ektoderm, Entoderm<br />

und Mesoderm. In diesem Stadium der Keimesentwicklung setzt nun der Mechanismus<br />

der embryonalen Induktion ein. Darunter versteht man die Koordination<br />

der ortsabhängigen Differenzierung der Zellen (Topobiologie). Diese erfolgt<br />

durch Zellaktivitäten und durch Genregulationen, wobei Signalstoffe erzeugt<br />

werden, die ihrerseits wiederum auf andere Zellen einwirken können. Durch diese<br />

Prozesse entwickeln sich aus den Keimblättern die Primitivorgane. Am Ende der<br />

Entwicklung steht das individuelle Lebewesen mit seinen Organsystemen.<br />

Das Altern ist ein unausweichlicher Prozess, dem jedes Lebewesen unterworfen<br />

ist. Zwei große Theorien versuchen diesen Vorgang zu erklären: die Fehler- und<br />

die Programmtheorie. Für die Vertreter der Fehlertheorie ist das Altern das unvermeidbare<br />

Resultat des Verschleißes <strong>von</strong> Zellen und ihrer Erbsubstanz auf<br />

Grund schädigender <strong>Ein</strong>flüsse, denen sie während ihres Lebens ausgesetzt sind.<br />

Der kritische Punkt ist dann erreicht, wenn die zelleigenen Reparaturmechanismen<br />

nicht mehr ausreichen, um die Fehler zu beheben. Die Befürworter<br />

der Programmtheorie sind überzeugt, dass Altern und Tod ein ureigener <strong>Teil</strong> des<br />

Lebens sind: Von Anfang an in jeder Zelle installiert, läuft ein genetisches<br />

Alterungsprogramm nach einem arttypischen Muster ab. Unstrittig jedenfalls ist,<br />

dass die Zellen altern - ob nun auf Grund sich häufender Fehler oder eines<br />

vorprogrammierten genetischen Mechanismus. <strong>Ein</strong>e wichtige biologische Uhr,<br />

die das individuelle Lebensalter mitbestimmt, ist der chemische Stoffwechsel.<br />

Der amerikanische Mediziner Richard Weindruch in Wisconsin ernährte Mäuse<br />

und Ratten nur mit zwei Drittel der normalen täglichen Kalorienzufuhr, jedoch<br />

mit allen notwendigen Vitaminen und Spurenelementen. Weil in den Zellen<br />

dieser Tiere weniger Nahrung verarbeitet wird, bilden sich auch weniger<br />

schädliche Stoffwechselprodukte, wie beispielsweise die freien Radikale (endogene<br />

Oxidantien). Diese hochreaktiven, aggressiven Moleküle sind verantwortlich<br />

für Oxidationsprozesse, welche Membranproteine und Enzymproteine, die Energie<br />

liefernden Mitochondrien im Zellplasma, und sogar Genmaterial im Zellkern<br />

zerstören können. Glücklicherweise hat die Natur Schutzmittel dagegen entwickelt:<br />

<strong>Ein</strong>erseits wurden Gene entdeckt, welche die DNS-Schäden wieder<br />

reparieren bzw. ein Enzym produzieren, welches die freien Radikale abbaut<br />

(Superoxid-Dismutase). Andererseits hemmt auch eine gesunde Ernährung, die so<br />

genannte Antioxidantien enthält (z.B. in Karfiol und Broccoli), die zerstörerische<br />

Wirkung der freien Radikale. Allgemein erweist sich die Stoffwechselgeschwindigkeit<br />

als indirekt proportional zur Lebensdauer. Langsame und schlanke Tiere<br />

leben länger, bei Ratten bis zu einem Drittel der normalen Lebensspanne.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 9<br />

Das biologische System "Mensch"<br />

Nervensystem: Kommunikation mit Umwelt und Systemkontrolle.<br />

Magen, Darm: Aufnahme der Nahrungsstoffe.<br />

Lunge: <strong>Ein</strong>atmen <strong>von</strong> Sauerstoff und Ausatmen <strong>von</strong> Kohlendioxid.<br />

Blutkreislauf, Herz: Transport der Stoffe im Organismus.<br />

Leber: Abbau, Umbau, Aufbau <strong>von</strong> Stoffen und Entgiftung.<br />

Darm, Niere, Lunge, Haut: Ausscheiden <strong>von</strong> Stoffen.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 10<br />

Die Bausteine des Organismus sind die Zellen. Diese haben im Laufe der<br />

Entwicklung hoch spezialisierte Funktionen übernommen (Muskelzellen zur<br />

Bewegung, Nervenzellen zur Signalübertragung, Drüsenzellen zur Sekretion,<br />

usw.). In der Grundstruktur bestehen sie aus einer Zellmembran, die sie <strong>von</strong> der<br />

Umgebung abgrenzt, und im Inneren aus dem Zellplasma mit verschiedenen<br />

<strong>Ein</strong>richtungen (Ribosomen, Mitochondrien usw.) und dem Zellkern mit seinen<br />

Chromosomen, die aus Desoxyribo-Nukleinsäure-Molekülen (DNS) bestehen.<br />

Im Zellplasma läuft der biochemische Stoffwechsel ab. Beim so genannten<br />

Baustoffwechsel werden Moleküle zerlegt und aus ihren Bestandteilen wieder<br />

neue aufgebaut. Im Grunde sind nur wenige Stoffklassen für den Aufbau der<br />

belebten Natur wichtig: Wasser, Salze bzw. Ionen, Kohlehydrate, Fette bzw.<br />

Lipide, Proteine (Eiweiße), Ribonukleinsäuren (RNS) und Desoxyribonukleinsäuren<br />

(DNS). Zerlegt man diese Moleküle weiter, dann erhält man ebenfalls nur<br />

wenige typische Bestandteile wie die Aminosäuren der Eiweiße oder die<br />

Fettsäuren der Fette oder den Traubenzucker der Kohlehydrate.<br />

Damit der Baustoffwechsel reibungslos funktioniert, muss ihm Energie zugeführt<br />

werden. Diese Energie liefert der Betriebsstoffwechsel (Energiestoffwechsel) der<br />

Zelle. Die Aufnahme der Betriebsstoffe (vor allem <strong>von</strong> Zucker aus dem Blut)<br />

erfolgt durch die Zellmembran. Ihre Verbrennung mit Sauerstoff in den Mitochondrien<br />

des Zellplasmas wird als biologische Oxidation bezeichnet und liefert<br />

erstens weiter verwertbare chemische Bestandteile und zweitens freiwerdende<br />

Energie, welche zur Synthese <strong>von</strong> Adenosintriphosphat (ATP) aus Adenosindiphosphat<br />

(ADP) und Phosphorsäure (P) verwendet wird.<br />

Die biologische Oxidation besteht aus einer mehrstufigen Kette <strong>von</strong> vielen<br />

<strong>Ein</strong>zelreaktionen, wo verschiedene Enzyme mitwirken. Glykolyse (Zuckerabbau<br />

zur einfacheren Brenztraubensäure), Oxidationen der Fettsäuren und Aminosäurenabbau<br />

münden in den so genannten Zitronensäurezyklus, wo eine stufenweise<br />

Umformung und Zerlegung <strong>von</strong> kohlenstoffhaltigen Säuren unter Abspaltung<br />

<strong>von</strong> Kohlendioxid CO2 erfolgt.<br />

In der Atmungskette schließlich kommt es <strong>zum</strong> Endabbau mit Hilfe <strong>von</strong> Sauerstoff<br />

unter Abspaltung <strong>von</strong> Wasser H2O. <strong>Ein</strong> zentrales Zwischenprodukt dabei ist<br />

die aktivierte Essigsäure (Acetyl- Coenzym-A), welche einerseits als Ausgangspunkt<br />

für verschiedene Molekülsynthesen dient (Fettsäuren, Transmitterstoffe,<br />

Steroidhormone, Gallensäuren usw.); andererseits wird sie mit Hilfe <strong>von</strong><br />

Sauerstoff unter Abgabe <strong>von</strong> Energie in die Endprodukte Kohlendioxid und<br />

Wasser zerlegt, welche dann ausgeschieden werden. Die Eiweißzerlegung (Abbau<br />

der Aminosäuren) führt zu dem Endprodukt Harnstoff und der Nukleinsäureabbau<br />

liefert noch zusätzlich Harnsäure. Aufnahme, Zerlegung und Ausscheidung<br />

<strong>von</strong> Substanzen kennzeichnen den Betriebsstoffwechsel.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 11<br />

Gemeinsame Wege des Stoffwechsels der Nahrungsstoffe:


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 12<br />

Nährstoffumwandlung bei der Verdauung:<br />

Die Umgebung der Zelle:<br />

Das Innere der Zelle:


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 13<br />

Der Stoffwechsel in der Zelle:<br />

Die biologische Oxidation:<br />

Die chemische Energiegewinnung:


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 14<br />

Das ATP-Molekül als Zwischenspeicher biochemisch freigesetzter Energie<br />

kommt in vielfältiger Weise <strong>zum</strong> <strong>Ein</strong>satz. Durch eine hydrolytische Spaltung<br />

(d.h. mittels Wassermolekülen) <strong>von</strong> Adenosintriphosphat (ATP) in Adenosindiphosphat<br />

(ADP) und Phosphorsäure wird die gespeicherte Energie wieder abgegeben<br />

und für unterschiedliche Aufgaben verwendet: für den aktiven Stofftransport<br />

durch die Zellmembran (Ionenpumpe), für die Synthese <strong>von</strong> Eiweißmolekülen<br />

aus Aminosäuren, für die Bildung verschiedener Aufbaustoffe und<br />

vieles mehr. Alle diese biochemischen Reaktionen laufen unter Mitwirkung <strong>von</strong><br />

spezifischen Katalysatoren ab. Diese Biokatalysatoren nennt man auch Enzyme,<br />

<strong>von</strong> denen über 2000 bekannt sind.<br />

Dem menschlichen Organismus liegt der komplexe Mikrokosmos seiner Zellen<br />

zu Grunde. Zellen sind offene Systeme, in denen ständig Materie umgeformt,<br />

Energie freigesetzt und gebunden wird. Dabei ist die Erhaltung stationärer<br />

Gleichgewichte der Stoffkonzentrationen lebensnotwendig, beispielsweise das<br />

Säure-Base-Gleichgewicht oder der Zuckergehalt im Blut.<br />

Die ständig auftretenden Störungen dieser Gleichgewichtszustände durch äußere<br />

<strong>Ein</strong>flüsse werden durch komplizierte Regulations-Mechanismen ausgeglichen.<br />

Leben besteht daher in einer dauernden Erhaltung <strong>von</strong> Fließgleichgewichten.<br />

Der zelluläre Stoffwechsel eines einzelnen Organismus ist eingebettet in den globalen<br />

Stoffwechsel der Natur. Dieser kann als Kreisprozess aufgefasst werden:<br />

Durch die, unter Lichtenergie in den Pflanzen ablaufende Photosynthese wird<br />

Zucker (C6H12O6) aus Wasser (H2O) und Kohlendioxid (CO2) gewonnen, wobei<br />

auch Sauerstoff (O2) freigesetzt wird. Zur Lichtabsorption ist dabei der grüne<br />

Blattfarbstoff (Chlorophyll) unentbehrlich. Die Photosynthese besteht aus einer<br />

Abfolge komplizierter chemischer Reaktionen, die unter Mitwirkung mehrerer<br />

Katalysatoren abläuft.<br />

Mit der Nahrungsaufnahme gelangt der Zucker in den tierischen Organismus.<br />

Durch die biologische Oxidation wird der Zucker mit Hilfe <strong>von</strong> Sauerstoff in den<br />

Zellen der Tiere verbrannt. Die freiwerdende Energie wird im ATP-Molekül<br />

gespeichert und für die verschiedenen Formen der Zellarbeit verwendet<br />

(Nervenerregung, Muskelkontraktion, Stoffsynthese, Transport, Zellteilung usw.).<br />

Als Endprodukte des zellulären Stoffwechsels werden wiederum Wasser und<br />

Kohlendioxid und einfache Stickstoffverbindungen in die Natur ausgeschieden,<br />

und der globale Kreislauf der Energie kann <strong>von</strong> neuem mit der Photosynthese<br />

beginnen.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 15<br />

Der Kreislauf der Energie<br />

Die Abbildung zeigt eine schematische Darstellung des energetischen<br />

Zusammenspiels <strong>von</strong> individuellem Organismus und umgebender Natur.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 16<br />

<strong>Ein</strong>e zentrale Frage lautet: Was ist "Lebensenergie" ?<br />

Unter Energie versteht man ganz allgemein die Fähigkeit Arbeit zu verrichten.<br />

Verzichtet man auf religiöse oder mythologische Spekulationen, dann kann die<br />

Quelle unserer Lebensenergie nur in den oben beschriebenen, Energie liefernden<br />

biochemischen Prozessen liegen. Die lebende Zelle arbeitet wie eine Energie<br />

transformierende Fabrik. Die synchrone Arbeit vieler Zellen eines Gewebes bewirkt<br />

eine nach außen hin beobachtbare und messbare Aktivität. Direkt beobachtbar<br />

ist der Aktivitätszustand des Organismus vor allem in vier Bereichen:<br />

• Atemtätigkeit (Frequenz, Tiefe)<br />

• Herz-Kreislauf-System (Puls, Blutdruck)<br />

• Peristaltik des Darmes<br />

• Spannungszustand der Skelettmuskulatur<br />

Die Lebensenergie ist keine eigenständige mystische Kraft, sondern sie ist der<br />

Sammelbegriff für die synchrone Arbeit unserer Zellen. Synchronisation und Regulation<br />

erfolgen durch die Signalsysteme <strong>von</strong> Nerven- und Hormonsystem. Mit<br />

Lebensenergie wird auch oft die Selbstheilungskraft des Organismus bezeichnet.<br />

In der Menschheitsgeschichte taucht dieser Begriff der Lebensenergie in verschiedenen<br />

Formen auf: QI (China), Prana (Indien), Num (Afrika), Vis vitalis<br />

(Europa), Libido (Sigmund Freud), Orgon (Wilhelm Reich).<br />

[1.1.2] Das Nervensystem und seine Bausteine<br />

Das Nervensystem besteht aus dem somatischen und dem vegetativen System.<br />

Das somatische Nervensystem kontrolliert die Kommunikation mit der Umwelt<br />

und gliedert sich in zwei <strong>Teil</strong>bereiche:<br />

Das sensorische System besteht aus den Rezeptoren (Sinnesorganen) und den <strong>von</strong><br />

der Peripherie zur Zentrale führenden Nerven (afferent). Es dient somit zur<br />

Aufnahme und Verarbeitung <strong>von</strong> äußeren Reizen. Das motorische System besteht<br />

aus den <strong>von</strong> der Zentrale zur Peripherie führenden Nerven (efferent) und den<br />

Effektoren (Muskeln). Es dient somit zur Steuerung der Körpermotorik.<br />

Das vegetative Nervensystem steuert und koordiniert die Funktionen der inneren<br />

Organe (Verdauung, Atmung, Herztätigkeit, usw.)<br />

Zusätzlich wird zwischen zentraler Informationsverarbeitung (Gehirn, Rückenmark)<br />

und peripherer Informationsverarbeitung unterschieden.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 17<br />

Die Nervenzellen mit ihren Fortsätzen<br />

Die Bausteine des Nervensystems sind die Neuronen. <strong>Ein</strong> Neuron enthält die<br />

eigentliche Nervenzelle, viele zuleitende Fortsätze (Dendriten) und immer nur<br />

einen wegleitenden Fortsatz (Neurit, Axon). Die Nervenzelle besteht aus dem<br />

Zellkern mit seinen Chromosomen und dem Zellplasma, wo in bestimmten <strong>Teil</strong>en<br />

(Zellorganellen) wichtige chemische Stoffwechselvorgänge ablaufen.<br />

Die Kontaktstellen zwischen zwei Neuronen heißen Synapsen. Diese unterteilt<br />

man in die präsynaptische Membran, den synaptischen Spalt und die postsynaptische<br />

Membran.<br />

In der Abbildung sind im Inneren der Zelle einzelne Strukturen (Zellkern, Golgi-<br />

Apparat, Mitochondrien usw.) dargestellt. Die Blasen (Vesikel) an den synaptischen<br />

Endköpfen enthalten Transmitterstoffe, welche die Übertragung elektrischer<br />

Signale <strong>von</strong> einem Neuron auf ein anderes ermöglichen.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 18<br />

Die Nervenzelle ist <strong>von</strong> ihrer Umgebung durch eine Membran abgegrenzt. Auf<br />

Grund einer bestimmten Verteilung <strong>von</strong> Ionen (vor allem Natrium und Kalium)<br />

besteht zwischen Innenraum und Außenraum eine elektrische Spannung (Ruhepotential,<br />

ca. -70 mV). Die Membran enthält Kanäle <strong>von</strong> verschiedener Breite,<br />

durch welche selektiv bestimmte Moleküle hinein oder hinaus wandern können.<br />

Solche Ionenverschiebungen werden durch Transmitterstoffe bewirkt. Dadurch<br />

ändert sich die elektrische Spannung zwischen Innen- und Außenraum der Zelle.<br />

Diese Spannungsänderung (Aktionspotential, ca. +30 mV) wird nun entlang der<br />

Nervenfortsätze weitergeleitet. Dann werden die Ionen wieder in umgekehrter<br />

Richtung bewegt (Ionenpumpe) und das Ruhepotential hergestellt. Die Energie<br />

für die Ionenpumpe liefert das ATP-Molekül. Den ganzen Vorgang nennt man<br />

eine elektrochemische Erregung.<br />

Mit ihren Fortsätzen und Synapsen verbundene Neuronen bilden ein lokales Netz.<br />

Die im Netz weitergeleitete Information ist in der zeitlichen Aufeinanderfolge der<br />

Aktionspotentiale verschlüsselt (Frequenzmodulation).


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 19<br />

Erreicht ein Aktionspotential die präsynaptische Membran, dann werden dort so<br />

genannte Transmitter-Moleküle freigesetzt, welche den Spalt überqueren und sich<br />

an so genannte Rezeptor-Moleküle an der postsynaptischen Membran anheften.<br />

Die Rezeptoren öffnen oder schließen nun selektiv Membrankanäle, wodurch der<br />

Ioneneinstrom gesteuert wird. Somit steuern die Transmitter die Weiterleitung der<br />

elektrischen Signale, entweder erregend (exzitatorisch) oder hemmend (inhibitorisch).<br />

Bestimmte Transmitter werden in bestimmten Hirnregionen erzeugt und<br />

steuern dort die Aktivität dieser Regionen. <strong>Ein</strong>e Beeinflussung der Transmitter beeinflusst<br />

somit auch die Gehirnfunktionen.<br />

Die Wirkung vieler Medikamente beruht darauf, dass sie den natürlichen<br />

Botenstoffen nachgebaut werden und daher Rezeptormoleküle besetzen. Die<br />

agonistischen Medikamente erzielen die gleiche Wirkung wie die Botenstoffe.<br />

Antagonisten besetzen die Rezeptoren und blockieren sie ohne eine Wirkung zu<br />

erzielen. In der folgenden Abbildung sind diese Mechanismen schematisch<br />

dargestellt.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 20<br />

Gelangt ein Aktionspotential in der Nervenfaser an eine Synapse, dann kommt es<br />

dort zu einer Erregungsübertragung auf das benachbarte Neuron. Das elektrochemische<br />

Geschehen soll am Beispiel einer Synapse mit Acetylcholin (ACh) als<br />

Transmitter beschrieben werden, wobei das Acetylcholin in der Nervenendigung<br />

aus Acetyl-Coenzym-A (Acetyl-CoA) und Cholin gebildet und in den Vesikeln<br />

(Bläschen) gespeichert wird.<br />

[a] Wenn ein Aktionspotential die Endigung erreicht, öffnen sich die zuvor<br />

geschlossenen Calciumkanäle und lassen Calciumionen Ca 2+ einströmen.<br />

[b] Dies bewirkt, dass die Vesikel mit der präsynaptischen Membran verschmelzen<br />

und ACh-Moleküle in den synaptischen Spalt entlassen.<br />

[c] Der freigesetzte Transmitter bindet sich an spezifische ACh-Rezeptoren auf<br />

der postsynaptischen Membran des benachbarten Neurons und löst dort die<br />

Öffnung der Natriumkanäle aus. Viele Na + -Ionen strömen ins Zelleninnere und<br />

wenige K + -Ionen nach außen. Dadurch kann ein postsynaptisches Aktionspotential<br />

aufgebaut und die Erregungsleitung fortgesetzt werden.<br />

[d] Der Transmitter ACh wird dann an den Membranrezeptoren durch das Enzym<br />

Acetylcholinesterase (AChE) sofort zu Acetat (A) und Cholin (Ch) abgebaut.<br />

[e] Diese Produkte werden <strong>von</strong> der präsynaptischen Nervenendigung aufgenommen<br />

und anschließend zur neuerlichen Synthese <strong>von</strong> Acetylcholin verwendet.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 21<br />

Transmitterstoffe und Membranrezeptoren<br />

Wie das Gehirn funktioniert, versteht man am besten, wenn man die synaptische<br />

Übertragung betrachtet, also die Weise, in der Nervenzellen Information an<br />

andere Nerven-, Muskel- oder Drüsenzellen übermitteln. In der Zusammenschau<br />

ist dieser Prozess unkompliziert: Sobald ein Aktionspotential eine Nervenfaserendigung<br />

(den präsynaptischen <strong>Teil</strong> der Synapse) erreicht, öffnet es normalerweise<br />

geschlossene, elektrisch gesteuerte Calcium-Kanäle in der präsynaptischen<br />

Membran. Calcium strömt ein und setzt die Ausschüttung <strong>von</strong> Neurotransmittersubstanzen<br />

in Gang, die durch den synaptischen Spalt diffundieren, auf<br />

Rezeptoren in der postsynaptischen Membran einwirken und so Reaktionen in der<br />

postsynaptischen Nerven-, Muskel- oder Drüsenzelle auslösen.<br />

Die durch den präsynaptischen Strom freigesetzte Neurotransmittersubstanz<br />

heftet sich an spezifische Rezeptormoleküle in der postsynaptischen Membran.<br />

Diese Rezeptoren bewirken dann Änderungen in der postsynaptischen Zelle. Bei<br />

der schnellen (weniger als eine Millisekunde benötigenden) synaptischen Übertragung<br />

steuern die Rezeptoren unmittelbar Ionenkanäle. Hierbei handelt es sich<br />

nicht um einen elektrisch gesteuerten, sondern um einen chemisch gesteuerten<br />

Ionenkanal. Er ist nur zu öffnen, indem sich der Transmitter an jene Rezeptoren<br />

heftet, die die Kontrolle über den Kanal ausüben. Daneben gibt es auch seltene,<br />

rein elektrisch gesteuerte Synapsen, die ohne Transmitter auskommen.<br />

Bei der schnellen erregenden synaptischen Übertragung (exzitatorisch) öffnen<br />

die Rezeptoren Natrium-Kanäle. Natrium strömt ein und verursacht eine gewisse<br />

Depolarisation (das heißt, das lokale Membranpotential wird weniger negativ).<br />

Diese erregende Reaktion (EPSP, exzitatorisches postsynaptisches Potential) ist<br />

abgestuft und in ihrer Stärke da<strong>von</strong> abhängig, wie viele Rezeptoren bzw. Kanäle<br />

aktiviert wurden. Sind ausreichend viele Rezeptoren in Tätigkeit versetzt<br />

(Summationseffekt), dann wird das Membranpotential im Anfangsteil der<br />

Nervenfaser, wo sie den Zellkörper verlässt, depolarisiert. Sobald die Aktionspotentialschwelle<br />

der hier befindlichen Natriumkanäle erreicht ist, entsteht ein<br />

postsynaptisches Aktionspotential, welches sich dann entlang der Nervenfaser<br />

weiter fortpflanzt.<br />

Bei der schnellen hemmenden synaptischen Übertragung (inhibitorisch) steuern<br />

die Rezeptoren gewöhnlich geschlossene Chlorid-Kanäle. Sie öffnen diese,<br />

Chloridionen strömen ein und hyperpolarisieren die Zellmembran (ihr Potential<br />

wird also negativer als das Ruhepotential). Dieses inhibitorische postsynaptische<br />

Potential (IPSP, ca. -75 mV) verhindert das Erreichen des Schwellwertes zur<br />

Erzeugung eines Aktionspotentials, sodass keine Signalfortpflanzung erfolgen<br />

kann.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 22<br />

Heute hat die moderne Molekularbiologie bereits das Wissen und die Instrumente<br />

entwickelt, um die Neurotransmitter-Rezeptoren (die komplexe Proteinmoleküle<br />

sind) zu charakterisieren. In zunehmendem Maß wird klar, dass es weniger die<br />

bloße, als Transmitter benutzte Substanz ist, sondern der Rezeptor, der die<br />

"Botschaft" bei der synaptischen Übertragung in sich trägt. So kann ACh sowohl<br />

als erregender wie als hemmender Neurotransmitter fungieren, je nachdem auf<br />

welchen Rezeptor es einwirkt. <strong>Ein</strong> Typ <strong>von</strong> ACh-Rezeptor (nämlich der erregend<br />

wirkende Rezeptor an der neuromuskulären Endplatte) hat ein hohes Molekulargewicht<br />

und besteht aus vier Typen <strong>von</strong> Untereinheiten. Der Grund, weshalb so<br />

viele Wirkstoffe einen derart mächtigen <strong>Ein</strong>fluss auf das Gehirn haben, liegt<br />

darin, dass sie den spezifischen Rezeptoren der Nervenzellen vortäuschen sie<br />

wären Neurotransmitter. Dies gelingt ihnen, indem sie sich auf Grund ihrer<br />

chemischen Struktur an den Rezeptor anlagern und ihn entweder aktivieren<br />

(agonistische Wirkstoffe) oder das normale Transmittermolekül daran hindern,<br />

sich an den Rezeptor zu heften (antagonistische Stoffe).<br />

Bekannte klassische Transmitter sind: Acetylcholin, die Aminosäuren Glycin,<br />

Glutamat und GABA, die Monoamine Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin und<br />

Serotonin. Daneben gibt es noch einige modulierend wirkende Neuropeptide wie<br />

beispielsweise Endorphine und Enkephaline. Diese bewirken unmittelbar keine<br />

Leitfähigkeitsänderungen in den synaptischen Membranen, sondern beeinflussen<br />

Intensität und Dauer der Wirkung der klassischen Transmitter.<br />

Glutamat, eine Aminosäure, die sowohl in der Nahrung als auch in allen Zellen<br />

vorkommt, ist das Arbeitspferd unter den schnellen erregenden Neurotransmittern<br />

im Gehirn. Auch bei der Speicherung <strong>von</strong> Gedächtnisinhalten scheint es<br />

eine Schlüsselrolle zu spielen. <strong>Ein</strong> Beispiel hiefür ist die Langzeitpotenzierung<br />

(LTP). Wird eine Leitungsbahn, die Glutamat als Transmitter benutzt (etwa im<br />

Hippocampus), in rascher Folge gereizt, ruft dies eine anhaltend gesteigerte<br />

Erregbarkeit der aktivierten Synapsen hervor. Dieser Verstärkereffekt (Potenzierung)<br />

wird durch Anregung eines bestimmten Typs <strong>von</strong> Glutamatrezeptor<br />

eingeleitet, dem so genannten NMDA-Rezeptor (NMDA=N-Methyl-D-Aspartat).<br />

LTP wurde erstmals 1973 im Hippocampus entdeckt.<br />

Auch ein anderer synaptischer Wirkungsmechanismus, die Langzeitdepression<br />

(LTD), kann an Glutamatsynapsen (beispielsweise im Kleinhirn) vorkommen. Sie<br />

geht mit einer langdauernden abgeschwächten Erregbarkeit <strong>von</strong> Glutamatrezeptoren<br />

des AMPA-Typs einher (AMPA=α-Amino-3-Hydroxy-5-Methyl-4-<br />

Isoxazol-Propionsäure). Die LTD wurde erst 1981 <strong>von</strong> dem japanischen Neurobiologen<br />

Masao Ito an den Purkinje-Zellen im Kleinhirn entdeckt.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 23<br />

Gamma-Amino-Buttersäure (GABA) ist das Arbeitspferd unter den schnellen<br />

hemmenden Neurotransmittern im Gehirn. Seine Rezeptoren steuern Chloridkanäle<br />

in Nervenzellmembranen. Die Tranquilizer (Benzodiazepine) wirken auf<br />

GABA-Rezeptoren, indem sie deren Wirkungen steigern und so die Hemmung<br />

verstärken. Mit Benzodiazepinen werden panischen Angstzustände behandelt.<br />

Acetylcholin (ACh) ist der Transmitter an der neuromuskulären Endplatte<br />

zwischen Nervenfaser und Muskelzelle und an bestimmten anderen peripheren<br />

Synapsen des autonomen Nervensystems (<strong>zum</strong> Beispiel im Herzen). Er kann als<br />

der am gründlichsten untersuchte und wohl bekannteste Transmitter gelten. 1924<br />

entdeckte Otto Loewi in einem klassischen Experiment der Neurobiologie das<br />

Acetylcholin und klärte damit die Frage, ob die synaptische Übertragung vom<br />

Vagusnerv <strong>zum</strong> Herzmuskel (und auch an anderen Synapsen) elektrischer oder<br />

chemischer Natur ist. Loewis Experiment - ein Modell dafür, wie einfach ein<br />

Versuch sein kann - verdient es, genauer beschrieben zu werden. Der Vagusnerv<br />

ist einer der größeren Nerven, die das Herz kontrollieren. Aus einem Frosch kann<br />

man ihn und das Herz herauspräparieren und in einer Schale mit so genannter<br />

Ringerlösung am Leben halten. Diese Lösung ähnelt in ihrer Salzzusammensetzung<br />

dem Blut. <strong>Ein</strong>e elektrische Reizung des Vagus, ob im lebenden Tier oder<br />

an einem isolierten Herzen in einem Gefäß, verlangsamt den Herzschlag. Loewi<br />

reizte den Vagus eines in Ringerlösung überführten Herzens viele Male und löste<br />

jedesmal eine Senkung der Herzfrequenz aus. Anschließend entnahm er der<br />

Schale mit dem stimulierten Herzen etwas Lösung und gab sie in eine andere<br />

Schale mit einem zweiten Froschherzen. Auch dieses Herz schlug daraufhin langsamer.<br />

Das Experiment bewies, dass die synaptische Übertragung mit Hilfe eines<br />

chemischen Transmitterstoffes abläuft.<br />

Das Acetylcholin ist die vielleicht am besten erforschte Neurotransmittersubstanz,<br />

denn sie wirkt an neuromuskulären Endplatten und lässt sich dort sehr gut<br />

untersuchen. Es gibt zwei Haupttypen <strong>von</strong> ACh-Rezeptoren, <strong>von</strong> denen die einen<br />

erregend auf die Skelettmuskulatur einwirken (nicotinerge Rezeptoren) und die<br />

anderen beispielsweise den Herzmuskel hemmend beeinflussen (muscarinerge<br />

Rezeptoren). Über ACh-Bahnen im Gehirn weiß man weitaus weniger. Die<br />

Zellkörper der wichtigsten ACh-Bahn des Gehirns befinden sich im Nucleus<br />

basalis (ihre Fasern ziehen in weite <strong>Teil</strong>e der Großhirnrinde) und in den Septumkernen<br />

(deren Fasern <strong>zum</strong> Hippocampus ziehen). In den Gehirnbahnen übt ACh<br />

anscheinend keine schnellen synaptischen Wirkungen aus (wie es dies an den<br />

Muskeln tut), sondern ruft eher langsame synaptische Effekte über zusätzliche<br />

Vermittlerstoffe (second messenger) hervor. Bei der langsamen und schnellen<br />

synaptischen Übertragung gleichen sich die ersten Schritte bis einschließlich zu<br />

dem Moment, in dem sich der Überträgerstoff an die Rezeptormoleküle der<br />

postsynaptischen Membran anlagert; doch dann trennen sich ihre Wege.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 24<br />

Langsame Rezeptoren sind nicht direkt an Ionenkanäle gekoppelt. Sie aktivieren<br />

statt dessen so genannte G-Proteine, die ihrerseits Vermittlerstoffe im Inneren der<br />

Zelle aktivieren. Beispielhaft für ein solches System ist die (durch das G-Protein<br />

vermittelte) Umwandlung <strong>von</strong> ATP in cAMP (zyklisches Adenosinmonophosphat).<br />

cAMP wirkt dann als second messenger für die Phosphorylierung eines<br />

Proteins, d.h. die Verbindung eines Proteinmoleküls mit einem Phosphatmolekül.<br />

Dadurch wird das Protein als Enzym aktiv und beschleunigt einen bestimmten<br />

biochemischen Prozess im intermediären Stoffwechsel der Zelle.<br />

Weitere gut untersuchte Neurotransmitter des Gehirns sind die zwei Monoamine<br />

Dopamin und Noradrenalin. Sie werden in den Zellen aus Tyrosin hergestellt,<br />

einer Aminosäure, die gewöhnlich in der Nahrung vorkommt. Tyrosin wird<br />

zunächst in L-Dopa, dann in Dopamin, schließlich in Noradrenalin und zuletzt in<br />

Adrenalin umgewandelt. Welches Endprodukt - ob Dopamin oder Noradrenalin -<br />

entsteht, hängt da<strong>von</strong> ab, welche Enzyme in der Zelle vorliegen.<br />

Es gibt drei wichtige dopaminerge Nervenbahnen im Gehirn. <strong>Ein</strong>e befindet sich<br />

im Hypothalamus im Zwischenhirn, eine andere erstreckt sich <strong>von</strong> der<br />

"Substantia nigra" im Mittelhirn zu den Basalganglien des Großhirns, eine<br />

weitere verläuft vom Hirnstamm zur Großhirnrinde und zu anderen Vorderhirnstrukturen.<br />

Bei der Parkinson-Krankheit (Schüttellähmung) gehen dopaminhaltige<br />

Zellen in der "Substantia nigra" zu Grunde. Die Symptome der Erkrankung<br />

sind Ausdruck der daraus resultierenden verminderten Dopaminübertragung<br />

in den Basalganglien. Injiziert man den Patienten L-Dopa (welches sich im<br />

Gehirn in Dopamin umwandelt), verbessert sich ihr Zustand.<br />

Das dopaminerge System, welches auf das Vorderhirn hinzielt (projiziert), scheint<br />

eine Rolle bei der schweren Geisteskrankheit Schizophrenie zu spielen. Im<br />

Allgemeinen blocken Substanzen, die schizophrene Symptome lindern, dopaminerge<br />

Synapsen im Gehirn. Viele Forscher vertreten so die Ansicht, Ursache<br />

der Schizophrenie sei eine Überaktivität des mesolimbischen Dopaminsystems in<br />

der Tiefe des Großhirns und eine kompensatorische Unteraktivität im Vorderhirn.<br />

Fast alle noradrenergen Bahnen des Gehirns entspringen im "Locus coeruleus",<br />

einer kleinen Nervenzellansammlung im Hirnstamm, und entsenden ihre Fasern<br />

zu praktisch allen Vorderhirnstrukturen. Das Noradrenalinsystem soll das<br />

Aktivierungsniveau regulieren (ARAS, aufsteigendes retikuläres System) und<br />

möglicherweise an der Konsolidierung des Gedächtnisses mitwirken (Langzeitspeicherung<br />

<strong>von</strong> Gedächtnisinhalten).


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 25<br />

Serotonin ist ein weiterer Neurotransmitter, der in den Zellen aus einer in der<br />

Nahrung vorkommenden Aminosäure hergestellt wird, dem Tryptophan (es ist in<br />

Bananen reichlich vorhanden). Serotonin wird wie Dopamin und Noradrenalin<br />

zur chemischen Klasse der Monoamine gezählt. Die Zellkörper der serotonergen<br />

Bahnen im Gehirn befinden sich hauptsächlich in den so genannten Raphe-<br />

Kernen des Hirnstammes. Ihre Fasern ziehen <strong>zum</strong> Hypothalamus im Zwischenhirn<br />

und zu Vorderhirnstrukturen des Großhirns.<br />

Bei schwerer Depression scheinen die noradrenergen und serotonergen Bahnen<br />

eine Rolle zu spielen. Es gibt zwei Formen der Depression: Bei der einen handelt<br />

es sich um eine anhaltende schwere Verstimmung (Major Depression), bei der<br />

anderen tritt neben der schweren depressiven Verstimmung mindestens eine<br />

manische Episode auf (Bipolare Störung, früher als manisch-depressive<br />

Erkrankung bezeichnet). Im Allgemeinen lassen sich schwere depressive Zustände<br />

durch Substanzen günstig beeinflussen, welche die Aktivität noradrenerger<br />

und serotonerger Bahnen im Gehirn erhöhen oder verstärken. Allerdings gelingt<br />

es diesen Substanzen kaum, die Symptome der bipolaren Störung zu lindern.<br />

Jedoch sprechen Patienten mit bipolarer Störung auf Lithium gut an.<br />

Alle diese für das psychische Wohlbefinden offenbar entscheidenden Neurotransmittersysteme<br />

des Gehirns scheinen über den langsamen Mechanismus der<br />

"second messenger" zu wirken. Interessanterweise machen sie nur wenige<br />

Prozent der gesamten Nervenüberträgerstoffe im Gehirn aus. Die schnellen<br />

Transmitter wie Glutamat und GABA kommen sehr viel häufiger vor und sind<br />

viel weiter verbreitet. Die langsamen synaptischen Wirkungen dauern einige<br />

Zehntelsekunden und dienen häufig der Modulation der schnellen Transmitterwirkungen.<br />

So dämpfen beispielsweise so genannte Opiate an den Synapsen im<br />

Rückenmark die Schmerzübertragung mittels Glutamat.<br />

Der Nachweis <strong>von</strong> Nervenzellrezeptoren im Gehirn, die auf Opium und seine<br />

Abkömmlinge - Morphin und Heroin - ansprechen, ist ein verblüffendes<br />

Forschungsergebnis der neueren Zeit. In der Folge stieß man auf Hirnopiate, <strong>von</strong><br />

Nervenzellen und Hypophyse (Hirnanhangdrüse) hergestellte Substanzen, die auf<br />

eben diese Rezeptoren einwirken und sehr ähnliche Effekte wie Morphin<br />

hervorrufen: Sie lindern Schmerzen und lösen angenehme Empfindungen aus.<br />

Die Hirnopiate sind allesamt Peptide (Ketten <strong>von</strong> Aminosäuren) und entstammen<br />

drei Superhormonfamilien, deren Aufbau <strong>von</strong> den Genen der entsprechenden<br />

Zellen gesteuert wird. Diese drei riesigen Eiweißmoleküle werden gespalten, um<br />

die viel kleineren opiumähnlichen Peptide hervorzubringen: Endorphine,<br />

Enkephaline und Dynorphine. Enkephaline findet man in Nervenzellen, die <strong>zum</strong><br />

langsamen Schmerzsystem gehören. Endorphin wird <strong>von</strong> der Hypophyse freigesetzt.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 26<br />

Die grundsätzliche Arbeitsweise <strong>von</strong> Neuronen im Netz<br />

<strong>Ein</strong> Neuron ist idealisiert ein einfaches Schaltelement, das viele <strong>Ein</strong>gangssignale<br />

Xi (Inputs) in ein Ausgangssignal Y (Output) umwandelt. Die Signale sind<br />

digitalisiert, d.h. 0 = KEIN Signal und 1 = EIN Signal. Der Index i bezeichnet<br />

die i-te Synapse <strong>von</strong> insgesamt n Inputleitungen. Die Verbindungsstärke einer<br />

Synapse mit dem Neuron ist durch die Anzahl der chemischen Transmitterspeicher<br />

und Rezeptor-Moleküle gegeben. Man nennt sie Synapsengewicht Wi.<br />

Das Neuron bildet die gewichtete Summe aller Inputs S = Σ (Wi * Xi). Dann wird<br />

diese Summe mit einem internen Schwellwert G verglichen.<br />

Ist S < G, dann bleibt das Neuron stumm, sein Outputsignal ist 0.<br />

Ist S = G oder S > G, dann feuert das Neuron, sein Outputsignal ist 1,<br />

d.h. an seiner Membran entsteht ein Aktionspotential.<br />

Lernen bedeutet eine Änderung des neuronalen Netzes, d.h. es ändern sich nachhaltig<br />

die Synapsenstärken Wi der beteiligten Neuronen. Damit ändert sich auch<br />

die gesamte Outputleistung des Netzes.<br />

[1.1.3] Gliederung des zentralen Nervensystems (ZNS)<br />

Der überwiegende <strong>Teil</strong> der ungefähr 200 Milliarden Neuronen des zentralen<br />

Nervensystems befindet sich im Gehirn. Dabei kann eine Nervenzelle bis zu<br />

10000 Synapsen aufweisen, sodass ein vielschichtiges Netzwerk entsteht. Die<br />

Zellen selbst erscheinen als graue, ihre Fortsätze als weiße Substanz.<br />

Das ZNS besteht oben aus dem Gehirn in der Schädelhöhle und setzt sich nach<br />

unten durch das Hinterhauptsloch der Schädelbasis in das Rückenmark im<br />

Wirbelkanal der Wirbelsäule fort. Im interzellulären Raum befinden sich neben<br />

Blutgefäßen noch so genannte Gliazellen, die für bestimmte Nervenfasern isolierende<br />

Hüllschichten (Markscheiden) produzieren. Die Gliazellen umkleiden<br />

auch die Blutgefäße und tragen so zur Blut-Hirn-Schranke bei, die verhindert,<br />

dass viele Substanzen (z.B. Antibiotika) weiter ins Gehirn gelangen.<br />

Das Nervengewebe wird geschützt durch drei Hirnhäute. Im Spalt zwischen den<br />

beiden inneren Häuten befindet sich die Hirnflüssigkeit (Liquor cerebrospinalis),<br />

die in den vier Hirnkammern (Ventrikeln) gebildet wird und als Stoßdämpfer<br />

dient. Die Flüssigkeit wird durch die venösen Blutgefäße resorbiert.<br />

Die Blutversorgung des Gehirns erfolgt frontal über die zwei Kopfarterien (a.<br />

carotis) und dorsal über die zwei Wirbelarterien (a. vertebralis).


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 27<br />

Von oben nach unten wird das ZNS grob in folgende Abschnitte gegliedert:<br />

Großhirn - Hirnstamm und Kleinhirn - Verlängertes Mark - Rückenmark<br />

Das Gehirn ist grundsätzlich in zwei Hälften geteilt, wobei jede für die gegengleiche<br />

Körperhälfte zuständig ist. Alle afferenten (zuleitenden) und efferenten<br />

(wegleitenden) Bahnen kreuzen auf die Gegenseite.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 28<br />

Der entwicklungsgeschichtlich ältere Hirnstamm wird in Zwischenhirn, Mittelhirn<br />

und Brücke unterteilt. Das dahinter liegende Kleinhirn dient der Koordination<br />

der Körpermotorik. Das jüngere Großhirn gliedert sich in das weiße Mark<br />

innen und die außen liegende graue Rinde (Cortex). In der Tiefe des Großhirns<br />

erstreckt sich das ältere limbische System, das auch Anteile am Hirnstamm hat.<br />

Unter einem Kern (nucleus) versteht man eine abgrenzbare Ansammlung <strong>von</strong><br />

Nervenzellen, welcher eine bestimmte Funktion zugeordnet ist. Im gesamten<br />

Gehirn hat man viele solche Kerngebiete lokalisiert. Dies geschieht meistens<br />

durch elektrische Reizung mit dünnen, vorsichtig eingeführten Stahlelektroden.<br />

Das Großhirn (Telencephalon)<br />

Außen befindet sich die graue, aus Nervenzellen bestehende Großhirnrinde und<br />

innen das weiße, aus Nervenfasern bestehende Großhirnmark. Ohne Hirnrinde<br />

(Cortex) ist kein bewusstes Erleben möglich. <strong>Ein</strong>e ausführliche Beschreibung des<br />

Großhirns erfolgt weiter unten.<br />

Das Zwischenhirn (Diencephalon)<br />

Unterhalb des Großhirns befindet sich das Zwischenhirn. In der Mitte liegt die<br />

dritte Hirnkammer (Ventrikel), seitlich dorsal befinden sich die beiden Thalami<br />

(Sehhügel). In diese strahlen die afferenten sensorischen Fasern <strong>von</strong> den Sinnesorganen<br />

ein und werden in den Thalamus-Kernen umgeschaltet. Entweder erfolgt<br />

die Weiterleitung zur Cortex (bewusstes Erleben) oder die Umschaltung zu<br />

ventralen Steuerkernen im Hirnstamm, welche die Körpermotorik regulieren. Der<br />

Thalamus wird auch als das Vorzimmer <strong>zum</strong> Bewusstsein bezeichnet. In einer<br />

Schleife zwischen Großhirn und Thalamus erfolgt über absteigende und aufsteigende,<br />

hemmende und erregende Impulse die Kontrolle der bewussten Aufmerksamkeit.<br />

Am Boden der dritten Hirnkammer liegt der so genannte Hypothalamus<br />

mit seinen Steuerzentren für Temperaturregelung, Sexualität, Lust,<br />

Hunger und Durst. An den Hypothalamus schließen die zwei Hormondrüsen<br />

Epiphyse und Hypophyse. Das Zwischenhirn ist die Schnittstelle zwischen dem<br />

zentralen somatischen Nervensystem, dem vegetativen Nervensystem und dem<br />

Hormonsystem.<br />

Das Mittelhirn (Mesencephalon)<br />

Die dritte Hirnkammer setzt sich hier nach unten als schmaler Gang fort. Ventral<br />

(vorne) liegt das Tegmentum (Haube) mit seinen motorischen Ursprungskernen<br />

<strong>von</strong> einigen Hirnnerven und dorsal (hinten) liegt das Tectum (Vierhügelplatte).


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 29<br />

In das Tectum strahlen Seitenäste <strong>von</strong> afferenten Bahnen ein und dessen Kerne<br />

sind für optische und akustische Reflexe verantwortlich. Weitere sehr bedeutsame<br />

Areale sind die motorischen Zentren, vor allem die Stammganglien des<br />

schwarzen und roten Kerns (Nucleus niger und Nucleus ruber). Sie sind den<br />

Basalganglien des Großhirns (Striatum und Pallidum) nachgeschaltet und steuern<br />

über absteigende Bahnen die unbewusste Körpermotorik. Dieses System wird<br />

extrapyramidal motorisch genannt (EPM) - im Gegensatz zur willkürlichen<br />

Motorik, welche <strong>von</strong> motorischen Zentren der Cortex und über die absteigende<br />

Pyramidenbahn kontrolliert wird.<br />

Die Brücke (Pons)<br />

Der schmale Gang im Mittelhirn erweitert sich nach unten zur vierten Hirnkammer.<br />

Auf deren Boden liegt die Rautengrube, an die sich zur Hirnbasis hin<br />

eine kräftige Auftreibung anschließt. Diese Brücke enthält wichtige Kerne,<br />

welche der Verbindung <strong>von</strong> Großhirn und Kleinhirn dienen (Großhirn - Kleinhirn<br />

- Bahnen). Unterhalb der Brücke liegt das verlängerte Mark.<br />

Das Kleinhirn (Cerebellum)<br />

Das Kleinhirn liegt hinter der Brücke unter dem Hinterhauptslappen des Großhirns<br />

und gliedert sich außen in eine graue Rinde und innen in ein weißes Mark.<br />

Die Kleinhirnschenkel verbinden das Kleinhirn mit dem Mittelhirn, der Brücke<br />

und dem verlängerten Mark. Die Neuronen des Kleinhirns erhalten <strong>von</strong> afferenten<br />

Fasern sensorische Meldungen vom benachbarten Gleichgewichts-Sinnesorgan<br />

und <strong>von</strong> den Sehnen-Rezeptoren der Körpermuskulatur. Nach deren Verarbeitung<br />

werden motorische Erregungen erzeugt, die zur Regulation des Muskeltonus und<br />

der Feinregulation der gesamten Körpermotorik dienen. Beinträchtigungen oder<br />

Ausfälle <strong>von</strong> Kleinhirnkernen führen zu so genannten Kleinhirnataxien (Bewegungsstörungen).<br />

Das verlängerte Mark (Medulla oblongata)<br />

Neben den <strong>zum</strong> Hirnstamm aufsteigenden und <strong>zum</strong> Rückenmark absteigenden<br />

Bahnen enthält das verlängerte Mark wichtige Kerngebiete <strong>von</strong> Hirnnerven, aber<br />

auch Steuerzentren für das vegetative Nervensystem (Atemzentrum und Kreislaufzentrum).<br />

<strong>Ein</strong> sehr interessantes Gebiet ist die formatio reticularis (ARAS,<br />

aufsteigendes, retikuläres Aktivierungssystem). Dieses verstreute Netzwerk versorgt<br />

die Großhirnrinde mit unspezifischen Erregungen und steuert so den Wachheitszustand<br />

des Individuums (<strong>von</strong> tiefster Bewusstlosigkeit bis zur hellwachen<br />

Aufmerksamkeit).


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 30<br />

Aus dem Gehirn treten im Gebiet des Hirnstammes und des verlängerten Markes<br />

12 Hirnnerven-Paare, welche sensorische, motorische und vegetative Anteile<br />

aufweisen (für jede Körperhälfte ein Nerv). Diese innervieren vor allem verschiedene<br />

Bereiche des Gesichtsschädels. Beispiele dafür sind:<br />

II. Hirnnerv (Sehnerv, N. opticus): Netzhaut des Auges - Sehnervenkreuzung -<br />

Zwischenhirn - Thalamus - Großhirnrinde.<br />

V. Hirnnerv (Drillingsnerv, N. trigeminus): Austrittsstelle bzw. <strong>Ein</strong>trittsstelle ist<br />

die Brücke (Pons). Motorische Versorgung: Kaumuskeln. Sensorische Versorgung<br />

<strong>von</strong> Gesichts- und Kopfhaut, Nasen-, Mund- und Augenhöhle.<br />

X. Hirnnerv (herumschweifender Nerv, N. vagus): Austrittsstelle bzw. <strong>Ein</strong>trittsstelle<br />

ist das verlängerte Mark. Parasympathische Versorgung der inneren Organe<br />

in Kopf-, Hals-, Brust- und Bauchraum. Sensorische Versorgung <strong>von</strong> Kehlkopf<br />

und inneren Organen.<br />

Aus dem Rückenmark treten beidseitig durch die Zwischenwirbellöcher in der<br />

Wirbelsäule 31 Körpernerven-Paare. Jeder dieser Spinalnerven versorgt ein bestimmtes<br />

Körpersegment, bestehend aus einem Hautbereich (Dermatom), einem<br />

Muskelbereich (Myotom) und einem inneren Organbereich (Enterotom).<br />

Im Wirbelkanal liegt in Form einer Schmetterlingsfigur die graue Substanz der<br />

Nervenzellen, umgeben <strong>von</strong> der weißen Substanz ihrer Fortsätze. Hinten strahlen<br />

die sensorischen afferenten Fasern der Körpernerven ein, vorne liegen die motorischen<br />

efferenten Leitungsbahnen. Die Nervenzellen der grauen Substanz dienen<br />

erstens der direkten Umschaltung <strong>von</strong> sensorischen auf motorische Leitungen<br />

(Reflexschaltungen zur automatischen Bewegungskoordination). Zweitens dienen<br />

sie entweder der Weiterleitung der sensorischen Signale <strong>von</strong> den Rezeptoren in<br />

der Peripherie <strong>zum</strong> Gehirn (Hinterstrang) oder der Weiterleitung <strong>von</strong> motorischen<br />

Signalen <strong>von</strong> der Zentrale zu den Muskeln in der Peripherie. Dabei sind die<br />

Bahnen der unwillkürlichen Motorik (EPM-System, Vorderstrang) und jene der<br />

willkürlichen Motorik (Pyramidenbahn, Seitenstrang) zu unterscheiden.<br />

Die drei Hauptfunktionen des Nervensystems<br />

Verbindung mit der Welt: Aufnahme, Verarbeitung, Beantwortung <strong>von</strong> Reizen.<br />

Das entspricht der sensorischen, zentralen und motorischen Informationsverarbeitung.<br />

Bemerkenswert ist, dass die sensorischen Funktionen <strong>zum</strong>eist dorsal<br />

(hinten), jedoch motorische Funktionen <strong>zum</strong>eist ventral (vorne) zu finden sind.<br />

Regulation der Organtätigkeit: vor allem durch das vegetative Nervensystem.<br />

Sitz des Bewusstseins: im Gehirn, insbesonders in der Großhirnrinde.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 31<br />

[1.1.4] Gehirn und Großhirn<br />

Von außen betrachtet scheint die Hauptmasse des Gehirns aus den beiden<br />

Großhirnhemisphären (linke und rechte Großhirnhalbkugel) zu bestehen, welche<br />

die übrigen <strong>Teil</strong>e so überwölben, dass diese <strong>von</strong> oben und <strong>von</strong> der Seite kaum<br />

sichtbar sind. Beide Halbkugeln sind durch die Längsfurche (Fissura longitudinalis<br />

cerebri) getrennt, die bis zu den querlaufenden Fasermassen des Balkens<br />

(Corpus callosum) herunterreicht. Der Balken enthält die Verbindungsbahnen der<br />

beiden Hirnhälften.<br />

Die Oberfläche des Großhirns zeigt erhabene Windungen (Gyrus). Dazwischen<br />

liegen Furchen (Sulcus). Diese Faltung bewirkt eine deutliche Vergrößerung der<br />

aktiven Oberfläche.<br />

Die großen Lappen der Großhirnrinde heißen nach ihrer Lage:<br />

• Stirnlappen (Lobus frontalis)<br />

• Scheitellappen (Lobus parietalis)<br />

• Schläfenlappen (Lobus temporalis)<br />

• Hinterhauptslappen (Lobus occipitalis)


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 32<br />

Die Lappengrenzen werden teilweise durch fest und tief ausgebildete Furchen<br />

markiert. So ist der Schläfenlappen durch die tiefe Seitenfurche (Sulcus lateralis<br />

oder Sylvius-Spalte) gegenüber Stirn- und Scheitellappen abgegrenzt. Zwischen<br />

Stirn- und Scheitellappen verläuft die Zentralfurche (Sulcus centralis). Dahinter<br />

liegt die hintere Zentralwindung (Gyrus postcentralis), davor die vordere Zentralwindung<br />

(Gyrus präcentralis). Der stark entwickelte Hinterhauptslappen grenzt<br />

sich mit dem Sulcus parietooccipitalis vom Scheitellappen ab. Drängt man linken<br />

und rechten Hinterhauptslappen auseinander, so kommt die Region der Calcarinafurche<br />

(sulcus calcarinus) <strong>zum</strong> Vorschein. Der Schläfenlappen lässt <strong>von</strong> außen<br />

eine obere, mittlere und untere Schläfenwindung erkennen. <strong>Ein</strong>en ähnlichen Verlauf<br />

dreier übereinander gelegener Windungen zeigt der Stirnlappen. In der Tiefe<br />

der Seitenfurche liegt die so genannte Insel (Lobus insularis). Unter dem Stirnlappen<br />

liegt das Riechhirn (Riechkolben, bulbus olfactorius).<br />

Die beiden Großhirnhemisphären besitzen mit der Hirnrinde (Cortex cerebri) eine<br />

gleichmäßig dicke Randschicht grauer Substanz (ca. 5 mm), die allen Windungen<br />

und Furchen der Oberfläche folgt. Die Cortex allein enthält ungefähr 20<br />

Milliarden Neuronen. Im Innern jeder Hemisphäre erstreckt sich eine geräumige,<br />

mit Hirn-Rückenmarks-Flüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) gefüllte Hirnkammer<br />

(linke und rechte Seitenventrikel). Zwischen diesen Hohlräumen und der Hirnrinde<br />

dehnt sich eine große Masse weißer Substanz, in die mehrere Kerngebiete,<br />

die so genannten Basalganglien, eingelagert sind. Die weiße Substanz (Hirnmark)<br />

setzt sich aus Faserbündeln (Bahnen) zusammen. Es handelt sich dabei um Assoziationsbahnen,<br />

Kommissurenbahnen und Projektionsbahnen.<br />

• Die Assoziationsbahnen sind Verbindungszüge, welche verschiedene <strong>Teil</strong>e der<br />

gleichen Großhirnhemisphäre verknüpfen.<br />

• Kommissurenbahnen verbinden einander entsprechende <strong>Teil</strong>e beider Hemisphären.<br />

Sie sind unter der Längsfurche in der Mitte zwischen den Hemisphären<br />

zu einer Nervenfaserplatte, dem Balken (Corpus callosum), zusammengedrängt.<br />

• Das Großhirn steht durch seine rindenwärts (afferent) und rückenmarkwärts<br />

(efferent) ziehenden Fernbahnen oder Projektionsbahnen mit dem ganzen Organismus<br />

in wechselseitiger Verbindung. Die Projektionsbahnen durchlaufen ziemlich<br />

geschlossen die innere Kapsel (Capsula interna).<br />

Die großen subcortikal (unter der Hirnrinde) gelegenen Kerngebiete der Hemisphären<br />

heißen Basalganglien. Sie grenzen an die Seitenventrikeln. Man unterscheidet<br />

verschiedene Komponenten: den bogenförmig mit dem Seitenventrikel<br />

verlaufenden Schweifkern (Nucleus caudatus), den keilförmigen Linsenkern<br />

(Nucleus lentiformis) und den lateralen Schalenkern (Putamen). Diese Kerngebiete<br />

werden auch als Streifenkörper (Striatum) bezeichnet.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 33<br />

Schließlich muss noch der mediale bleiche Kern (Pallidum) erwähnt werden, der<br />

auch schon <strong>zum</strong> Zwischenhirn gezählt wird. Auch die Vormauer (Claustrum)<br />

wird zu den Basalganglien gerechnet.<br />

Zusammen mit Kerngebieten des Hirnstamms (den Stammganglien im Mittelhirn)<br />

sind die Basalganglien vor allem für die unbewusst ablaufende Bewegungskontrolle<br />

sehr wichtig. Zwischen dem Linsenkern, dem Schweifkern sowie dem<br />

Thalamus des Zwischenhirns verlaufen die Nervenfaserbündel der inneren Kapsel<br />

(Capsula interna). Hierbei handelt es sich um Projektionsbahnen, wie die<br />

Pyramidenbahn und die extrapyramidalen Bahnen.<br />

<strong>Ein</strong> sehr interessantes Gebiet an der Basis des Großhirns an der Grenze <strong>zum</strong><br />

Zwischenhirn ist das limbische System, welches den Balken saumförmig umgibt<br />

(limbus = Saum). Die wichtigsten Strukturen da<strong>von</strong> sind der Mandelkern<br />

(Amygdala), der Hippocampus und der Gyrus cinguli. Der Fornix ist ein dickes<br />

Nervenbündel, das die <strong>Teil</strong>e des limbischen Systems miteinander verknüpft. Es<br />

bestehen starke Verbindungen mit Bereichen des Thalamus, des Hypothalamus<br />

und der Großhirnrinde. Das limbische System spielt eine entscheidende Rolle bei<br />

der Entstehung <strong>von</strong> Gefühlen (emotionale Bewertung <strong>von</strong> sensorischen<br />

Erregungen). So konnten dort Lust-, Furcht- und Wut-Zentren lokalisiert werden.<br />

Forschungen haben gezeigt, dass der Hippocampus (Seepferdchen) für die <strong>Ein</strong>speicherung<br />

<strong>von</strong> Erregungen (Lernen, Gedächtnis) eine wichtige Funktion ausübt.<br />

Der komplexe Bau des Zentralnervensystems ist am Beispiel der Großhirnrinde<br />

besonders eindrucksvoll zu veranschaulichen. Die Rindensubstanz besteht aus<br />

sechs oberflächenparallelen, gut abgrenzbaren Schichten, die sich durch Art und<br />

Anordnung der Nervenzellen und Nervenzellfortsätze unterscheiden (z.B. die<br />

großen Pyramidenzellen). Die Anteile dieser Schichten in den einzelnen Arealen<br />

der Hirnrinde sind unterschiedlich, was auch verschiedenen Funktionen der Rinde<br />

entspricht. So heben sich Rindenfelder strukturell und funktionell <strong>von</strong>einander ab.<br />

Es muss zwischen sensorischen und motorischen Arealen unterschieden werden.<br />

Erstere liegen dorsal hinter der Zentralfurche (z.B. in der hinteren Zentralwindung).<br />

Sie verarbeiten die, <strong>von</strong> den Rezeptoren über aufsteigende Bahnen<br />

einlangenden sensorischen Erregungen zu bewussten Wahrnehmungen. Zweitere<br />

liegen ventral vor der Zentralfurche (z.B. in der vorderen Zentralwindung). Sie<br />

erzeugen für eine willkürlich beabsichtigte Bewegung jene Erregungsmuster, die<br />

über absteigende Leitungsbahnen (Pyramidenbahn) die entsprechenden Muskeln<br />

steuern. In den beiden Rindenbereichen sind sämtliche Regionen des Körpers<br />

repräsentiert (Homunculus-Projektion). Außerdem muss noch zwischen primären<br />

und sekundären Arealen unterschieden werden. Letztere enthalten so genannte<br />

Erinnerungsspuren <strong>von</strong> den primären sensorischen und motorischen Erregungsmustern<br />

und dienen auch zu deren Verknüpfung (Assoziationsfelder).


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 34<br />

<strong>Ein</strong>ige wichtige primäre sensorische und motorische Rindenfelder:<br />

1. Primäres Sehzentrum<br />

Ort : Sulcus calcarinus im Hinterhauptslappen<br />

Funktion : Umsetzung <strong>von</strong> Erregungen des Sehnervs in bewusste, optische<br />

Empfindungen<br />

Ausfall : Rindenblindheit (trotz Funktionstüchtigkeit <strong>von</strong> Auge und Sehnerv)<br />

2. Primäres Hörzentrum<br />

Ort : Heschlsche Querwindung im Schläfenlappen<br />

Funktion : Umsetzung <strong>von</strong> Erregungen des Hörnervs in bewusste, auditive<br />

Empfindungen<br />

Ausfall : Rindentaubheit (trotz Funktionstüchtigkeit <strong>von</strong> Ohr und Hörnerv)<br />

3. Primäre Hautsensibilität<br />

Ort : Abschnitte des Gyrus postcentralis hinter der Zentralfurche<br />

Funktion : Umsetzung <strong>von</strong> sensorischen Erregungen in bewusste Haut-<br />

empfindungen<br />

Ausfall : Empfindungslosigkeit in den entsprechenden Projektionsgebieten<br />

4. Primäre willkürliche Körpermotorik<br />

Ort : Abschnitte des Gyrus präcentralis vor der Zentralfurche<br />

Funktion : Bewusste Erzeugung <strong>von</strong> motorischen Erregungen für Muskel-<br />

bewegungen<br />

Ausfall : Bewegungsstörungen bestimmter Muskelgruppen (Apraxien)<br />

<strong>Ein</strong>ige wichtige sekundäre Rindenfelder (Assoziationsfelder):<br />

1. Optisches Assoziationsfeld<br />

Ort : Gyrus angularis, hinten im Schläfenlappen<br />

Funktion : Engramme (Erinnerungsspuren) <strong>von</strong> visuellen Signalmustern<br />

Ausfall : Alexie, Unfähigkeit zu Lesen<br />

2. Auditives Assoziationsfeld<br />

Ort : Wernikesche Sprachregion, hinten im Schläfenlappen<br />

Funktion : Engramme <strong>von</strong> akustischen Signalmustern<br />

Ausfall : Sensorische Aphasie, Unfähigkeit <strong>zum</strong> Wortverstehen<br />

3. Sprachmotorisches Assoziationsfeld<br />

Ort : Brocasche Sprachregion, seitlich hinten im Stirnlappen<br />

Funktion : Engramme <strong>von</strong> motorischen Wort- und Satzmustern<br />

Ausfall : Motorische Aphasie, Unfähigkeit <strong>zum</strong> sinnvollen Sprechen


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 35<br />

4. Schreibmotorisches Assoziationsfeld<br />

Ort : Vor dem Gyrus präcentralis<br />

Funktion : Engramme <strong>von</strong> koordinierten Schreibbewegungen der Hände<br />

Ausfall : Agraphie, Unfähigkeit <strong>zum</strong> sinnvollen Schreiben<br />

Mittels verschiedener moderner Lokalisationstechniken wurde die Kartierung des<br />

Cortex in den letzten Jahrzehnten sehr verfeinert. Interessant sind die Areale im<br />

Stirnlappen. Dieser präfrontale Cortex erhält seine Zuleitungen (Afferenzen)<br />

hauptsächlich <strong>von</strong> unspezifischen Thalamus-Kernen und hat ausgedehnte reziproke<br />

Verbindungen mit verschiedenen <strong>Teil</strong>en des limbischen Systems (Hippocampus,<br />

Amygdala) und Hypothalamus.<br />

Während Hypothalamus und limbisches System für Triebe und Gefühle verantwortlich<br />

sind, erweist sich der Stirnlappen als die oberste cortikale Kontrollinstanz<br />

für triebhafte und emotionale Verhaltensweisen. Individuen mit Stirnhirnläsionen<br />

zeigen dementsprechend auch auffällige Störungen im Sozialverhalten<br />

und oftmals eine allgemeine Antriebslosigkeit.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 36<br />

[1.1.5] Sensorisches und motorisches System<br />

In der Abbildung ist die hintere Zentralwindung dargestellt, wo die Körperzonen<br />

des Menschen repräsentiert sind.<br />

Das sensorische Nervensystem leitet Signale <strong>von</strong> den Sinnesorganen in der<br />

Körperperipherie über das Rückenmark und den Hirnstamm bis in die primär<br />

sensorischen Felder der Großhirnrinde (Cortex). Dort entstehen bewusste Sinnesempfindungen.<br />

<strong>Ein</strong>e wichtige Zwischenstation vor der Cortex ist der Thalamus<br />

(Sehhügel) im Zwischenhirn, der mit vielen anderen Hirnteilen verbunden ist.<br />

Grundsätzlich gibt es drei Arten <strong>von</strong> Neuronen: (a) Die sensorischen Neuronen,<br />

deren Zellen direkt außerhalb des Rückenmarks in den hinteren Nervenwurzeln<br />

liegen. Sie erhalten Signale <strong>von</strong> den Sinnesorganen und leiten sie weiter ins ZNS.<br />

(b) Die motorischen Neuronen (Motoneuronen) befinden sich in verschiedenen<br />

Regionen <strong>von</strong> Gehirn und Rückenmark. Ihre Axone ziehen zu den Muskeln und<br />

steuern dort über die motorischen Endplatten die Kontraktion der Muskelfasern.<br />

(c) Die Interneuronen sind zwischen sensorischen und motorischen Neuronen geschaltet<br />

und machen 90 % aller Nervenzellen aus. In ihnen kommt es zur spezifischen<br />

Verarbeitung der Signale (entweder verstärkend oder abschwächend). Sie<br />

sind als Zwischenschichten in neuronalen Netzen zu finden, beispielsweise in der<br />

Netzhaut des Auges, wo sie u.a. die so genannte laterale Inhibition bewirken.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 37<br />

In der Abbildung ist die vordere Zentralwindung dargestellt, wo die Körperzonen<br />

des Menschen repräsentiert sind.<br />

Das motorische Nervensystem mit seinen Motoneuronen steuert die Kontraktion<br />

der Muskelfasern der quergestreiften Skelettmuskulatur. Die unbewusste Stütz-<br />

und Haltemotorik wird mit Reflexen über Rückenmark und Kleinhirn reguliert.<br />

Die bewusste Zielmotorik hingegen hat ihren Ursprung in der vorderen Zentralwindung<br />

der Großhirnrinde, wo die einzelnen Körperbereiche des Menschen<br />

repräsentiert sind, wo die dicke Pyramidenbahn beginnt, welche über das<br />

Rückenmark zur Muskulatur zieht. Die unwillkürliche Körpermotorik wird über<br />

extrapyramidale Bahnen (EPM) gesteuert.<br />

Neben der quergestreiften Skelettmuskulatur gibt es noch die glatte Muskulatur<br />

als Wandauskleidung <strong>von</strong> Blutgefäßen und inneren Hohlorganen. Ihre Steuerung<br />

erfolgt autonom über das vegetative Nervensystem. Das gilt auch für die Spezialmuskulatur<br />

der Herzens.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 38<br />

Die obere Abbildung zeigt das Rückenmark mit den Nervenwurzeln der Körpernerven.<br />

Die untere Abbildung zeigt einen typischen Reflexbogen.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 39<br />

[1.1.6] Das vegetative Nervensystem<br />

Das vegetative Nervensystem reguliert autonom die Tätigkeit der inneren Organe.<br />

Oberste Steuerungszentrale ist der Hypothalamus. Das vegetative Nervensystem<br />

besteht aus zwei Gegenspielern. Der Sympathikus ist der Nerv der Spannung und<br />

Unruhe (fördert Kreislauf-Funktionen, "fight or flight"). Wichtige Ursprungszellen<br />

liegen im Rückenmark und seine Fasern verlaufen über den Grenzstrang<br />

links und rechts vom Rückenmark. Der Parasympathikus ist der Nerv der Entspannung<br />

und Ruhe (fördert Verdauungs-Funktionen, "feed or breed"). Wichtige<br />

Ursprungszellen liegen im Hirnstamm und im craniosakralen Rückenmark. Die<br />

Abbildung zeigt die Wirkungen des vegetativen Systems auf einzelne Organe.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 40<br />

Die vegetativen Reflexbögen beginnen in den Rezeptoren (Mechano-, Thermo-,<br />

Chemo- und Schmerzsensoren) der glatten Muskulatur in der Wand eines inneren<br />

Hohlorgans. Der afferente Neurit führt <strong>zum</strong> sensorischen Neuron im Spinalganglion.<br />

Die Erregung wird weitergeführt über die Hinterwurzel in das Hinterhorn<br />

des Rückenmarkes. Dort erfolgt die Umschaltung auf das erste vegetative<br />

Neuron im Seitenhorn. Dessen efferenter Neurit (präganglionär) zieht über die<br />

Vorderwurzel aus dem Rückenmark zu einem vegetativen Ganglion (Nervenzellengruppe),<br />

wo die Weiterschaltung auf das zweite vegetative Neuron erfolgt<br />

(postganglionär). Sein efferenter Neurit zieht nun direkt zur Zielzelle des Erfolgsorganes<br />

(glatte Muskelfaser, Spezialmuskulatur des Herzens, Drüsenzelle).<br />

Im Gegensatz zu den Motoneuronen des zentralen Nervensystems können<br />

vegetative Signale in den Zielzellen sowohl hemmend (inhibitorisch) als auch<br />

anregend (exzitatorisch) wirken. Die Reaktion der Zielzelle hängt vom jeweiligen<br />

Erfolgsorgan ab, ist also weitgehend organspezifisch. Zur Erregungsübertragung<br />

vom postganglionären Nervenende auf die Zielzelle werden bestimmte Transmitterstoffe<br />

benötigt, die durch chemische Bindung an spezifischen Membranrezeptoren<br />

der Zielzelle die entsprechende Aktion auslösen (z.B. Aktionspotentiale<br />

zur Muskelfaserverkürzung). Damit ist der vegetative Reflexbogen abgeschlossen.<br />

Der Transmitter im präganglionären Neuron ist Acetylcholin. Die Transmitter im<br />

postganglionären Neuron sind Noradrenalin oder Adrenalin.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 41<br />

[1.1.7] Das Hormonsystem<br />

Hypophyse und untergeordnete Hormondrüsen<br />

Hormone sind chemische Botenstoffe, welche in Senderzellen erzeugt werden<br />

und dann über den Blutweg auf Empfängerzellen einwirken. Die Steuerung erfolgt<br />

nach dem Regelkreisprinzip (feed back): Das Hormon regt die Empfängerzelle<br />

zur Produktion eines bestimmten Wirkstoffes an. Dieser gelangt über das<br />

Blut zurück zur Senderzelle und hemmt dort die weitere Erzeugung des Hormons.<br />

Das führt wiederum dazu, dass die Empfängerzelle weniger Wirkstoff produziert.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 42<br />

Die Übersichttafel enthält alle wichtigen Hormone – ausgenommen der Sexualhormone.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 43<br />

Die hormonale Regelung der Geschlechtsfunktionen<br />

Hypothalamus und Hypophyse regeln die Spermatogenese (Samenzellenreifung)<br />

in den Hoden des Mannes und die Oogenese (Eizellenreifung) in den Eierstöcken<br />

der Frau. Das so genannte follikelstimulierende Hormon (FSH) des Hypophysenvorderlappens<br />

fördert direkt Keimzellenbildung und -reifung. Es ist, wie auch die<br />

anderen hypophysären Hormone, bei beiden Geschlechtern gleich. <strong>Ein</strong> weiteres<br />

auf die Keimdrüsen wirkendes Hormon des Hypophysenvorderlappens ist das<br />

luteinisierende Hormon (LH). LH und FSH werden als Gonadotropine bezeichnet,<br />

weil sie auf die Geschlechtsdrüsen (Gonaden) wirken. Das Gonadotropin-<br />

Releasing-Hormon (GnRH) des übergeordneten Hypothalamus steigert Produktion<br />

und Freisetzung der Gonadotropine in der Hypophyse.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 44<br />

Beim Mann verstärkt das LH die Testosteronbildung in den Leydig-Zwischenzellen<br />

im Nebenhoden, welche als Zellgruppen zwischen den Samenkanälchen<br />

liegen. Die Produktion und Freisetzung <strong>von</strong> Testosteron durch den Hoden erfolgt<br />

mithilfe eines Regelkreises, an dem Hypothalamus und Hypophyse beteiligt sind.<br />

Dabei werden durch einen Abfall <strong>von</strong> Testosteron im Blut zunächst das<br />

Gonadotropin-Releasing-Hormon im Hypthalamus und dann die Gonadotropine<br />

(LH, FSH) des Hypophysenvorderlappens vermehrt ausgeschüttet, was dann zur<br />

Steigerung der Testosteronbildung im Hoden führt. Testosteron wird außer im<br />

Hoden auch in der Nebennierenrinde sowie im Eierstock der Frau und in der<br />

Leber gebildet. Es steuert entscheidend die Entwicklung der männlichen<br />

Geschlechtsmerkmale, beeinflusst die sexuelle Aktivität und hat darüber hinaus<br />

anabolische Stoffwechselwirkungen (Proteinaufbau und damit Zunahme der<br />

Muskulatur).<br />

Bei der Frau stimulieren FSH und LH gemeinsam die Produktion der beiden<br />

Hormone Östrogen und Progesteron durch den Eierstock. Östrogen beeinflusst<br />

maßgeblich die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale in der Pubertät.<br />

Dazu gehören Wachstum der Brust und die geschlechtsspezifische Verteilung <strong>von</strong><br />

Unterhautfettgewebe. Beginnend mit der Pubertät (12. bis 15. Lebensjahr) reifen<br />

in den Eierstöcken die ersten Eizellen. Nach dem ersten Eisprung kommt es zur<br />

ersten Regelblutung, der Menarche. Danach stellt sich allmählich ein regelmäßiger<br />

Menstrualzyklus <strong>von</strong> ungefähr 28 Tagen ein. Der erste Tag der monatlichen<br />

Regelblutung (Menstruation) ist als erster Tag des Zyklus festgelegt. Der<br />

Zyklus entsteht durch ein kompliziertes Zusammenspiel verschiedener Hormone<br />

und Organe. Er besteht aus:<br />

• Follikelphase (l. bis 12. Tag)<br />

• Ovulationsphase (l3. bis 15. Tag)<br />

• Lutealphase (l6. bis 28. Tag)<br />

Jede dieser Phasen ist durch charakteristische Hormonspiegel im Blut und<br />

Veränderungen in verschiedenen Organen (insbesonders in Ovar und Uterus, also<br />

in Eierstock und Gebärmutter) gekennzeichnet.<br />

• Follikelphase: Zu Beginn der Follikelphase kommt es zur Menstruation. Diese<br />

beruht auf einer Abstoßung (Desquamation) eines großen <strong>Teil</strong>s der Gebärmutterschleimhaut<br />

(Endometrium). Sie tritt immer dann ein, wenn die aus dem<br />

Eierstock freigesetzte Eizelle nicht befruchtet wird. Zu dieser Zeit steigt die FSH-<br />

Ausschüttung der Hypophyse an. Dies führt zu einer beschleunigten Follikelreifung<br />

und der Oogenese im Ovar mit gleichzeitiger Erhöhung der Östrogenproduktion<br />

durch die Granulosazellen der Follikel. Dabei reift jener Follikel, der<br />

am meisten FSH bindet und am meisten Östrogen produziert, <strong>zum</strong> sprungreifen<br />

Follikel (dominanter Follikel) heran.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 45<br />

Unter <strong>Ein</strong>fluss <strong>von</strong> Östrogen regeneriert die Schleimhaut der Gebärmutter durch<br />

Wucherung (Proliferation) <strong>von</strong> Bindegewebe, Drüsenschläuchen und Gefäßen<br />

(Proliferationsphase).<br />

• Ovulationsphase: Der in der Follikelphase steigende Östrogenspiegel unterdrückt<br />

die FSH-Freisetzung der Hypophyse (negatives Feed-back) und fördert<br />

andererseits dort die LH-Produktion (positives Feed-back). Bei einem bestimmten<br />

Konzentrationsverhältnis <strong>von</strong> FSH zu LH erfolgt dann der Eisprung, wobei der<br />

Follikel platzt und die reife Eizelle im Eileiter abwärts zur Gebärmutter wandert.<br />

In dieser Phase beginnt die Erzeugung <strong>von</strong> Progesteron (Gestagen) durch den<br />

geplatzten Follikel, während die Östrogenausschüttung absinkt.<br />

• Lutealphase: Nach dem Eisprung wandelt sich der zurückbleibende Follikelrest<br />

unter <strong>Ein</strong>fluss <strong>von</strong> LH <strong>zum</strong> Gelbkörper (Corpus luteum). Er setzt steigende<br />

Mengen <strong>von</strong> Progesteron frei. Dieses Hormon verändert die Uterusschleimhaut.<br />

Die Drüsenschläuche verlängern sich und beginnen zu sezernieren (Sekretionsphase).<br />

Die Schleimhaut wird damit für die <strong>Ein</strong>nistung einer befruchteten Eizelle<br />

vorbereitet. Progesteron führt in dieser Phase auch zu einem Anstieg der<br />

Körpertemperatur um etwa 0,5°C (Basaltemperatur) sowie durch Wassereinlagerungen<br />

zu einer Erhöhung des Körpergewichts.<br />

Bleibt eine Befruchtung aus, so kommt es gegen Ende der Lutealphase zu einer<br />

Rückentwicklung des Gelbkörpers und zu einer <strong>Ein</strong>stellung der Progesteronausschüttung.<br />

In der Gebärmutter wird die äußere Schicht der Schleimhaut abgestoßen<br />

(Menstrualblutung).<br />

Durch anhaltende Erhöhung der Östrogen- und Progesteronkonzentration lässt<br />

sich die Freisetzung <strong>von</strong> GnRH des Hypothalamus und Gonadotropinen (LH,<br />

FSH) der Hypophyse hemmen und damit auch ein Eisprung im Eierstock unterbinden.<br />

Durch diese hormonale Ovulationshemmung kann eine Empfängnis<br />

(Konzeption) verhindert werden. Dazu nimmt die Frau über einen meist 28tägigen<br />

Zyklus Östrogen und Progesteron täglich in Form <strong>von</strong> Pillen ein (Antibaby-Pille).<br />

Zwischendurch wird die Hormoneinnahme kurzzeitig unterbrochen,<br />

sodass es zu einer Abstoßung der aufgebauten Gebärmutterschleimhaut (Abbruchblutung)<br />

kommt. Danach wird die künstliche Hormonzufuhr wieder fortgesetzt.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 46<br />

[1.1.8] Informationsflüsse im Nervensystem<br />

(1) Reflexe und Instinktbewegungen:<br />

Rezeptoren - unbewusste Zentren (Hirnstamm, Rückenmark) - Effektoren.<br />

(2) Wahrnehmung und willkürliches Handeln:<br />

Rezeptoren - bewusste Zentren (Großhirnrinde) - Effektoren (Muskeln).<br />

(3) Gedächtnis, Denken und Motivation:<br />

Informationsfluss zwischen unbewussten und bewussten Zentren.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 47<br />

Wichtige Stationen und Bahnen zwischen Peripherie und Zentrum<br />

• Reizaufnahme und Signalerzeugung in den Sinnesorganen.<br />

• Reflexe zur unbewussten, schnellen Reizbeantwortung im Rückenmark.<br />

• Aufsteigende sensorische Nervenbahnen im Rückenmark.<br />

• Triebzentren zur Lebenserhaltung im Stammhirn.<br />

• Emotionale Reizbewertung im Zwischenhirn und limbischen System.<br />

• Filterung der sensorischen Erregungen durch Motive (Triebe, Emotionen).<br />

• Bewusste Informationsverarbeitung in der Großhirnrinde.<br />

• Leitung der bewussten, willkürlichen Motorik über die Pyramidenbahn.<br />

• Leitung der unbewussten Motorik über das extrapyramidale System.<br />

• Motorische Reaktion (Kontraktion) der Muskeln.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 48<br />

[1.1.9] Der Weg <strong>zum</strong> Bewusstsein<br />

Nur adäquate Reize lösen in den Sinnesorganen elektrochemische Erregungen aus<br />

(erster Filter). Diese sensorischen Signale gelangen über aufsteigende Nervenbahnen<br />

in den Thalamus im Zwischenhirn.<br />

Zugleich fließen die sensorischen Signale auch <strong>zum</strong> Hypothalamus und <strong>zum</strong><br />

limbischen System und erregen dort jene Nervenzentren, in denen Triebe und<br />

Gefühle entstehen. Damit kommt es zu einer unbewussten (bzw. vorbewussten)<br />

emotionalen Bewertung der sensorischen Inputs. Diese Zentren senden ihrerseits<br />

Steuersignale <strong>zum</strong> Thalamus, wobei es zu einer neuerlichen Auswahl kommen<br />

kann (zweiter Filter).<br />

Die nunmehr gefilterten und emotional bewerteten sensorischen Inputs fließen<br />

vom Thalamus aufwärts in die entsprechenden Wahrnehmungszentren in der<br />

Großhirnrinde (Cortex). Gleichzeitig werden Erinnerungsspuren aktiviert. Erst<br />

hier in der Rinde des Großhirns entsteht Bewusstsein, d.h. ein bewusstes Wahrnehmungserlebnis.<br />

Unspezifische Wachheit<br />

Bewusste Erlebnisse in der Cortex sind nur dann möglich, wenn unspezifische<br />

Erregungen die Cortex aktivieren. Diese beginnen in einem netzartigen Nervengeflecht<br />

im verlängerten Rückenmark (formatio reticularis) und steigen über<br />

Mittelhirn und Thalamus zur Cortex auf (ARAS, aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem).<br />

Das ARAS wird durch sensorische Inputs eingeschaltet und bewirkt eine<br />

unspezifische Wachheit des Gehirns. Erst durch diese Aktivierung kann die<br />

Cortex spezifische Sinnesqualitäten (Qualia) bewusst erleben.<br />

<strong>Ein</strong>e durch einoperierte Sonden erfolgte Ausschaltung des ARAS führt bei<br />

wachen Versuchstieren zur sofortigen Bewusstlosigkeit. <strong>Ein</strong>e künstliche Elektrostimulation<br />

des ARAS führt bei schlafenden Versuchstieren <strong>zum</strong> sofortigen Aufwachen.<br />

Der Thalamus im Zwischenhirn ist ein außerordentlich wichtiger <strong>Teil</strong> des<br />

Gehirns. <strong>Ein</strong>erseits strömen dort alle sensorischen Inputs <strong>von</strong> der Körperperipherie<br />

ein, aber auch Signale vom limbischen System und vom Hypothalamus.<br />

Auf diese Weise erfolgt eine unbewusste emotionale Bewertung der<br />

Inputs. Der Thalamus kann als das Vorzimmer <strong>zum</strong> Bewusstsein angesehen<br />

werden.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 49<br />

Selektive Aufmerksamkeit und Bewusstsein als Systemfunktionen<br />

In den Thalamus als Vorzimmer der Hirnrinde münden auch absteigende Bahnen<br />

vom Stirnlappen der Hirnrinde. Über diese Leitungen erfolgt die Steuerung der<br />

selektiven Aufmerksamkeit, welche auf die zu den primären Rindenzentren aufsteigenden<br />

sensorischen Inputs einwirkt. Unter der selektiven Aufmerksamkeit<br />

versteht man die bewusste <strong>Ein</strong>engung der Wahrnehmung auf bestimmte Inhalte.<br />

Die meisten Prozesse der Informationsverarbeitung im Nervensystem sind nicht<br />

bewusst (unbewusst), z.B. Reizaufnahme und Signalerzeugung in Sinnesorganen,<br />

Erkennen <strong>von</strong> Mustern (Gestalten), die emotionale Bewertung der sensorischen<br />

Signale, direkte und einfache motorische Reizbeantwortungen, usw. Bewusst<br />

hingegen sind die gefilterten Wahrnehmungen, neu zu erlernendes Verhalten, das<br />

Nachdenken und Entscheiden bei schwierigen Handlungsalternativen, usw.<br />

Wirft man drei Holzstäbe (z.B. <strong>von</strong> einem Mikadospiel) in die Luft, so fallen sie<br />

in einer zufälligen Anordnung zurück auf den Tisch. Ordnen sie sich dabei in der<br />

Gestalt eines Dreiecks an, dann treten neue Strukturmerkmale auf, die vorher<br />

nicht zu bemerken waren: z.B. Winkel oder Fläche. Jeder muss wohl zugeben,<br />

dass es völlig unsinnig ist, <strong>von</strong> einem Winkel eines einzelnen Stabes zu sprechen.<br />

Das System (Ganzheit), in unserem Beispiel das Dreieck, ist mehr als die Summe<br />

seiner <strong>Ein</strong>zelteile (Übersummativität). Aus den Interaktionen der <strong>Teil</strong>e resultieren<br />

neue Systemmerkmale.<br />

In diesem Sinne kann das Bewusstsein als ein ganzheitliches Funktionsmerkmal<br />

des zentralen Nervensystems verstanden werden. Bewusste Erlebnisse entstehen<br />

erst dadurch, dass sich Milliarden <strong>von</strong> Nervenzellen des Gehirns im Laufe der<br />

Evolution in einer besonderen Weise anordnen, vernetzen und interagieren.<br />

Über dieses primäre Bewusstsein hinausgehend hat das Gehirn noch die Möglichkeit<br />

der Selbstbewusstheit, d.h. es kann ein Protokoll über die in ihm laufenden<br />

bewussten Prozesse der Informationsverarbeitung führen, also ein Modell des<br />

eigenen Bewusstseins entwerfen (Reflexivität). Dieses sekundäre Bewusstsein<br />

bildet sich aber erst im Dialog mit anderen Gehirnen ("Ich weiß, dass Du weißt,<br />

dass Ich fühle .......... "). Das Bewusstsein kann sich nur durch Wechselwirkung<br />

mit anderen Gehirnen entwickeln. Damit wird aber Bewusstsein zu einem <strong>Teil</strong><br />

des sozialen Miteinanders. Und mehr noch: Weil die am Dialog mit dem<br />

werdenden Gehirn teilhabenden Bezugspersonen (Eltern, Lehrer usw.) ihrerseits<br />

wieder stark <strong>von</strong> der Gesellschaft und der Kultur, in der sie leben, geprägt sind,<br />

erhält das Bewusstsein zur sozialen noch zusätzlich eine historische Dimension.<br />

Höheres Bewusstsein (Wahrnehmen, Analysieren und Bewerten des eigenen<br />

Bewusstseins) wird in dieser Sicht zu einem Entwicklungsprodukt nicht nur der<br />

biologischen, sondern auch der kulturellen Evolution.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 50<br />

[1.1.10] Das Erkenntnisproblem "Bewusstsein"<br />

<strong>Ein</strong>e Grunderfahrung ist, dass wir uns als ein wahrnehmendes, bewertendes, entscheidendes,<br />

handelndes <strong>ICH</strong> erleben, dem ein freier Wille zugesprochen wird,<br />

der allen neuronalen Verarbeitungsprozessen vorangeht. Wir glauben an einer<br />

immateriellen (geistigen) Dimension teilzuhaben, die <strong>von</strong> den Phänomenen der<br />

dinglichen Welt gänzlich verschieden ist. Die immateriellen Erlebnisse unseres<br />

Gehirns scheinen uns genau so real zu sein wie die Phänomene der materiellen<br />

Außenwelt.<br />

<strong>Ein</strong>erseits begreifen wir uns selbst als beseelte Wesen – andererseits erkennen<br />

wir, dass wir ein <strong>Teil</strong> der materiellen Natur sind, die sich evolutionär entwickelt,<br />

und welche mit einer objektiven, naturwissenschaftlichen Beschreibungssprache<br />

erklärt werden kann.<br />

Der so genannte Dualismus ist eine philosophische Theorie, welche die Existenz<br />

<strong>von</strong> zwei einander ausschließlichen Erscheinungsformen annimmt, eine immaterielle<br />

und eine materielle Welt. Sein wichtigster Vertreter war wohl René<br />

Descartes mit seinen "res cogitans" und "res extensa". Von ihm stammt auch der<br />

berühmte Satz "cogito, ergo sum" (ich denke, daher bin ich). Dieser Satz ist die<br />

Meinung des Rationalismus, welcher der geistigen Welt den Vorrang gibt vor der<br />

realen materiellen Welt.<br />

Der Dualismus hat ein Hauptproblem, nämlich das Zusammenwirken <strong>von</strong> Geist<br />

und Materie zu erklären. Wie, wo und wann wird der Körper beseelt? Ist das bei<br />

der Befruchtung, bei der Geburt oder erst in späteren Entwicklungsphasen?<br />

Die empirischen Naturwissenschaften gehen zunächst <strong>von</strong> einer materiellen Welt<br />

<strong>von</strong> objektiv beobachtbaren und messbaren Dingen aus. Die Biologie, besonders<br />

die klassische Verhaltensforschung, beobachtet das Verhalten <strong>von</strong> Tieren und<br />

versteht es als determiniert durch die genetische Organisation des jeweiligen<br />

Nervensystems und durch die individuelle Lerngeschichte, d.h. durch die Reizkonstellationen<br />

der jeweiligen Umwelt. Die verfeinerten Messmethoden der<br />

modernen Neurobiologie ermöglichen es, auch die höheren kognitiven Leistungen<br />

komplexer Gehirne objektiv darzustellen und zu analysieren. Das sind vor allem:<br />

Reize wahrnehmen und erinnern, mit selektiver Aufmerksamkeit bestimmte Reize<br />

filtern und andere unterdrücken, zwischen verschiedenen Reaktionsoptionen entscheiden,<br />

Belohnungen und Bestrafungen erkennen, soziale Bindungen herstellen<br />

und diese mit Affekten aufladen, Emotionen erleben, usw. Alle diese kognitiven<br />

Leistungen werden heute als emergente Funktionen <strong>von</strong> komplexen neuronalen<br />

Vorgängen verstanden, d.h. sie werden mit den physikalisch-chemischen Interaktionen<br />

in den Nervennetzen zwar nicht gleichgesetzt, aber sie gehen kausal<br />

erklärbar aus diesen hervor.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 51<br />

Die modernen Neurowissenschaften sehen sich drei Hauptfragen gegenüber, <strong>von</strong><br />

denen der Dualismus behauptet, dass sie aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht<br />

beantwortet werden können.<br />

(1) Wie ist die so genannte Qualia erklärbar? Darunter versteht man die spezifische<br />

Qualität subjektiver Sinnesempfindungen, beispielsweise die Farbqualität<br />

<strong>von</strong> "Blau" oder den Geschmack <strong>von</strong> "Süß" oder den unverwechselbaren Klang<br />

eines Saxophons.<br />

(2) Wie ist Selbstbewusstheit (Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion) möglich?<br />

Darunter versteht man die Grunderfahrung, dass wir uns selbst als ein wahrnehmendes,<br />

bewertendes, entscheidendes und handelndes <strong>ICH</strong> wahrnehmen. Unser<br />

Bewusstsein konstruiert ein Modell <strong>von</strong> sich selbst.<br />

(3) Wie kann der intuitive Glaube an den eigenen freien Willen erklärt werden?<br />

Darunter versteht man die grundsätzlich freie Entscheidungsmöglichkeit für verschiedene<br />

Handlungsalternativen.<br />

Im Folgenden werden wissenschaftliche Erklärversuche dieser drei Phänomene<br />

(Qualia, Selbstreflexion und Willensfreiheit) vorgestellt.<br />

(ad 1) Der Neurobiologe Francisco Varela führte folgendes Experiment durch: Er<br />

bat Versuchspersonen (Vpn) Schwarz-Weiß-Bilder anzuschauen, <strong>von</strong> denen<br />

einige Profilansichten <strong>von</strong> Gesichtern darstellten. Während die Vpn versuchten,<br />

in diesen Bildern Gestalten zu erkennen, wurden mit einem dichten Netz <strong>von</strong><br />

Elektroden Hirnströme gemessen. Die Vpn mussten durch Drücken einer Taste<br />

angeben, ob sie ein Gesicht erkannt hatten. Jedes Mal, wenn dies der Fall war,<br />

wurden über den Hirnrindenarealen, welche sich mit dem Sehen befassen, kurzfristige<br />

(einige Zehntel-Sekunden andauernde) hochsynchrone Wellen mit einer<br />

Frequenz <strong>von</strong> etwa 40 Hertz registriert. Dies war nicht der Fall, wenn die Vpn die<br />

vorgelegten Bilder nicht als Gesichter identifizieren konnten.<br />

Wenn sensorische Inputs zu einer bewussten Wahrnehmung zusammengefügt<br />

(rekonstruiert) werden, dann synchronisieren jene Neuronen, die sich in der Hirnrinde<br />

mit der Verarbeitung dieser Inputs befassen, ihre Entladungen über kurze<br />

Zeitspannen. Die zeitlich koordinierte Aktivität einer sehr großen Anzahl <strong>von</strong><br />

räumlich verteilten Nervenzellen charakterisiert somit eine bewusste Sinnesempfindung<br />

und ist damit das neurophysiologische Korrelat der Qualia.<br />

Unser Sinnessystem liefert oft nur unvollständige und lückenhafte Informationen<br />

an die Großhirnrinde. In diesen Fällen vervollständigt und ergänzt unser Gehirn<br />

mit Hilfe <strong>von</strong> gespeichertem Vorwissen die Wahrnehmung, d.h. es rekonstruiert<br />

die Wahrnehmung. Das Gleiche gilt auch für unsere Denkprozesse.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 52<br />

(ad 2) Neuronale Netze können trainiert werden oder sie können auch selbstorganisierend<br />

sein. In den selbstorganisierenden Neuronennetzen passen sich die<br />

Synapsenstärken schrittweise den einlangenden Inputmustern an. Die stummen<br />

und feuernden Neuronengruppen werden zu einem Abbild der Inputmuster, so<br />

dass gleiche Inputreize immer dieselben Neuronengruppen erregen. Das neuronale<br />

Netz ist dann zu einer Landkarte (map) der Rei<strong>zum</strong>welt geworden. Dabei<br />

kommt es auf der neuronalen Eigenschaftskarte zu einer Reduzierung der Dimensionalität.<br />

Aus der Reizvielfalt werden einige wenige Haupteigenschaften extrahiert<br />

– das sind diejenigen, in denen die Inputmuster am deutlichsten variieren. So<br />

erregen auch ähnliche Inputreize dieselben Neuronen. Diese Abstraktionsleistung<br />

ermöglicht erst die Bildung <strong>von</strong> Kategorien und ist wesentlich für das begriffliche<br />

Denken.<br />

Es gibt nun keinen Grund gegen die Annahme, dass auch die Selbsterfahrungsprozesse<br />

auf neuronalen Vorgängen beruhen. <strong>Ein</strong> erstes wichtiges Faktum ist,<br />

dass die meisten neuronalen Informationsverarbeitungen unbewusst ablaufen. Wir<br />

haben beispielsweise keinen bewussten Zugriff zu Informationen über unseren<br />

Blutdruck oder über unseren Blutzuckerspiegel, obgleich diese Variablen sehr<br />

sorgfältig gemessen, vom Gehirn ausgewertet und in Regulationsprozesse umgewandelt<br />

werden. Der wahrscheinliche Grund hierfür ist, dass diese Informationen<br />

ohne Beteiligung der Großhirnrinde verarbeitet werden. Aber auch <strong>von</strong> den in der<br />

Großhirnrinde ablaufenden Prozessen wird uns immer nur ein kleiner Ausschnitt<br />

bewusst – das sind jene Aspekte, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken<br />

und die dann unser Handeln steuern. Auch die unbewussten Prozesse hinterlassen<br />

Gedächtnisspuren und beeinflussen unser zukünftiges Handeln. Aber wir werden<br />

uns dieser Handlungsdeterminanten nicht bewusst und können sie deshalb nicht<br />

als Begründungen für unser Tun anführen.<br />

Neben diesen unbewussten Verarbeitungsprozessen im Gehirn ist eine zweite<br />

Vorraussetzung für die Konstitution eines Selbst (Ich) die so genannte soziale<br />

Interaktion. Für die Entwicklung des Selbstmodells scheint der Dialog mit den<br />

Anderen wesentlich. Dialoge der Form "Ich weiß, dass Du weißt, dass Ich fühle"<br />

führen dazu, dass wir uns in der Wahrnehmung des Anderen spiegeln. Mit Hilfe<br />

seiner Reaktionen (re)konstruiert dann das Gehirn die Selbstwahrnehmung.<br />

Damit ein effektiver zwischenmenschlicher Dialog stattfinden kann, müssen aber<br />

zwei Prämissen erfüllt sein. Erstens muss das abstrakte Denken entsprechend<br />

hoch entwickelt sein und zweitens muss die sprachliche Codierung <strong>von</strong> Vorstellungen<br />

und Denkinhalten möglich sein. Mit Ausnahme der großen Menschenaffen<br />

fehlen den Tieren diese Fähigkeiten. Auch kleine Menschenkinder besitzen<br />

sie noch nicht. Der Grund ist, dass für diese höchsten kognitiven Leistungen<br />

bestimmte Hirnstrukturen vor allem in der Großhirnrinde erforderlich sind, die<br />

erst beim Menschen im Laufe der ersten Lebensjahre ihre volle Ausprägung<br />

erfahren.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 53<br />

Somit kann die Selbstwahrnehmung (eben unser Ichbewusstsein) als eine höchst<br />

komplexe kognitive Leistung <strong>von</strong> selbstorganisierenden neuronalen Netzen verstanden<br />

werden, wobei viele unbewusste Verarbeitungsprozesse mitspielen und<br />

die soziale Kommunikation ein wesentlicher Faktor ist. Zur Erklärung der Selbstwahrnehmung<br />

ist es nicht nötig, eine Transzendenz in immaterielle Sphären zu<br />

postulieren. Auch wäre der Schluss falsch, dass hinter den kognitiven Leistungen<br />

des Gehirns ein Dirigent, eine Führungsinstanz steht, welche die neuronalen<br />

Prozesse steuert und lenkt. Die neuronalen Verarbeitungsprozesse laufen parallel<br />

und dezentral ab und erzeugen in ihrer Gesamtheit kohärente Wahrnehmungen<br />

und Handlungen. Zwar gibt es hierarchische Gliederungsebenen im Nervensystem<br />

mit reziproken Kopplungen, aber es gibt kein eigenes übergeordnetes<br />

Koordinationszentrum der parallelen Prozesse.<br />

An dieser Stelle sei auch noch ein Querverweis auf das biochemische Geschehen<br />

in der Zelle erlaubt. Schon auf molekularer Ebene gibt es so etwas wie Selbstanalyse<br />

und Selbstreparatur. Wenn bei der identischen Reduplikation eines DNS-<br />

Moleküls (des Trägermoleküls der Gene) ein Fehler passiert, dann gibt es Hilfsmoleküle<br />

(spezialisierte Enzyme), welche das DNS-Molekül analysieren und<br />

etwaige Fehler reparieren. Schon hier liegt eine elementare Form der Selbstwahrnehmung<br />

der einzelnen Zellen vor.<br />

(ad 3) Wie aber kommen wir nun zu der unerschütterlichen Überzeugung, dass<br />

unser Selbst (Ich) freie Entscheidungen treffen und über Prozesse in unserem<br />

Gehirn verfügen kann, welche dann unser Handeln steuern ?<br />

<strong>Ein</strong>e erste und vermutlich entscheidende Erfahrung mit der Zuschreibung <strong>von</strong><br />

Autonomie und Freiheit machen wir schon als Kleinkinder. Eltern sagen ihren<br />

Kindern fortwährend sie sollten dies tun und jenes lassen, weil andernfalls diese<br />

oder jene Konsequenzen einträten. Diese Verweise und die mit ihnen verbundenen<br />

Sanktionen legen den Schluss nahe, man könne sich auch anders verhalten<br />

und müsse dazu nur wollen. Wir erfahren (erleiden) also schon sehr früh eine Behandlung,<br />

welche sich durch die Annahme rechtfertigt, wir seien in unseren Entscheidungen<br />

frei – eine Annahme, die mit Hilfe der Erziehung verlässlich <strong>von</strong><br />

Generation zu Generation übermittelt wird. Wir internalisieren diese Annahme<br />

der Willensfreiheit und handeln dann in unserem Leben auch nach ihr.<br />

Die Dialoge, die ein Wertesystem vermitteln, beginnen in einer Entwicklungsphase,<br />

in der Kleinkinder noch kaum ein deklaratives Gedächtnis haben. Sie<br />

lernen, machen sich das Gelernte zu Eigen. Sie können aber nicht angeben, woher<br />

sie wissen, was sie wissen, d.h. sie erinnern sich zwar an das Gelernte, nicht aber<br />

an den Lernprozess. Diese Unfähigkeit, den Kontext bewusst zu erinnern,<br />

bezeichnet man als frühkindliche Amnesie. So erscheint den Kleinkindern das,<br />

was sie wissen als nicht verursacht, als immer schon gewusst.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 54<br />

Diese frühkindliche Amnesie könnte der Grund dafür sein, dass uns später, wenn<br />

wir beginnen über uns nachzudenken, die Inhalte des frühkindlichen Lernens als<br />

nicht verursacht erscheinen.<br />

Die Annahme einer Willensfreiheit erscheint somit als eine durch die Erziehung<br />

vermittelte Attribution. Die fehlende Erinnerung an diese frühen sozialen Lernprozesse<br />

könnte somit der Grund für die eigentümliche Transzendenz unseres<br />

Selbstmodells sein, für den Glauben an einen freien Willen, welcher unverursacht<br />

allen materiellen Prozessen vorausgeht.<br />

Bemerkenswert ist, dass wir – trotz aller Überzeugung grundsätzlich frei zu sein –<br />

in der Bewertung des eigenen und fremden Verhaltens sehr wohl zwischen freien<br />

und unfreien Akten unterscheiden. Für erstere übernehmen wir Verantwortung,<br />

für zweitere fordern wir Nachsicht. Dieser Unterschied wird bewirkt durch den<br />

Bewusstheitsgrad der Motive. Nur jene Motive erscheinen dem freien Willen<br />

unterworfen, die wir bewusst erkennen. Jene Motive hingegen, welche unbewusst<br />

wirken, unterliegen offenkundig nicht dem freien Willen.<br />

Aus der Sicht der modernen Neurowissenschaft sind die Annahme einer Willensfreiheit<br />

und die Unterscheidung <strong>von</strong> freien und weniger freien Handlungen nicht<br />

haltbar. Allen kognitiven Leistungen des Gehirns, so auch dem Entscheiden,<br />

gehen Verarbeitungsprozesse in neuronalen Netzen voran. Diese determinieren<br />

unseren Handlungsspielraum. Das Gehirn besteht aus Milliarden <strong>von</strong> Nervenzellen.<br />

<strong>Ein</strong>e Nervenzelle kann mit tausenden anderen Nervenzellen verbunden<br />

sein. In hoch organisierten Gehirnen machen die <strong>Ein</strong>gänge <strong>von</strong> den sensorischen<br />

Systemen und die Ausgänge zu den Effektoren nur einen verschwindend kleinen<br />

Prozentsatz der Verbindungen aus. Die meisten Verbindungen kommen <strong>von</strong><br />

anderen Nervenzellen. Das Gehirn beschäftigt sich also vorwiegend mit sich<br />

selbst.<br />

Das Gehirn kann seine eigene Tätigkeit, seine eigenen kognitiven Prozesse<br />

analysieren und bewerten. Aus dieser iterativen Anwendung der Kognition auf<br />

sich selbst resultiert die Selbstwahrnehmung (Ichbewusstsein).<br />

Willensentscheidungen sind mehrstufige Prozesse, bei denen sich immer das<br />

stärkste Motiv durchsetzt. Soll ein Motiv einem anderen vorgezogen werden,<br />

dann muss es gestärkt werden – beispielsweise durch überzeugende Argumente in<br />

einem sozialen Dialog. Wir sind zwar im neurobiologischen Mechanismus des<br />

Entscheidungsprozesses determiniert, aber sowohl durch äußere <strong>Ein</strong>flüsse als<br />

auch durch innere Denkakte kann es zu einer Umordnung der Motivstärken, zu<br />

einer Neuorientierung des erlernten Wertesystems kommen. Aber damit verschiebt<br />

sich nur die Determiniertheit. <strong>Ein</strong> nicht determiniertes, freies <strong>ICH</strong> ist aus<br />

neurowissenschaftlicher Sicht eine Illusion.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 55<br />

[1.2] EIN BASISMODELL DER PSYCHE<br />

Der Wiener Psychologe Hubert Rohracher (1903 - 1972) gliedert die Inhalte der<br />

Psyche in zwei Erlebnisklassen:<br />

Psychische Kräfte sind die angeborenen Instinkte und Triebe, die erlernten<br />

Interessen, die Gefühle (Emotionen) und die Willenserlebnisse. Sie werden<br />

subjektiv als drängend und zielsetzend erlebt.<br />

Psychische Funktionen sind die Wahrnehmung, das Gedächtnis (Lernen) und das<br />

Denken und Sprechen. Sie sind Werkzeuge zur Erreichung der gesetzten Ziele.<br />

Der Zusammenhang wird durch das Prinzip der funktionalen Aktivierung erklärt:<br />

es gibt keine funktionale Aktivität ohne einen inneren Antrieb oder einen äußeren<br />

Anreiz.<br />

Psychische Funktionen<br />

Wahrnehmung: Aufnehmen <strong>von</strong> Informationen.<br />

Gedächtnis (Lernen): Speichern und Abrufen <strong>von</strong> Informationen.<br />

Denken: Verknüpfen <strong>von</strong> Informationen zur Problemlösung.<br />

Sprechen: Weitergeben <strong>von</strong> Informationen durch phonetische<br />

Artikulation <strong>von</strong> bewussten Erlebnisinhalten.<br />

Psychische Kräfte<br />

Instinkte und Triebe: Angeborene Drangzustände, die überwiegend<br />

zu lebenserhaltenden Aktionen führen.<br />

Interessen: Zumeist erlernte Drangzustände, die zur Ausführung<br />

kultureller Aktionen streben.<br />

Gefühle (Emotionen): Reaktive Erlebniszustände auf äußere oder innere<br />

Reize, die angenehm oder unangenehm erlebt werden.<br />

Wollen: Bewusste Entscheidungserlebnisse.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 56<br />

Als Beispiel sei die Situation nach intensiver Sportbetätigung angeführt. Durch<br />

den Flüssigkeitsverlust beginnt über einen Regelkreismechanismus ein Nervenzentrum<br />

(Durstzentrum) im tiefer gelegenen Stammhirn zu feuern, d.h. elektrochemische<br />

Erregungen zu produzieren. Diese steigen höher in das Großhirn und<br />

erzeugen dort das unlustvolle Trieberlebnis des Durstes. Dadurch werden die<br />

Wahrnehmung, das Gedächtnis und das Denken aktiviert, um in der Umwelt nach<br />

durstlöschenden Objekten zu suchen. Nach deren Auffindung kommt es zur<br />

lustvoll erlebten Triebbefriedigung (Trinken). Dabei werden über entsprechende<br />

motorische Steuerungen passende Verhaltensweisen ausgeführt. Die Emotionen<br />

Lust und Unlust dienen als sinnvolle Triebverstärkungen. Ursprünglich sind die<br />

gestellten Handlungsziele auf Lebens- und Arterhaltung gerichtet. Mit Hilfe des<br />

psychischen Apparates, insbesondere seiner Denkleistungen hat sich das<br />

menschliche Gehirn einen entscheidenden Leistungsvorteil im täglichen Daseinskampf<br />

geschaffen.<br />

Die bewussten Erlebnisse sind Systemfunktionen <strong>von</strong> komplex vernetzten, gegenseitig<br />

miteinander gekoppelten und hierarchisch gegliederten <strong>Teil</strong>bereichen des<br />

zentralen Nervensystems, insbesondere der Großhirnrinde (Cortex). Zentrales<br />

Nervensystem und Bewusstsein haben sich evolutionär entwickelt und dienen<br />

letztendlich der optimalen Anpassung an die Umwelt. Unter Psyche versteht man<br />

die Gesamtheit der bewussten Erlebnisse, aber auch der nicht bewussten (unbewussten)<br />

Vorgänge im zentralen Nervensystem. Der Begriff Seele wird hier<br />

ausschließlich als Synonym für eine so verstandene Psyche verwendet.<br />

Entsprechend der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Gehirns und des<br />

zentralen Nervensystems durchläuft die Psyche unterschiedliche Ausbildungsstufen.<br />

Immer dann, wenn einfachere Formen sensomotorischer Informationsverarbeitung<br />

(z.B. Reflexe) zur Steuerung und Kontrolle des Organismus nicht<br />

mehr ausreichen, hat sich eine höhere und leistungsfähigere Funktionsebene<br />

entwickelt. Bei einfachen Reflexen wird ein Reiz <strong>von</strong> den peripheren Sensoren<br />

(Sinnesorganen) aufgenommen und in eine spezifische Folge <strong>von</strong> elektrischen<br />

Spannungsschwankungen verschlüsselt. Diese wird entlang <strong>von</strong> Nervenfasern<br />

über das Rückenmark oder das Stammhirn zu den Effektoren (Muskeln, Drüsen)<br />

weitergeleitet, wo der Reiz durch entsprechende motorische Reaktionen beantwortet<br />

wird. Etwas komplexer gestaltet sich der Ablauf einer Instinktreaktion.<br />

Hier fließt der Informationsstrom über höher gelegene Stammhirn-Zentren im<br />

zentralen Nervensystem. Als Beispiel sei das Hinaustreten aus einem dunklen<br />

Raum in das helle Sonnenlicht genannt. Zunächst erfolgen reflektorische<br />

Reaktionen (Pupillenreflex), dann instinktive Schutzreaktionen (Heben der Hände<br />

<strong>zum</strong> Augenschutz) und schließlich noch komplexere Verhaltensweisen (Aufsetzen<br />

einer Sonnenbrille).


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 57<br />

Reichen reflektorisches und instinktives Verhalten zur Problemlösung nicht aus,<br />

dann erfolgt die Informationsverarbeitung in den noch höher gelegenen Zentren<br />

in der äußeren Rinde des Großhirns (Cortex). Hier werden unsere Wahrnehmungen<br />

bewusst erlebt und Handlungen bewusst veranlasst. Allen diesen bewussten<br />

Erlebnissen liegen spezifische Erregungskonstellationen zugrunde, welche in<br />

wechselseitig gekoppelten Gruppen <strong>von</strong> Nervenzellen (neuronale Ensembles)<br />

ablaufen. Schließlich ziehen dann die entsprechenden elektrischen Signalfolgen<br />

über die so genannte Pyramidenbahn abwärts zu den Muskeln und steuern dort<br />

die willkürlichen Handlungen. Damit ist die höchste Stufe sensomotorischer<br />

Regelkreise erreicht: Reize werden selektiv wahrgenommen und mit motorischen<br />

Reaktionen bewusst beantwortet. Das Ergebnis des Verhaltens wird wiederum<br />

wahrgenommen (Feed-back) und führt zu neuerlichen Reaktionen, usw.<br />

<strong>Ein</strong> sensomotorischer Prozess wird bewertet (z.B. eine erfolgreiche Nahrungssuche),<br />

wenn Signale zu jenen tiefer gelegenen Nervenzentren an der Basis des<br />

Großhirns und im Zwischenhirn übermittelt werden, wo Gefühle und Triebe<br />

entstehen (limbisches System, Hypothalamus). Diese bewirken eine Bewertung<br />

(z.B. Lust - Unlust) und eine Selektion der Information. Die Filterung erfolgt im<br />

so genannten Thalamus im Zwischenhirn, das zwischen Stammhirn und Großhirn<br />

liegt. So wird beispielsweise beim sehnsüchtigen Warten auf das <strong>Ein</strong>treffen eines<br />

geliebten Menschen der Wahrnehmungsfilter durch psychische Kräfte wirksam.<br />

Zum Zeitpunkt des Erscheinens der erwarteten Person werden andere Reize (z.B.<br />

irgendein Vorfall in der näheren Umgebung) kaum wahrgenommen - die Wahrnehmung<br />

engt sich auf das entsprechende Objekt ein.<br />

Auf dem Weg vom Sensor an der Körperperipherie bis zur Rinde des Großhirns,<br />

also vom Reiz bis zu seiner bewussten Wahrnehmung, wird die Informationsmenge<br />

drastisch reduziert. Erstens werden durch die Bauart des Sensors nur<br />

adäquate Reize aufgenommen und zweitens erfolgt eine Selektion der aufgenommenen<br />

Information durch die psychischen Kräfte, d.h. eine Sensibilisierung<br />

der Wahrnehmung. Weil jeder sensorische Input emotional bewertet wird, kommt<br />

es immer zu einer Filterung der Information. Daher haben verschiedene Individuen<br />

auch unterschiedliche bewusste Bilder <strong>von</strong> ein- und demselben Bereich der<br />

Außenwelt. Was subjektiv für wirklich gehalten wird, hängt somit <strong>von</strong> den<br />

individuellen Gefühlen, Trieben und Interessen ab. Die daraus resultierende<br />

Divergenz der subjektiven Weltbilder führt nicht selten zu Konflikten.<br />

Starke triebhafte oder emotionale Bewertungen <strong>von</strong> Inhalten und wiederholte<br />

Rückkopplungen (Feed-back) <strong>von</strong> motorischem Verhalten und Sinnesrezeptionen<br />

führen zur Ausbildung <strong>von</strong> so genannten synaptischen Verstärkungen in den<br />

beteiligten Nervenbahnen. Dadurch werden die molekularen Grundlagen für das<br />

Gedächtnis geschaffen.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 58<br />

[1.3] METHODEN DER GEHIRNFORSCHUNG<br />

[1.3.1] Stereotaktische <strong>Ein</strong>griffe (Läsion und Stimulation)<br />

Mit Hilfe eines dreidimensionalen Hirnatlas und einem stereotaktischen (räumlich<br />

ausgerichteten) Apparat werden Elektroden oder Kanülen, die auf bestimmte<br />

Zielgebiete in der Tiefe des Gehirns gerichtet sind, durch eine Operation<br />

eingesetzt. Über Elektroden kann elektrischer Strom in das Zielgebiet geschickt<br />

werden, durch die Kanülen werden bestimmte chemische Substanzen eingebracht.<br />

Das Zielgebiet kann irreversibel oder reversibel ausgeschaltet werden.<br />

Bei der irreversiblen Läsion wird durch die isolierte Elektrode hochfrequenter<br />

Wechselstrom geschickt, der durch Hitzeentwicklung an der Spitze das umgebende<br />

Gewebe zerstört (Elektrokoagulation). Selektiver wirken chemische<br />

Läsionen, die nur die Zellkörper zerstören, aber nicht deren Ausläufer. Verwendet<br />

werden dazu Kainsäure und auch Ibotensäure, die über eine Kanüle in das<br />

Zielgebiet eingeschleust werden.<br />

Reversible Läsionen erfolgen durch Kühlung mit Hilfe kleiner Mengen <strong>von</strong><br />

Kaliumchlorid-Lösungen. Sinn der Läsion eines umgrenzten Hirngebietes ist es,<br />

jene Veränderungen zu registrieren, die nach der Läsion auftreten.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 59<br />

Im Gegensatz zu Läsionen werden bei Stimulationen die Zielgebiete nicht<br />

ausgeschaltet sondern künstlich gereizt. Die Reizung erfolgt über eine isolierte<br />

Elektrode mittels genau abgestimmter elektrischer Stromzufuhr. Es können aber<br />

auch winzige Mengen <strong>von</strong> chemischen Substanzen über Kanülen oder Mikropipetten<br />

an die Synapsen transportiert werden, die dort als Agonisten oder Antagonisten<br />

<strong>von</strong> bestimmten Neurotransmittern wirken. Sinn der Stimulation eines<br />

umgrenzten Hirngebietes ist es, jene Veränderungen zu registrieren, welche bei<br />

der Stimulation auftreten. Durch solche gezielte Läsionen und Stimulationen kann<br />

der kausale Zusammenhang <strong>von</strong> bestimmten Hirnregionen und bestimmten<br />

Verhaltensweisen bzw. physiologischen Funktionen sehr gut erforscht werden.<br />

[1.3.2] Enzephalogramme (EEG und MEG)<br />

Das Elektroenzephalogramm (EEG)<br />

1902 begann Hans Berger mit Experimenten an Hunden und Katzen, die ihn<br />

soweit führten, daß er 20 Jahre später über außen an der Schädeldecke befestigte<br />

Elektroden an einem siebenjährigen Patienten mit Hilfe eines empfindlichen<br />

Saitengalvanometers erstmals spontane elektrische Spannungsschwankungen der<br />

Hirnrinde registrierte.<br />

Mindestens 2 Elektroden aus Silberlegierung werden an die Schädeldecke mit<br />

einer Paste angeklebt. Sie sind mit einem Verstärker verbunden, der die<br />

elektrische Potentialdifferenz der beiden Orte verstärkt und an ein Aufzeichnungsgerät<br />

weitergibt. Diese Messungen und Aufzeichnungen erfolgen in<br />

bestimmten vorgegebenen zeitlichen Abständen. Dadurch ist es möglich, den<br />

elektrischen Spannungsverlauf zwischen den beiden Elektroden zeitlich zu<br />

erfassen. Zusätzlich werden sehr langsame Schwankungen und auch die<br />

Gleichspannungsanteile herausgefiltert, so dass nur Wechselspannungen in einem<br />

Amplitudenbereich <strong>von</strong> 1 - 200 mV und in einem Frequenzbereich <strong>von</strong> 1 - 50 Hz<br />

registriert werden. Anstelle <strong>von</strong> nur 2 Elektroden werden <strong>zum</strong>eist die zeitlichen<br />

Spannungsänderungen zwischen mehreren Elektroden aufgezeichnet, die an<br />

typischen Schädelpositionen angebracht sind. (Polygraph mit bis zu 20 Ableitungspunkten).<br />

Das mit Elektroden abgenommene elektrische Potential entsteht durch die<br />

Summierung der exzitatorischen postsynaptischen Potentiale in der obersten<br />

Rindenschicht des Großhirns. In Wirklichkeit werden die cortikalen Neuronen<br />

durch vom Thalamus aufsteigende Erregungen angetrieben. Der Thalamus wirkt<br />

somit als Tor für sensorische Impulsströme. Die Durchlässigkeit dieses Tores<br />

hängt <strong>von</strong> den inhibitorischen Signalen ab, welche über absteigende Leitungen<br />

vor allem vom präfrontalen Cortex (Stirnlappen) ankommen.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 60<br />

Durch den thalamo-cortikalen Feedback wird die selektive Aufmerksamkeit<br />

reguliert. Je größer die Hemmung des Thalamus ist, umso langsamer und synchronisierter<br />

sind die EEG-Wellen. Je ungehemmter der Thalamus ist, umso<br />

desynchronisierter und heftiger verlaufen die EEG-Schwankungen.<br />

Je nach Wachheitsgrad des Bewußtseins treten verschiedene Wellenformen im<br />

EEG auf. Im entspannten Wachzustand herrscht der Alpha-Rhythmus (8-13 Hz)<br />

vor. Bei selektiver Aufmerksamkeit (visuell und auditiv) wird er blockiert und<br />

geht in den höher frequenten Beta-Rhythmus (13-30 Hz) über. Frequenzen über<br />

30 Hz werden als Gamma-Wellen bezeichnet. Sie haben eine sehr kleine<br />

Amplitude (1-10 mV) und sehr hohe lokale Spezifität. Sie werden mit sich lokal<br />

entladenden Zellenensembles (vernetzten Neuronengruppen) in Verbindung<br />

gebracht. Die Theta-Wellen (4-8 Hz) und Delta-Wellen (unter 4 Hz) sind typisch<br />

für den Schlaf. Beim Träumen werden die langsamen Delta-Wellen durch Theta-<br />

und Beta-Phasen unterbrochen (REM-Phasen: rapid eye movement, schnelle<br />

Augenbewegungen).<br />

Im klinischen Bereich wird das EEG zur Diagnose und zur Lokalisation <strong>von</strong><br />

Funktionsstörungen der Gehirntätigkeit verwendet: bei epileptischen Anfallsleiden,<br />

bei Tumoren, bei Durchblutungsstörungen und zur Abschätzung <strong>von</strong><br />

Pharmakawirkungen und Narkosetiefen.<br />

Unter evozierten, ereigniskorrelierten Hirnpotentialen (EKP) versteht man alle<br />

elektrocortikalen Potentialschwankungen, welche kurz vor, während und kurz<br />

nach einem sensorischen, motorischen oder psychischen Ereignis im EEG<br />

messbar sind. Diese EKPs sind <strong>von</strong> wesentlich kleinerer Amplitude als das<br />

Standard-EEG. Durch spezielle mathematische Mittelungstechniken werden die<br />

EKP-Signale aus der Hintergrundaktivität (Rauschen) hervorgehoben und<br />

graphisch dargestellt. Diese Registrierungs- und Berechnungstechniken werden<br />

<strong>von</strong> Computern schnell und zuverlässig durchgeführt.<br />

Das Magnetenzephalogramm (MEG)<br />

Jede elektrische Ladungsdifferenz zwischen zwei Orten (Dipol) erzeugt eine<br />

Bewegung <strong>von</strong> elektrischer Ladung (Stromfluss). Jeder solcher Stromfluss ruft in<br />

seiner Umgebung ein magnetisches Kraftfeld hervor, dessen Feldlinien<br />

kreisförmig um die Stromrichtung verlaufen. Die hintereinander geschalteten<br />

Neuronen in der äußeren Rindenschicht wirken wie elektrische Dipole und<br />

erzeugen daher auch schwache Magnetfelder, die mit hochempfindlichen Detektoren,<br />

so genannten SQUIDS (superconducting quantum interference device)<br />

nachgewiesen werden können.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 61<br />

Die SQUIDS werden ca. 10 mm über der Schädeldecke angebracht und<br />

registrieren magnetische Feldstärkenveränderungen <strong>von</strong> weniger als einem<br />

Hundertmillionstel der erdmagnetischen Feldstärke (also kleiner als ein Pico<br />

Tesla). Mit den auf der Temperatur des flüssigen Helium gehaltenen SQUIDS<br />

wurde 1968 erstmals Alpha-Aktivität und ab 1975 auch ereigniskorrelierte<br />

Aktivität registriert.<br />

Da mit dem MEG aus technischen Gründen nur zur Schädeldecke parallele<br />

elektrische Ströme und mit dem EEG meist nur zur Schädeldecke vertikal<br />

laufende Ströme gemessen werden, lassen sich durch Kombination <strong>von</strong> MEG und<br />

EEG Quellen elektrischer Aktivität in der Cortex bis auf 2 mm Genauigkeit<br />

lokalisieren. Dadurch wird eine räumliche und zeitliche Bestimmung der gehirnelektrischen<br />

Aktivität sehr genau ermöglicht.<br />

[1.3.3] Bildgebende Verfahren (CT, PET und MRT)<br />

Zur Ergänzung <strong>von</strong> EEG und MEG, die elektrische und magnetische Aktivitäten<br />

in der Gehirnrinde registrieren, werden auch Bild gebende Verfahren in der<br />

Gehirnforschung eingesetzt. Dabei werden verschiedene Hirnschichten röntgenologisch<br />

gescannt (CT, Computertomographie), oder die regionale Hirndurchblutung<br />

mit Hilfe <strong>von</strong> radioaktiven Markierungssubstanzen gemessen (PET,<br />

Positronen-Emmissions-Tomographie), oder der Blutdurchfluss in bestimmten<br />

Arealen über die dabei verstärkten kernmagnetischen Resonanzen <strong>von</strong> Wasserstoffionen<br />

registriert (MRT, Magnetische Resonanz-Tomographie).<br />

Die Messergebnisse werden durch einen Computer ausgewertet und dann<br />

schattierte oder verschieden gefärbte grafische Bilder der Hirnregionen hergestellt.<br />

Mit diesen Bildern lassen sich neuronale Aktivitäten auch in tieferen<br />

Hirngebieten sehr gut darstellen. Der Nachteil liegt in ihrer trägen zeitlichen<br />

Auflösung (meist werden nur Prozesse, die Minuten dauern, sichtbar). Zum Abschluss<br />

sollen diese Bild gebenden Verfahren näher beschrieben werden.<br />

Röntgen-Computertomographie (CT)<br />

Röntgenstrahlen entstehen beim Aufprall hoch beschleunigter Elektronen auf<br />

einer Schwermetall-Anode. In der so genannten Röntgenröhre emittiert eine<br />

Glühkathode Elektronen, die durch eine angelegte Spannung <strong>von</strong> etwa 30 kV zur<br />

gegenüberliegenden Anode fliegen. Durch umgebende negativ geladene Platten<br />

werden die Elektronen gebündelt (Wehnelt-Zylinder). Beim Aufprall auf der<br />

Anode erreichen sie Geschwindigkeiten <strong>von</strong> rund 100 000 km/sec.. Durch die<br />

Abbremsung beim Aufprall wird Energie in Form <strong>von</strong> kurzwelligen Röntgenstrahlen<br />

freigesetzt (10 -10 m Wellenlänge).


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 62<br />

<strong>Ein</strong>e der wichtigsten Eigenschaften <strong>von</strong> Röntgenstrahlen ist ihr hohes Durchdringungsvermögen.<br />

Sie durchdringen viele Stoffe (Papier, Holz, Fleisch) fast<br />

ungeschwächt und werden <strong>von</strong> Materialien absorbiert, welche chemische<br />

Elemente mit hoher Ordnungszahl enthalten. Dazu zählt das Kalzium in den<br />

Knochen. Auf der anderen Seite des durchstrahlten Körpers wird eine fotografische<br />

Platte angebracht, welche je nach Intensität der einlangenden Röntgenstrahlen<br />

mehr oder minder stark geschwärzt wird. Durch die Anordnung der<br />

Schwärzungspunkte kann auf die Struktur des durchdrungenen Körpers rückgeschlossen<br />

werden.<br />

Die Röntgendiagnostik ist ein sehr wichtiges Hilfsmittel in der Medizin; sie ist<br />

aber nicht ungefährlich, weil sie wie jede kurzwellige elektromagnetische<br />

Strahlung ionisierend wirkt und so die Zellen schädigen kann.<br />

Zur Darstellung <strong>von</strong> Weichteilen eignet sich ein röntgen-technisches Verfahren,<br />

die Computertomographie (CT), mit welcher kleinste Dichteunterschiede im<br />

Gewebe ermittelt werden können (bis zu 0,5 %). Dabei wird der Patient<br />

schichtweise mittels einer um ihn rotierenden Röntgenröhre mit niedriger Intensität<br />

durchstrahlt, wobei in den verschiedenen Richtungen die Strahlung verschieden<br />

stark absorbiert wird. Die Strahlung wird in ringförmig um den Patienten<br />

angeordneten Zählern (Detektoren) gemessen. Aus den erhaltenen Daten wird<br />

mittels Computer ein kontrastreiches Bild einer Schichtebene rekonstruiert. Danach<br />

wird der Patient in seiner Lage etwas verschoben und die nächste Gewebeschicht<br />

durchgescannt.<br />

Die Abbildung zeigt das<br />

Schema eines CT-Scans,<br />

wobei der Röntgenemittor<br />

schrittweise um 3° in jeder<br />

Schicht gedreht wird.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 63<br />

Radioisotopen-Tomographie<br />

<strong>Ein</strong> Maß für die Aktivität einer bestimmten Körperregion ist der dortige Verbrauch<br />

<strong>von</strong> Sauerstoff und Zucker. Durch den erhöhten chemischen Stoffwechsel<br />

kommt es zu vermehrter Bildung <strong>von</strong> sauren Zwischenprodukten bei der Zuckerverbrennung.<br />

Diese sauren Stoffwechselprodukte bewirken eine Erweiterung der<br />

arteriellen Blutgefäße, was eine Erhöhung der lokalen Durchblutung zufolge hat.<br />

Radioaktive Stoffe senden die so genannte Gamma-Strahlung aus, die noch<br />

kurzwelliger und energiereicher und daher auch gefährlicher als die Röntgenstrahlung<br />

ist. Diese radioaktive Strahlung kann nur durch dicke Blei- und Betonplatten<br />

abgeschirmt werden. Durch den hohen Energiegehalt wirkt die radioaktive<br />

Strahlung sehr stark ionisierend auf die Stoffatome der jeweiligen Umgebung.<br />

Auf der ionisierenden Wirkung beruht auch der Strahlungsnachweis durch das<br />

Geiger-Müller-Zählrohr.<br />

Bei der Szintigraphie wird ein radioaktiver Markierungsstoff (tracer) in die Blutbahn<br />

gebracht. Seine Ausbreitung und Verteilung in bestimmten Körpergebieten<br />

kann nun an Hand der <strong>von</strong> ihm ausgesendeten radioaktiven Strahlung mit Hilfe<br />

<strong>von</strong> Geigerzählern gemessen werden.<br />

Die Messdaten werden <strong>von</strong> einem angeschlossenen Computer zu grafischen<br />

Bildern verarbeitet, an denen die Verteilung des Radioisotops in der Körperregion<br />

ersichtlich ist. Dadurch können Rückschlüsse auf die jeweilige lokale Durchblutung<br />

des Gewebes gezogen werden. Die dargestellte Abbildung zeigt die<br />

prinzipielle Messanordnung zur Feststellung der regionalen Gehirndurchblutung<br />

mit Hilfe <strong>von</strong> intraarteriell injiziertem radioaktivem Xenon (Xe).


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 64<br />

Bei der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) werden die radioaktiven<br />

Isotope biologisch wichtiger Atome (F, O, N, C) verwendet, die Positronen (ß-<br />

Strahlung) freisetzen. Direkt am Ort ihrer Freisetzung treffen diese Positronen auf<br />

die den Atomkern umgebenden Elektronen.<br />

<strong>Ein</strong>e solche Kollision führt zu einer Vernichtung beider <strong>Teil</strong>chen. Dabei wird die<br />

vernichtete Masse in Energie umgewandelt, welche in Form <strong>von</strong> radioaktiver<br />

Gamma-Strahlung auftritt. Diese Strahlung wird nun <strong>von</strong> rund um den Kopf des<br />

Patienten angeordneten Detektoren registriert.<br />

Aus Richtung und Intensität der Strahlung kann die räumliche Verteilung der, die<br />

Positronen emittierenden Atome, ermittelt und dann graphisch dargestellt werden.<br />

In der Nuklearmedizin werden vor allem Substanzen wie Wasser, Glukose oder<br />

Aminosäuren mit den genannten Radioisotopen markiert.<br />

Aus dem graphischen Verteilungsbild radioaktiv markierter Glukose kann dann<br />

auf die lokale Durchblutung einer Region und somit auch auf ihre Aktivität rückgeschlossen<br />

werden.<br />

Die Abbildungen zeigen verschieden stark durchblutete Gehirnregionen (sehr gut<br />

ersichtlich an den Schwärzungen) bei unterschiedlichen sensorischen und motorischen<br />

sprachlichen Tätigkeiten. Die PET erlaubt auf diese Art und Weise die<br />

Darstellung <strong>von</strong> Bildern der geistigen Aktivität des Gehirns.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 65<br />

Magnetresonanztomographie (MRT)<br />

Wie die Elektronen der Atomhülle haben auch die einzelnen Bausteine des<br />

Atomkerns (Nukleonen) einen Eigendrehimpuls (Spin) und verhalten sich wie<br />

winzige Magnete. Bei Atomkernen mit gerader Anzahl <strong>von</strong> Nukleonen können<br />

sich die magnetischen Kraftmomente der Kernbausteine kompensieren, bei<br />

ungerader Nukleonenanzahl kann dies nicht erfolgen. Der Kern besitzt dann einen<br />

resultierenden Gesamtspin und ein magnetisches Kraftmoment. Der Atomkern<br />

<strong>von</strong> Wasserstoff (H) besteht aus einem einzigen Proton und hat daher ein<br />

magnetisches Moment.<br />

Beim Anlegen eines starken äußeren Magnetfeldes beginnen die Atomkerne eine<br />

kreiselförmige Bewegung um ihre Gleichgewichtslage auszuführen (Auslenkung,<br />

Präzession). Die Geschwindigkeit dieser Kreiselbewegung (Präzessionsfrequenz)<br />

ist proportional zur angelegten magnetischen Feldstärke.<br />

Wenn die Atomkerne anschließend wieder in ihre energetisch günstigere Ausgangslage<br />

zurückkehren, senden sie genau jene elektromagnetische Frequenz aus,<br />

welche sie zuvor absorbiert haben.<br />

Diese Resonanzfrequenz des Atomkerns hängt einerseits vom angelegten äußeren<br />

magnetischen Feld, andererseits auch <strong>von</strong> den lokalen Magnetfeldern ab, die<br />

durch die Elektronen der Atomhülle erzeugt werden. Dadurch ist die Resonanz<br />

auch stoffspezifisch und kann in der Chemie zur Strukturanalyse <strong>von</strong> unterschiedlichen<br />

organischen Verbindungen benutzt werden (nuclear magnetic resonance<br />

spectroscopy, NRMS).<br />

In der Nuklearmedizin werden die oben beschriebenen atomphysikalischen<br />

Effekte in der so genannten Kernspintomographie verwendet (NMR-Tomographie<br />

oder auch MRT genannt). Der Großteil des menschlichen Körpers besteht<br />

aus Wasser, dessen Verteilung mit Hilfe der MRT in Schnittbildern graphisch<br />

dargestellt wird. Dadurch können Dichteunterschiede im Gewebe deutlich<br />

sichtbar gemacht werden. Bei der Untersuchung befindet sich der Patient im<br />

Inneren einer großen, <strong>von</strong> Strom durchflossenen Spule, die ein starkes, völlig<br />

homogenes Magnetfeld erzeugt. Dadurch werden die Wasserstoffkerne zuerst<br />

entsprechend diesem Felde ausgerichtet.<br />

Mit zusätzlichen Hochfrequenz-Spulen lässt sich die Stärke des Magnetfeldes<br />

räumlich variieren. Durch die kurzfristigen Zusatzimpulse werden die Wasserstoffkerne<br />

in einer bestimmten Schnittebene zur Kernspinresonanz angeregt.


<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 66<br />

Die <strong>von</strong> den Kernen emittierte Resonanzstrahlung wird <strong>von</strong> Antennen empfangen,<br />

digital gespeichert und im Computer mit komplizierten Rechenverfahren zu<br />

einem grafischen Bild verarbeitet. Nach Fertigstellung eines solchen Schichtbildes<br />

wird der Patient in der Spule weiterbewegt, so dass ein Bild <strong>von</strong> der<br />

nächsten Schnittebene erzeugt werden kann. Medizinische Risken der Magnetresonanztomographie<br />

sind nicht bekannt.

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