Ein Fenster zum ICH - Teil 1 - von Herbert Paukert
Ein Fenster zum ICH - Teil 1 - von Herbert Paukert
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<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 1<br />
<strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> <strong>ICH</strong> - <strong>Teil</strong> 1<br />
Grundbegriffe der Psychologie.<br />
<strong>Ein</strong> Lehrbuch in fünf <strong>Teil</strong>en <strong>von</strong> <strong>Herbert</strong> <strong>Paukert</strong>.<br />
Version 9.0<br />
Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 1<br />
Biologische Grundlagen, Modell der Psyche,<br />
Methoden der Gehirnforschung.<br />
Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 2<br />
Psychische Funktionen: Wahrnehmung, Gedächtnis und Denken,<br />
Psychische Kräfte: Instinkte, Triebe, Gefühle und Wille.<br />
Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 3<br />
Psychologische Tests, Intelligenz, Persönlichkeit.<br />
Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 4<br />
Psychoanalyse, Lerntheorie, sozial-kognitive Theorie,<br />
Entwicklungspsychologie und Sozialpsychologie.<br />
Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 5<br />
Stress, Psycho-Neuro-Immunologie, Selbstheilung,<br />
Psychosomatik, Psychopathologie und Psychotherapie.<br />
Anhang: Gesundes Leben<br />
Hinweis: Das hier vorliegende Lehrbuch ist eine Neufassung des<br />
gleichnamigen Buches, welches 1998 erstmalig im öbv/hpt-Verlag<br />
erschienen ist. Dort befinden sich auch die Quellen-Nachweise.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 2<br />
Inhalt <strong>von</strong> <strong>Teil</strong> 1:<br />
[1.1] Biologische Grundlagen (03)<br />
[1.1.1] Das biologische System "Mensch" (03)<br />
[1.1.2] Das Nervensystem und seine Bausteine (16)<br />
[1.1.3] Gliederung des zentralen Nervensystems (26)<br />
[1.1.4] Gehirn und Großhirn (31)<br />
[1.1.5] Sensorisches und motorisches System (36)<br />
[1.1.6] Das vegetative Nervensystem (39)<br />
[1.1.7] Das Hormonsystem (41)<br />
[1.1.8] Informationsflüsse im Nervensystem (46)<br />
[1.1.9] Der Weg <strong>zum</strong> Bewusstsein (48)<br />
[1.1.10] Das Erkenntnisproblem "Bewusstsein" (50)<br />
[1.2] <strong>Ein</strong> Basismodell der Psyche (55)<br />
[1.3] Methoden der Gehirnforschung (58)<br />
[1.3.1] Stereotaktische <strong>Ein</strong>griffe (58)<br />
[1.3.2] Enzephalogramme (59)<br />
[1.3.3] Bildgebende Verfahren (61)
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 3<br />
[1.1] BIOLOGISCHE GRUNDLAGEN<br />
Die Psyche ist eine Systemfunktion des Gehirns. Sie ist das Resultat informationsverarbeitender<br />
Prozesse in komplexen Netzwerken aus Milliarden <strong>von</strong> Nervenzellen<br />
(Neuronen).<br />
Durch Interaktion des Gehirns mit seiner Umwelt hat sich die menschliche<br />
Psyche evolutionär entwickelt - <strong>von</strong> einfachen Reflexen für die Reizbeantwortung<br />
über unbewusste instinktive Handlungen für die Lebenserhaltung bis zu den<br />
begriffsbildenden neuronalen Netzen in der Großhirnrinde, wodurch Denken als<br />
Probehandeln möglich wird. Das bewusste Denken erzeugt im Gehirn ein Modell<br />
der Umwelt. Mit Hilfe der Sprache kann dieses Wissen an andere Gehirne weitergegeben<br />
und auch auf materielle Datenträger gespeichert werden. Dadurch wird<br />
das subjektive Wissen <strong>zum</strong> objektiven Geist und zur Grundlage der Kultur.<br />
Die höchste Entwicklung ist die Selbstwahrnehmung (Reflexion) des Gehirns, d.h.<br />
der Mensch konstruiert ein Modell <strong>von</strong> sich SELBST (Ichbewusstsein).<br />
[1.1.1] Das biologische System "Mensch"<br />
Die Psyche, als Ergebnis informationsverarbeitender Prozesse im zentralen<br />
Nervensystem, unterliegt der biologischen Evolution. Die Psyche kann ohne<br />
Biologie nicht hinreichend erfasst werden. Die Biologie ihrerseits stützt sich vor<br />
allem auf die Chemie. <strong>Ein</strong> tieferes Verständnis für das System "Mensch" ist nur<br />
möglich auf dem Wissen um die grundlegenden chemischen Vorgänge in den<br />
Zellen, im Organismus und in unserer Umwelt.<br />
Zur Erklärung vieler biologischer Prozesse sind die Begriffe Information und<br />
Regulation <strong>von</strong> zentraler Bedeutung. Die Ereigniskette A, B, C, D, in welcher<br />
das Ereignis A das Ereignis B verursacht, B dann C, und C dann D verursacht, ist<br />
ein lineares, determiniertes System. Wenn aber D auf A zurückwirken kann<br />
(Rückkoppelung, feed back), dann ist das System zirkulär und hat die Möglichkeit<br />
der Selbstregulation. In solchen Regelkreisen werden reale Ist-Werte durch<br />
Messfühler gemessen und mit einprogrammierten Soll-Werten verglichen. Bei<br />
Abweichungen werden Regelungsprozesse ausgeführt, welche die Ist-Werte an<br />
die Soll-Werte anpassen. Damit können lebenswichtige Gleichgewichtszustände<br />
(Homöostasen) erhalten werden.<br />
Das vorliegende Buch versucht der Verwurzelung der Psychologie in Biologie<br />
und Chemie Rechnung zu tragen und beschreibt daher im ersten <strong>Teil</strong> wichtige<br />
biologische Grundlagen. Der daran nicht interessierte Leser kann diesen <strong>Teil</strong> des<br />
Buches durchaus überspringen.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 4<br />
Die Entwicklung des Lebens<br />
Die unbelebte Welt ist der Bereich <strong>von</strong> Zeit und Raum, in dem Anhäufungen <strong>von</strong><br />
Materie vorkommen, welche ihrerseits aus Atomen und Molekülen bestehen.<br />
Zwischen den Materieteilchen wirken Kräfte, die durch Physik und Chemie beschrieben<br />
werden. Durch die gegenseitigen Wechselwirkungen verschiedener<br />
Moleküle bilden sich immer komplexere Stoffklassen. So bildeten sich in der Uratmosphäre<br />
aus einfachen Molekülen wie Wasser (H2O), Methan (CH4) und<br />
Ammoniak (NH3) bei Energiezufuhr (Sonne, Blitz) neue Moleküle wie Aminosäuren<br />
(z.B. Glycin H2N-CH2-COOH). Diese wurden in die mineralsalzreichen<br />
Urozeane geschwemmt und sie bildeten dort noch komplexere Moleküle; z.B.<br />
werden aus den einfachen Aminosäuren längere Polypeptidketten, die sich zu<br />
Proteinen (Eiweißen) zusammenfalten. <strong>Ein</strong>e andere Klasse sind die so genannten<br />
Phospholipide (komplexere Verbindungen aus Fettsäuren, Glycerin-Alkohol und<br />
Phosphorsäure), welche aus einem wasserabstoßenden und einem wasseranziehenden<br />
Ende bestehen. Sie ordnen sich im Wasser kugelförmig an und bilden<br />
dort doppelschichtige Membrane. Durch <strong>Ein</strong>lagerung <strong>von</strong> Polypeptiden in diese<br />
Membrane können Kanäle erzeugt werden, welche die Verbindung zwischen<br />
Außen und Innen herstellen. Damit ist die "Pore" als erstes Organ der Evolution<br />
erfunden. Im Innern dieser Gebilde sammeln sich auf Grund einseitiger<br />
Membrandurchlässigkeit bestimmte Makromoleküle gehäuft an, die in enge<br />
Wechselwirkung miteinander treten können. Solche, in der Ursuppe schwimmende<br />
Gebilde (Präzellen) sind die Vorläufer der lebendigen Zellen.<br />
In den Präzellen entwickelt sich über die aus Vulkanen stammenden Phosphate<br />
ein einfacher Stoffwechsel. Anorganische Polyphosphate sind zwar stabil gegen<br />
Wasser, aber instabil gegen kohlenstoffhaltige Hydroxylgruppen. Sie verbinden<br />
sich solcherart leicht mit anderen geeigneten Stoffen zu reaktionsfreudigen<br />
Molekülen. Die nunmehr organischen Polyphosphatverbindungen beteiligen sich<br />
rege am Aufbau weiterer Makromoleküle, unter anderem auch an der Synthese<br />
<strong>von</strong> Nukleinsäuren.<br />
Die verdrillten Doppelstränge der Desoxyribonukleinsäure (DNS) bestehen aus<br />
Desoxy-Ribose-Zucker, Phosphatresten und genau vier stickstoffhaltigen Basen<br />
Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin. Aus elektrochemischen Gründen können<br />
nur bestimmte basische Stoffe einander gegenüber liegen (komplementäre Basenpaarung:<br />
A-T und G-C). Wird durch äußere <strong>Ein</strong>flüsse ein solcher DNS-Doppelstrang<br />
aufgetrennt, so können sich an die entsprechenden Basen eines <strong>Ein</strong>zelstranges<br />
frei herumschwimmende, komplementäre Bruchstücke anlagern. Damit<br />
bildet sich wieder ein neuer DNS-Doppelstrang, der identisch mit dem Ausgangsmolekül<br />
ist. Durch diese identische Reduplikation sind solche Makromoleküle in<br />
der Lage, gleichartig aufgebaute Tochtermoleküle zu erzeugen.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 5<br />
Die Abbildung zeigt die Reduplikation eines DNS-Doppelstranges:<br />
Aus dem bereits komplexen chemischen Geschehen in der Präzelle entwickelt<br />
sich eine neue Struktur, nämlich die Zelle. Diese weist nunmehr völlig neue<br />
Funktionsmerkmale auf: einen Energiestoffwechsel, die identische Reduplikation<br />
und einen Baustoffwechsel. Für diese Arbeitsleistungen haben sich auch verschiedene<br />
Unterstrukturen innerhalb der Zelle gebildet, die in Wechselwirkung<br />
zueinander stehen (Kern, Plasma, spezialisierte Zellorganellen, Membran). Die<br />
einzelnen Vorgänge in den verschiedenen Zellabteilungen (Zellorganellen) regulieren<br />
sich gegenseitig derart, dass immer eine optimale Anpassung an die jeweiligen<br />
chemisch-physikalischen Situationen erfolgt. Die im Vergleich zur unbelebten<br />
Präzelle neuen strukturellen und funktionellen Systemmerkmale werden<br />
unter dem Sammelbegriff "Leben" zusammengefasst. Dadurch unterscheidet sich<br />
die belebte <strong>von</strong> der unbelebten Materie. Natürlich sind die Übergänge fließend<br />
und kontinuierlich, z.B. bei den Viren. In weiterer Folge entstehen dann kleinere<br />
Mikroorganismen und schließlich höhere Lebensformen mit spezialisierten Zellverbänden<br />
(Organen).<br />
Das, der stammesgeschichtlichen Entwicklung (Phylogenese) zu Grunde liegende<br />
Prinzip formulierte Charles Darwin (1850) in seiner Evolutionstheorie, wonach<br />
nur jene Strukturen überleben, welche am besten an die jeweiligen Umweltbedingungen<br />
(den Außenraum) angepasst sind. Der Motor unserer Stammesgeschichte<br />
sind die Mutationen (Veränderungen des genetischen Codes) und die<br />
Selektionen (natürliche Auslesen).
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 6<br />
Die wichtigste Funktion der DNS-Moleküle ist ihre steuernde Mitwirkung bei der<br />
Bildung <strong>von</strong> Eiweißen (Proteinen) durch gezielte Verknüpfung <strong>von</strong> Aminosäuren.<br />
Die DNS-Doppelstränge befinden sich in 46 Kernschleifen (Chromosomen) der<br />
Zellkerne. Beim Vorgang der Transkription werden sie ab einer Startposition bis<br />
zu einer Endposition mithilfe bestimmter Enzyme aufgetrennt. Von diesem Abschnitt<br />
wird auf Grund der komplementären Basenpaarung aus Nukleotidstücken<br />
eine Kopie erzeugt, die Messenger-Ribonukleinsäure (mRNS). Die RNS (Ribonukleinsäure)<br />
unterscheidet sich <strong>von</strong> der DNS (Desoxyribonukleinsäure) in ihrer<br />
Struktur nur geringfügig. Dann schließt sich der DNS-Doppelstrang wieder und<br />
die mRNS wandert aus dem Zellkern in das Zellplasma. Dort erfolgt an eigenen<br />
<strong>Ein</strong>richtungen (Ribosomen) der Vorgang der Translation. Dabei steuern jeweils<br />
drei Basen der mRNS (Basentriplett, Codon) die Anheftung einer bestimmten<br />
Aminosäure. Der eigentliche Aminosäuretransport erfolgt mithilfe der Transfer-<br />
RNS (tRNS), die auf der einen Seite über komplementäre Basenpaarungen an die<br />
mRNS andockt und auf der anderen Seite mit einer Aminosäure beladen ist.<br />
In der Basensequenz der Nukleinsäuren ist also die Information für die Verknüpfung<br />
der verschiedenen Aminosäuren zu Eiweißmolekülen (Proteinen) verschlüsselt.<br />
In diesem Zusammenhang spricht man auch vom genetischen Code.<br />
Unter einem Gen versteht man einen Abschnitt des DNS-Moleküls, also eine<br />
bestimmte Sequenz <strong>von</strong> Basentripletts, welche für die Biosynthese eines Proteins<br />
verantwortlich ist. Transkription und Translation sind biochemische Vorgänge,<br />
die durchaus mit komplizierten feinmechanischen Bearbeitungsmaschinen vergleichbar<br />
sind.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 7<br />
Die Proteine ihrerseits werden als Baustoffe oder als Enzyme (Vermittlerstoffe,<br />
Katalysatoren) für weitere chemische Reaktionen verwendet. Die Enzym-Proteine<br />
bestehen aus langen Ketten <strong>von</strong> Aminosäuren, welche sich durch Faltungen zu<br />
komplizierten räumlichen Strukturen anordnen. Dabei bilden die für die spezifische<br />
Enzymleistung wirksamen Aminosäuren eine Vertiefung in der Oberfläche.<br />
An dieses aktive Zentrum des Enzym-Proteins wird dann das passende Substratmolekül<br />
angelagert. Nun können dort bestimmte Ionen (Coenzyme) auf das<br />
Substratmolekül einwirken, sodass dieses beispielsweise chemisch verändert oder<br />
überhaupt zerlegt wird. Die Enzyme wirken so als Biokatalysatoren auf die<br />
Stoffwechselvorgänge in der Zelle, wodurch bestimmte Merkmalsstrukturen aufgebaut<br />
werden. Die Gene enthalten somit die Erbinformationen für die Entwicklung<br />
äußerer Bau- und Leistungsmerkmale des Körpers (Phäne). Die gesamte<br />
genetische Steuerung der Biosynthese <strong>von</strong> Proteinen heißt Genexpression.<br />
<strong>Ein</strong>e wesentliche Leistung der Zellen besteht in ihrer Fähigkeit sich in zwei<br />
Tochterzellen zu teilen. Der zentrale Mechanismus ist dabei die identische Reduplikation<br />
der DNS, wodurch die Erbinformation weitergegeben wird. Durch die<br />
Zellteilung wird erst Wachstum und Regeneration (Ersatz <strong>von</strong> Zellen) möglich.<br />
Zellverbände, welche aus überwiegend gleichartig strukturierten Zellen mit<br />
bestimmten Funktionen bestehen, werden als Gewebe bezeichnet. Man unterscheidet<br />
Epithelgewebe (Oberflächenschutz), Binde- und Stützgewebe, Muskelgewebe<br />
und Nervengewebe.<br />
<strong>Ein</strong> interessantes Phänomen in der Entwicklung eines Individuums (Ontogenese)<br />
ist die so genannte Zelldifferenzierung. Sämtliche Baupläne eines Lebewesens<br />
sind in den DNS-Strängen im Zellkern enthalten. Die Ursachen für die Spezialisierung<br />
der Zellen liegen einerseits in der Genaktivtät und andererseits in der<br />
Zellaktivität. Die so genannte Genregulation bewirkt, dass nur bestimmte Gene<br />
aktiv werden und die Biosynthese spezifischer Proteine steuern. Zur Genregulation<br />
werden verschiedene Verfahren angewendet, z.B. die Substratinduktion,<br />
welche als echter Regelkreismechanismus angesehen werden kann. Eigene Regulationsgene<br />
erzeugen bestimmte Repressorproteine. Diese blockieren die Startposition<br />
eines Gens. Das die Aktivität dieses Gens auslösende Substrat heftet sich<br />
an das Repressormolekül, wodurch sich dieses räumlich umlagert und seine<br />
blockierende Bindung <strong>zum</strong> Gen verliert. So können bestimmte Enzyme (RNS-<br />
Polymerasen) angreifen und die Transkription starten und kontrollieren. Das<br />
wiederum führt im Zellplasma zur Biosynthese des entsprechenden Enzym-<br />
Proteins. Falls dieses das Substrat spaltet, so sinkt im Plasma die Konzentration<br />
des Substrates. Der nunmehr wieder unbeladene Repressor kann den Genabschnitt<br />
neuerlich blockieren und die Biosynthese wird eingestellt.<br />
Neben dieser Genregulation wirken auch die Aktivitäten der Zellen als Ganzes<br />
steuernd auf die Spezialisierung der Zellen. <strong>Ein</strong>e Zelle kann sich bewegen, sich<br />
teilen, sich an andere anheften (Adhäsion), loslassen und auch sterben.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 8<br />
Bei der Befruchtung verschmelzen Eizelle und Samenzelle und damit auch ihre<br />
genetischen Informationen. Durch fortwährende Zellteilung bildet sich daraufhin<br />
das Blastoderm, ein Zellhaufen mit über 100 000 Zellen. Durch Wanderung und<br />
Adhäsion der Zellen kommt es zur <strong>Ein</strong>stülpung des Blastoderms, zur Gastrulation,<br />
wobei sich drei Zellplatten herausbilden (Keimblätter): Ektoderm, Entoderm<br />
und Mesoderm. In diesem Stadium der Keimesentwicklung setzt nun der Mechanismus<br />
der embryonalen Induktion ein. Darunter versteht man die Koordination<br />
der ortsabhängigen Differenzierung der Zellen (Topobiologie). Diese erfolgt<br />
durch Zellaktivitäten und durch Genregulationen, wobei Signalstoffe erzeugt<br />
werden, die ihrerseits wiederum auf andere Zellen einwirken können. Durch diese<br />
Prozesse entwickeln sich aus den Keimblättern die Primitivorgane. Am Ende der<br />
Entwicklung steht das individuelle Lebewesen mit seinen Organsystemen.<br />
Das Altern ist ein unausweichlicher Prozess, dem jedes Lebewesen unterworfen<br />
ist. Zwei große Theorien versuchen diesen Vorgang zu erklären: die Fehler- und<br />
die Programmtheorie. Für die Vertreter der Fehlertheorie ist das Altern das unvermeidbare<br />
Resultat des Verschleißes <strong>von</strong> Zellen und ihrer Erbsubstanz auf<br />
Grund schädigender <strong>Ein</strong>flüsse, denen sie während ihres Lebens ausgesetzt sind.<br />
Der kritische Punkt ist dann erreicht, wenn die zelleigenen Reparaturmechanismen<br />
nicht mehr ausreichen, um die Fehler zu beheben. Die Befürworter<br />
der Programmtheorie sind überzeugt, dass Altern und Tod ein ureigener <strong>Teil</strong> des<br />
Lebens sind: Von Anfang an in jeder Zelle installiert, läuft ein genetisches<br />
Alterungsprogramm nach einem arttypischen Muster ab. Unstrittig jedenfalls ist,<br />
dass die Zellen altern - ob nun auf Grund sich häufender Fehler oder eines<br />
vorprogrammierten genetischen Mechanismus. <strong>Ein</strong>e wichtige biologische Uhr,<br />
die das individuelle Lebensalter mitbestimmt, ist der chemische Stoffwechsel.<br />
Der amerikanische Mediziner Richard Weindruch in Wisconsin ernährte Mäuse<br />
und Ratten nur mit zwei Drittel der normalen täglichen Kalorienzufuhr, jedoch<br />
mit allen notwendigen Vitaminen und Spurenelementen. Weil in den Zellen<br />
dieser Tiere weniger Nahrung verarbeitet wird, bilden sich auch weniger<br />
schädliche Stoffwechselprodukte, wie beispielsweise die freien Radikale (endogene<br />
Oxidantien). Diese hochreaktiven, aggressiven Moleküle sind verantwortlich<br />
für Oxidationsprozesse, welche Membranproteine und Enzymproteine, die Energie<br />
liefernden Mitochondrien im Zellplasma, und sogar Genmaterial im Zellkern<br />
zerstören können. Glücklicherweise hat die Natur Schutzmittel dagegen entwickelt:<br />
<strong>Ein</strong>erseits wurden Gene entdeckt, welche die DNS-Schäden wieder<br />
reparieren bzw. ein Enzym produzieren, welches die freien Radikale abbaut<br />
(Superoxid-Dismutase). Andererseits hemmt auch eine gesunde Ernährung, die so<br />
genannte Antioxidantien enthält (z.B. in Karfiol und Broccoli), die zerstörerische<br />
Wirkung der freien Radikale. Allgemein erweist sich die Stoffwechselgeschwindigkeit<br />
als indirekt proportional zur Lebensdauer. Langsame und schlanke Tiere<br />
leben länger, bei Ratten bis zu einem Drittel der normalen Lebensspanne.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 9<br />
Das biologische System "Mensch"<br />
Nervensystem: Kommunikation mit Umwelt und Systemkontrolle.<br />
Magen, Darm: Aufnahme der Nahrungsstoffe.<br />
Lunge: <strong>Ein</strong>atmen <strong>von</strong> Sauerstoff und Ausatmen <strong>von</strong> Kohlendioxid.<br />
Blutkreislauf, Herz: Transport der Stoffe im Organismus.<br />
Leber: Abbau, Umbau, Aufbau <strong>von</strong> Stoffen und Entgiftung.<br />
Darm, Niere, Lunge, Haut: Ausscheiden <strong>von</strong> Stoffen.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 10<br />
Die Bausteine des Organismus sind die Zellen. Diese haben im Laufe der<br />
Entwicklung hoch spezialisierte Funktionen übernommen (Muskelzellen zur<br />
Bewegung, Nervenzellen zur Signalübertragung, Drüsenzellen zur Sekretion,<br />
usw.). In der Grundstruktur bestehen sie aus einer Zellmembran, die sie <strong>von</strong> der<br />
Umgebung abgrenzt, und im Inneren aus dem Zellplasma mit verschiedenen<br />
<strong>Ein</strong>richtungen (Ribosomen, Mitochondrien usw.) und dem Zellkern mit seinen<br />
Chromosomen, die aus Desoxyribo-Nukleinsäure-Molekülen (DNS) bestehen.<br />
Im Zellplasma läuft der biochemische Stoffwechsel ab. Beim so genannten<br />
Baustoffwechsel werden Moleküle zerlegt und aus ihren Bestandteilen wieder<br />
neue aufgebaut. Im Grunde sind nur wenige Stoffklassen für den Aufbau der<br />
belebten Natur wichtig: Wasser, Salze bzw. Ionen, Kohlehydrate, Fette bzw.<br />
Lipide, Proteine (Eiweiße), Ribonukleinsäuren (RNS) und Desoxyribonukleinsäuren<br />
(DNS). Zerlegt man diese Moleküle weiter, dann erhält man ebenfalls nur<br />
wenige typische Bestandteile wie die Aminosäuren der Eiweiße oder die<br />
Fettsäuren der Fette oder den Traubenzucker der Kohlehydrate.<br />
Damit der Baustoffwechsel reibungslos funktioniert, muss ihm Energie zugeführt<br />
werden. Diese Energie liefert der Betriebsstoffwechsel (Energiestoffwechsel) der<br />
Zelle. Die Aufnahme der Betriebsstoffe (vor allem <strong>von</strong> Zucker aus dem Blut)<br />
erfolgt durch die Zellmembran. Ihre Verbrennung mit Sauerstoff in den Mitochondrien<br />
des Zellplasmas wird als biologische Oxidation bezeichnet und liefert<br />
erstens weiter verwertbare chemische Bestandteile und zweitens freiwerdende<br />
Energie, welche zur Synthese <strong>von</strong> Adenosintriphosphat (ATP) aus Adenosindiphosphat<br />
(ADP) und Phosphorsäure (P) verwendet wird.<br />
Die biologische Oxidation besteht aus einer mehrstufigen Kette <strong>von</strong> vielen<br />
<strong>Ein</strong>zelreaktionen, wo verschiedene Enzyme mitwirken. Glykolyse (Zuckerabbau<br />
zur einfacheren Brenztraubensäure), Oxidationen der Fettsäuren und Aminosäurenabbau<br />
münden in den so genannten Zitronensäurezyklus, wo eine stufenweise<br />
Umformung und Zerlegung <strong>von</strong> kohlenstoffhaltigen Säuren unter Abspaltung<br />
<strong>von</strong> Kohlendioxid CO2 erfolgt.<br />
In der Atmungskette schließlich kommt es <strong>zum</strong> Endabbau mit Hilfe <strong>von</strong> Sauerstoff<br />
unter Abspaltung <strong>von</strong> Wasser H2O. <strong>Ein</strong> zentrales Zwischenprodukt dabei ist<br />
die aktivierte Essigsäure (Acetyl- Coenzym-A), welche einerseits als Ausgangspunkt<br />
für verschiedene Molekülsynthesen dient (Fettsäuren, Transmitterstoffe,<br />
Steroidhormone, Gallensäuren usw.); andererseits wird sie mit Hilfe <strong>von</strong><br />
Sauerstoff unter Abgabe <strong>von</strong> Energie in die Endprodukte Kohlendioxid und<br />
Wasser zerlegt, welche dann ausgeschieden werden. Die Eiweißzerlegung (Abbau<br />
der Aminosäuren) führt zu dem Endprodukt Harnstoff und der Nukleinsäureabbau<br />
liefert noch zusätzlich Harnsäure. Aufnahme, Zerlegung und Ausscheidung<br />
<strong>von</strong> Substanzen kennzeichnen den Betriebsstoffwechsel.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 11<br />
Gemeinsame Wege des Stoffwechsels der Nahrungsstoffe:
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 12<br />
Nährstoffumwandlung bei der Verdauung:<br />
Die Umgebung der Zelle:<br />
Das Innere der Zelle:
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 13<br />
Der Stoffwechsel in der Zelle:<br />
Die biologische Oxidation:<br />
Die chemische Energiegewinnung:
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 14<br />
Das ATP-Molekül als Zwischenspeicher biochemisch freigesetzter Energie<br />
kommt in vielfältiger Weise <strong>zum</strong> <strong>Ein</strong>satz. Durch eine hydrolytische Spaltung<br />
(d.h. mittels Wassermolekülen) <strong>von</strong> Adenosintriphosphat (ATP) in Adenosindiphosphat<br />
(ADP) und Phosphorsäure wird die gespeicherte Energie wieder abgegeben<br />
und für unterschiedliche Aufgaben verwendet: für den aktiven Stofftransport<br />
durch die Zellmembran (Ionenpumpe), für die Synthese <strong>von</strong> Eiweißmolekülen<br />
aus Aminosäuren, für die Bildung verschiedener Aufbaustoffe und<br />
vieles mehr. Alle diese biochemischen Reaktionen laufen unter Mitwirkung <strong>von</strong><br />
spezifischen Katalysatoren ab. Diese Biokatalysatoren nennt man auch Enzyme,<br />
<strong>von</strong> denen über 2000 bekannt sind.<br />
Dem menschlichen Organismus liegt der komplexe Mikrokosmos seiner Zellen<br />
zu Grunde. Zellen sind offene Systeme, in denen ständig Materie umgeformt,<br />
Energie freigesetzt und gebunden wird. Dabei ist die Erhaltung stationärer<br />
Gleichgewichte der Stoffkonzentrationen lebensnotwendig, beispielsweise das<br />
Säure-Base-Gleichgewicht oder der Zuckergehalt im Blut.<br />
Die ständig auftretenden Störungen dieser Gleichgewichtszustände durch äußere<br />
<strong>Ein</strong>flüsse werden durch komplizierte Regulations-Mechanismen ausgeglichen.<br />
Leben besteht daher in einer dauernden Erhaltung <strong>von</strong> Fließgleichgewichten.<br />
Der zelluläre Stoffwechsel eines einzelnen Organismus ist eingebettet in den globalen<br />
Stoffwechsel der Natur. Dieser kann als Kreisprozess aufgefasst werden:<br />
Durch die, unter Lichtenergie in den Pflanzen ablaufende Photosynthese wird<br />
Zucker (C6H12O6) aus Wasser (H2O) und Kohlendioxid (CO2) gewonnen, wobei<br />
auch Sauerstoff (O2) freigesetzt wird. Zur Lichtabsorption ist dabei der grüne<br />
Blattfarbstoff (Chlorophyll) unentbehrlich. Die Photosynthese besteht aus einer<br />
Abfolge komplizierter chemischer Reaktionen, die unter Mitwirkung mehrerer<br />
Katalysatoren abläuft.<br />
Mit der Nahrungsaufnahme gelangt der Zucker in den tierischen Organismus.<br />
Durch die biologische Oxidation wird der Zucker mit Hilfe <strong>von</strong> Sauerstoff in den<br />
Zellen der Tiere verbrannt. Die freiwerdende Energie wird im ATP-Molekül<br />
gespeichert und für die verschiedenen Formen der Zellarbeit verwendet<br />
(Nervenerregung, Muskelkontraktion, Stoffsynthese, Transport, Zellteilung usw.).<br />
Als Endprodukte des zellulären Stoffwechsels werden wiederum Wasser und<br />
Kohlendioxid und einfache Stickstoffverbindungen in die Natur ausgeschieden,<br />
und der globale Kreislauf der Energie kann <strong>von</strong> neuem mit der Photosynthese<br />
beginnen.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 15<br />
Der Kreislauf der Energie<br />
Die Abbildung zeigt eine schematische Darstellung des energetischen<br />
Zusammenspiels <strong>von</strong> individuellem Organismus und umgebender Natur.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 16<br />
<strong>Ein</strong>e zentrale Frage lautet: Was ist "Lebensenergie" ?<br />
Unter Energie versteht man ganz allgemein die Fähigkeit Arbeit zu verrichten.<br />
Verzichtet man auf religiöse oder mythologische Spekulationen, dann kann die<br />
Quelle unserer Lebensenergie nur in den oben beschriebenen, Energie liefernden<br />
biochemischen Prozessen liegen. Die lebende Zelle arbeitet wie eine Energie<br />
transformierende Fabrik. Die synchrone Arbeit vieler Zellen eines Gewebes bewirkt<br />
eine nach außen hin beobachtbare und messbare Aktivität. Direkt beobachtbar<br />
ist der Aktivitätszustand des Organismus vor allem in vier Bereichen:<br />
• Atemtätigkeit (Frequenz, Tiefe)<br />
• Herz-Kreislauf-System (Puls, Blutdruck)<br />
• Peristaltik des Darmes<br />
• Spannungszustand der Skelettmuskulatur<br />
Die Lebensenergie ist keine eigenständige mystische Kraft, sondern sie ist der<br />
Sammelbegriff für die synchrone Arbeit unserer Zellen. Synchronisation und Regulation<br />
erfolgen durch die Signalsysteme <strong>von</strong> Nerven- und Hormonsystem. Mit<br />
Lebensenergie wird auch oft die Selbstheilungskraft des Organismus bezeichnet.<br />
In der Menschheitsgeschichte taucht dieser Begriff der Lebensenergie in verschiedenen<br />
Formen auf: QI (China), Prana (Indien), Num (Afrika), Vis vitalis<br />
(Europa), Libido (Sigmund Freud), Orgon (Wilhelm Reich).<br />
[1.1.2] Das Nervensystem und seine Bausteine<br />
Das Nervensystem besteht aus dem somatischen und dem vegetativen System.<br />
Das somatische Nervensystem kontrolliert die Kommunikation mit der Umwelt<br />
und gliedert sich in zwei <strong>Teil</strong>bereiche:<br />
Das sensorische System besteht aus den Rezeptoren (Sinnesorganen) und den <strong>von</strong><br />
der Peripherie zur Zentrale führenden Nerven (afferent). Es dient somit zur<br />
Aufnahme und Verarbeitung <strong>von</strong> äußeren Reizen. Das motorische System besteht<br />
aus den <strong>von</strong> der Zentrale zur Peripherie führenden Nerven (efferent) und den<br />
Effektoren (Muskeln). Es dient somit zur Steuerung der Körpermotorik.<br />
Das vegetative Nervensystem steuert und koordiniert die Funktionen der inneren<br />
Organe (Verdauung, Atmung, Herztätigkeit, usw.)<br />
Zusätzlich wird zwischen zentraler Informationsverarbeitung (Gehirn, Rückenmark)<br />
und peripherer Informationsverarbeitung unterschieden.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 17<br />
Die Nervenzellen mit ihren Fortsätzen<br />
Die Bausteine des Nervensystems sind die Neuronen. <strong>Ein</strong> Neuron enthält die<br />
eigentliche Nervenzelle, viele zuleitende Fortsätze (Dendriten) und immer nur<br />
einen wegleitenden Fortsatz (Neurit, Axon). Die Nervenzelle besteht aus dem<br />
Zellkern mit seinen Chromosomen und dem Zellplasma, wo in bestimmten <strong>Teil</strong>en<br />
(Zellorganellen) wichtige chemische Stoffwechselvorgänge ablaufen.<br />
Die Kontaktstellen zwischen zwei Neuronen heißen Synapsen. Diese unterteilt<br />
man in die präsynaptische Membran, den synaptischen Spalt und die postsynaptische<br />
Membran.<br />
In der Abbildung sind im Inneren der Zelle einzelne Strukturen (Zellkern, Golgi-<br />
Apparat, Mitochondrien usw.) dargestellt. Die Blasen (Vesikel) an den synaptischen<br />
Endköpfen enthalten Transmitterstoffe, welche die Übertragung elektrischer<br />
Signale <strong>von</strong> einem Neuron auf ein anderes ermöglichen.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 18<br />
Die Nervenzelle ist <strong>von</strong> ihrer Umgebung durch eine Membran abgegrenzt. Auf<br />
Grund einer bestimmten Verteilung <strong>von</strong> Ionen (vor allem Natrium und Kalium)<br />
besteht zwischen Innenraum und Außenraum eine elektrische Spannung (Ruhepotential,<br />
ca. -70 mV). Die Membran enthält Kanäle <strong>von</strong> verschiedener Breite,<br />
durch welche selektiv bestimmte Moleküle hinein oder hinaus wandern können.<br />
Solche Ionenverschiebungen werden durch Transmitterstoffe bewirkt. Dadurch<br />
ändert sich die elektrische Spannung zwischen Innen- und Außenraum der Zelle.<br />
Diese Spannungsänderung (Aktionspotential, ca. +30 mV) wird nun entlang der<br />
Nervenfortsätze weitergeleitet. Dann werden die Ionen wieder in umgekehrter<br />
Richtung bewegt (Ionenpumpe) und das Ruhepotential hergestellt. Die Energie<br />
für die Ionenpumpe liefert das ATP-Molekül. Den ganzen Vorgang nennt man<br />
eine elektrochemische Erregung.<br />
Mit ihren Fortsätzen und Synapsen verbundene Neuronen bilden ein lokales Netz.<br />
Die im Netz weitergeleitete Information ist in der zeitlichen Aufeinanderfolge der<br />
Aktionspotentiale verschlüsselt (Frequenzmodulation).
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 19<br />
Erreicht ein Aktionspotential die präsynaptische Membran, dann werden dort so<br />
genannte Transmitter-Moleküle freigesetzt, welche den Spalt überqueren und sich<br />
an so genannte Rezeptor-Moleküle an der postsynaptischen Membran anheften.<br />
Die Rezeptoren öffnen oder schließen nun selektiv Membrankanäle, wodurch der<br />
Ioneneinstrom gesteuert wird. Somit steuern die Transmitter die Weiterleitung der<br />
elektrischen Signale, entweder erregend (exzitatorisch) oder hemmend (inhibitorisch).<br />
Bestimmte Transmitter werden in bestimmten Hirnregionen erzeugt und<br />
steuern dort die Aktivität dieser Regionen. <strong>Ein</strong>e Beeinflussung der Transmitter beeinflusst<br />
somit auch die Gehirnfunktionen.<br />
Die Wirkung vieler Medikamente beruht darauf, dass sie den natürlichen<br />
Botenstoffen nachgebaut werden und daher Rezeptormoleküle besetzen. Die<br />
agonistischen Medikamente erzielen die gleiche Wirkung wie die Botenstoffe.<br />
Antagonisten besetzen die Rezeptoren und blockieren sie ohne eine Wirkung zu<br />
erzielen. In der folgenden Abbildung sind diese Mechanismen schematisch<br />
dargestellt.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 20<br />
Gelangt ein Aktionspotential in der Nervenfaser an eine Synapse, dann kommt es<br />
dort zu einer Erregungsübertragung auf das benachbarte Neuron. Das elektrochemische<br />
Geschehen soll am Beispiel einer Synapse mit Acetylcholin (ACh) als<br />
Transmitter beschrieben werden, wobei das Acetylcholin in der Nervenendigung<br />
aus Acetyl-Coenzym-A (Acetyl-CoA) und Cholin gebildet und in den Vesikeln<br />
(Bläschen) gespeichert wird.<br />
[a] Wenn ein Aktionspotential die Endigung erreicht, öffnen sich die zuvor<br />
geschlossenen Calciumkanäle und lassen Calciumionen Ca 2+ einströmen.<br />
[b] Dies bewirkt, dass die Vesikel mit der präsynaptischen Membran verschmelzen<br />
und ACh-Moleküle in den synaptischen Spalt entlassen.<br />
[c] Der freigesetzte Transmitter bindet sich an spezifische ACh-Rezeptoren auf<br />
der postsynaptischen Membran des benachbarten Neurons und löst dort die<br />
Öffnung der Natriumkanäle aus. Viele Na + -Ionen strömen ins Zelleninnere und<br />
wenige K + -Ionen nach außen. Dadurch kann ein postsynaptisches Aktionspotential<br />
aufgebaut und die Erregungsleitung fortgesetzt werden.<br />
[d] Der Transmitter ACh wird dann an den Membranrezeptoren durch das Enzym<br />
Acetylcholinesterase (AChE) sofort zu Acetat (A) und Cholin (Ch) abgebaut.<br />
[e] Diese Produkte werden <strong>von</strong> der präsynaptischen Nervenendigung aufgenommen<br />
und anschließend zur neuerlichen Synthese <strong>von</strong> Acetylcholin verwendet.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 21<br />
Transmitterstoffe und Membranrezeptoren<br />
Wie das Gehirn funktioniert, versteht man am besten, wenn man die synaptische<br />
Übertragung betrachtet, also die Weise, in der Nervenzellen Information an<br />
andere Nerven-, Muskel- oder Drüsenzellen übermitteln. In der Zusammenschau<br />
ist dieser Prozess unkompliziert: Sobald ein Aktionspotential eine Nervenfaserendigung<br />
(den präsynaptischen <strong>Teil</strong> der Synapse) erreicht, öffnet es normalerweise<br />
geschlossene, elektrisch gesteuerte Calcium-Kanäle in der präsynaptischen<br />
Membran. Calcium strömt ein und setzt die Ausschüttung <strong>von</strong> Neurotransmittersubstanzen<br />
in Gang, die durch den synaptischen Spalt diffundieren, auf<br />
Rezeptoren in der postsynaptischen Membran einwirken und so Reaktionen in der<br />
postsynaptischen Nerven-, Muskel- oder Drüsenzelle auslösen.<br />
Die durch den präsynaptischen Strom freigesetzte Neurotransmittersubstanz<br />
heftet sich an spezifische Rezeptormoleküle in der postsynaptischen Membran.<br />
Diese Rezeptoren bewirken dann Änderungen in der postsynaptischen Zelle. Bei<br />
der schnellen (weniger als eine Millisekunde benötigenden) synaptischen Übertragung<br />
steuern die Rezeptoren unmittelbar Ionenkanäle. Hierbei handelt es sich<br />
nicht um einen elektrisch gesteuerten, sondern um einen chemisch gesteuerten<br />
Ionenkanal. Er ist nur zu öffnen, indem sich der Transmitter an jene Rezeptoren<br />
heftet, die die Kontrolle über den Kanal ausüben. Daneben gibt es auch seltene,<br />
rein elektrisch gesteuerte Synapsen, die ohne Transmitter auskommen.<br />
Bei der schnellen erregenden synaptischen Übertragung (exzitatorisch) öffnen<br />
die Rezeptoren Natrium-Kanäle. Natrium strömt ein und verursacht eine gewisse<br />
Depolarisation (das heißt, das lokale Membranpotential wird weniger negativ).<br />
Diese erregende Reaktion (EPSP, exzitatorisches postsynaptisches Potential) ist<br />
abgestuft und in ihrer Stärke da<strong>von</strong> abhängig, wie viele Rezeptoren bzw. Kanäle<br />
aktiviert wurden. Sind ausreichend viele Rezeptoren in Tätigkeit versetzt<br />
(Summationseffekt), dann wird das Membranpotential im Anfangsteil der<br />
Nervenfaser, wo sie den Zellkörper verlässt, depolarisiert. Sobald die Aktionspotentialschwelle<br />
der hier befindlichen Natriumkanäle erreicht ist, entsteht ein<br />
postsynaptisches Aktionspotential, welches sich dann entlang der Nervenfaser<br />
weiter fortpflanzt.<br />
Bei der schnellen hemmenden synaptischen Übertragung (inhibitorisch) steuern<br />
die Rezeptoren gewöhnlich geschlossene Chlorid-Kanäle. Sie öffnen diese,<br />
Chloridionen strömen ein und hyperpolarisieren die Zellmembran (ihr Potential<br />
wird also negativer als das Ruhepotential). Dieses inhibitorische postsynaptische<br />
Potential (IPSP, ca. -75 mV) verhindert das Erreichen des Schwellwertes zur<br />
Erzeugung eines Aktionspotentials, sodass keine Signalfortpflanzung erfolgen<br />
kann.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 22<br />
Heute hat die moderne Molekularbiologie bereits das Wissen und die Instrumente<br />
entwickelt, um die Neurotransmitter-Rezeptoren (die komplexe Proteinmoleküle<br />
sind) zu charakterisieren. In zunehmendem Maß wird klar, dass es weniger die<br />
bloße, als Transmitter benutzte Substanz ist, sondern der Rezeptor, der die<br />
"Botschaft" bei der synaptischen Übertragung in sich trägt. So kann ACh sowohl<br />
als erregender wie als hemmender Neurotransmitter fungieren, je nachdem auf<br />
welchen Rezeptor es einwirkt. <strong>Ein</strong> Typ <strong>von</strong> ACh-Rezeptor (nämlich der erregend<br />
wirkende Rezeptor an der neuromuskulären Endplatte) hat ein hohes Molekulargewicht<br />
und besteht aus vier Typen <strong>von</strong> Untereinheiten. Der Grund, weshalb so<br />
viele Wirkstoffe einen derart mächtigen <strong>Ein</strong>fluss auf das Gehirn haben, liegt<br />
darin, dass sie den spezifischen Rezeptoren der Nervenzellen vortäuschen sie<br />
wären Neurotransmitter. Dies gelingt ihnen, indem sie sich auf Grund ihrer<br />
chemischen Struktur an den Rezeptor anlagern und ihn entweder aktivieren<br />
(agonistische Wirkstoffe) oder das normale Transmittermolekül daran hindern,<br />
sich an den Rezeptor zu heften (antagonistische Stoffe).<br />
Bekannte klassische Transmitter sind: Acetylcholin, die Aminosäuren Glycin,<br />
Glutamat und GABA, die Monoamine Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin und<br />
Serotonin. Daneben gibt es noch einige modulierend wirkende Neuropeptide wie<br />
beispielsweise Endorphine und Enkephaline. Diese bewirken unmittelbar keine<br />
Leitfähigkeitsänderungen in den synaptischen Membranen, sondern beeinflussen<br />
Intensität und Dauer der Wirkung der klassischen Transmitter.<br />
Glutamat, eine Aminosäure, die sowohl in der Nahrung als auch in allen Zellen<br />
vorkommt, ist das Arbeitspferd unter den schnellen erregenden Neurotransmittern<br />
im Gehirn. Auch bei der Speicherung <strong>von</strong> Gedächtnisinhalten scheint es<br />
eine Schlüsselrolle zu spielen. <strong>Ein</strong> Beispiel hiefür ist die Langzeitpotenzierung<br />
(LTP). Wird eine Leitungsbahn, die Glutamat als Transmitter benutzt (etwa im<br />
Hippocampus), in rascher Folge gereizt, ruft dies eine anhaltend gesteigerte<br />
Erregbarkeit der aktivierten Synapsen hervor. Dieser Verstärkereffekt (Potenzierung)<br />
wird durch Anregung eines bestimmten Typs <strong>von</strong> Glutamatrezeptor<br />
eingeleitet, dem so genannten NMDA-Rezeptor (NMDA=N-Methyl-D-Aspartat).<br />
LTP wurde erstmals 1973 im Hippocampus entdeckt.<br />
Auch ein anderer synaptischer Wirkungsmechanismus, die Langzeitdepression<br />
(LTD), kann an Glutamatsynapsen (beispielsweise im Kleinhirn) vorkommen. Sie<br />
geht mit einer langdauernden abgeschwächten Erregbarkeit <strong>von</strong> Glutamatrezeptoren<br />
des AMPA-Typs einher (AMPA=α-Amino-3-Hydroxy-5-Methyl-4-<br />
Isoxazol-Propionsäure). Die LTD wurde erst 1981 <strong>von</strong> dem japanischen Neurobiologen<br />
Masao Ito an den Purkinje-Zellen im Kleinhirn entdeckt.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 23<br />
Gamma-Amino-Buttersäure (GABA) ist das Arbeitspferd unter den schnellen<br />
hemmenden Neurotransmittern im Gehirn. Seine Rezeptoren steuern Chloridkanäle<br />
in Nervenzellmembranen. Die Tranquilizer (Benzodiazepine) wirken auf<br />
GABA-Rezeptoren, indem sie deren Wirkungen steigern und so die Hemmung<br />
verstärken. Mit Benzodiazepinen werden panischen Angstzustände behandelt.<br />
Acetylcholin (ACh) ist der Transmitter an der neuromuskulären Endplatte<br />
zwischen Nervenfaser und Muskelzelle und an bestimmten anderen peripheren<br />
Synapsen des autonomen Nervensystems (<strong>zum</strong> Beispiel im Herzen). Er kann als<br />
der am gründlichsten untersuchte und wohl bekannteste Transmitter gelten. 1924<br />
entdeckte Otto Loewi in einem klassischen Experiment der Neurobiologie das<br />
Acetylcholin und klärte damit die Frage, ob die synaptische Übertragung vom<br />
Vagusnerv <strong>zum</strong> Herzmuskel (und auch an anderen Synapsen) elektrischer oder<br />
chemischer Natur ist. Loewis Experiment - ein Modell dafür, wie einfach ein<br />
Versuch sein kann - verdient es, genauer beschrieben zu werden. Der Vagusnerv<br />
ist einer der größeren Nerven, die das Herz kontrollieren. Aus einem Frosch kann<br />
man ihn und das Herz herauspräparieren und in einer Schale mit so genannter<br />
Ringerlösung am Leben halten. Diese Lösung ähnelt in ihrer Salzzusammensetzung<br />
dem Blut. <strong>Ein</strong>e elektrische Reizung des Vagus, ob im lebenden Tier oder<br />
an einem isolierten Herzen in einem Gefäß, verlangsamt den Herzschlag. Loewi<br />
reizte den Vagus eines in Ringerlösung überführten Herzens viele Male und löste<br />
jedesmal eine Senkung der Herzfrequenz aus. Anschließend entnahm er der<br />
Schale mit dem stimulierten Herzen etwas Lösung und gab sie in eine andere<br />
Schale mit einem zweiten Froschherzen. Auch dieses Herz schlug daraufhin langsamer.<br />
Das Experiment bewies, dass die synaptische Übertragung mit Hilfe eines<br />
chemischen Transmitterstoffes abläuft.<br />
Das Acetylcholin ist die vielleicht am besten erforschte Neurotransmittersubstanz,<br />
denn sie wirkt an neuromuskulären Endplatten und lässt sich dort sehr gut<br />
untersuchen. Es gibt zwei Haupttypen <strong>von</strong> ACh-Rezeptoren, <strong>von</strong> denen die einen<br />
erregend auf die Skelettmuskulatur einwirken (nicotinerge Rezeptoren) und die<br />
anderen beispielsweise den Herzmuskel hemmend beeinflussen (muscarinerge<br />
Rezeptoren). Über ACh-Bahnen im Gehirn weiß man weitaus weniger. Die<br />
Zellkörper der wichtigsten ACh-Bahn des Gehirns befinden sich im Nucleus<br />
basalis (ihre Fasern ziehen in weite <strong>Teil</strong>e der Großhirnrinde) und in den Septumkernen<br />
(deren Fasern <strong>zum</strong> Hippocampus ziehen). In den Gehirnbahnen übt ACh<br />
anscheinend keine schnellen synaptischen Wirkungen aus (wie es dies an den<br />
Muskeln tut), sondern ruft eher langsame synaptische Effekte über zusätzliche<br />
Vermittlerstoffe (second messenger) hervor. Bei der langsamen und schnellen<br />
synaptischen Übertragung gleichen sich die ersten Schritte bis einschließlich zu<br />
dem Moment, in dem sich der Überträgerstoff an die Rezeptormoleküle der<br />
postsynaptischen Membran anlagert; doch dann trennen sich ihre Wege.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 24<br />
Langsame Rezeptoren sind nicht direkt an Ionenkanäle gekoppelt. Sie aktivieren<br />
statt dessen so genannte G-Proteine, die ihrerseits Vermittlerstoffe im Inneren der<br />
Zelle aktivieren. Beispielhaft für ein solches System ist die (durch das G-Protein<br />
vermittelte) Umwandlung <strong>von</strong> ATP in cAMP (zyklisches Adenosinmonophosphat).<br />
cAMP wirkt dann als second messenger für die Phosphorylierung eines<br />
Proteins, d.h. die Verbindung eines Proteinmoleküls mit einem Phosphatmolekül.<br />
Dadurch wird das Protein als Enzym aktiv und beschleunigt einen bestimmten<br />
biochemischen Prozess im intermediären Stoffwechsel der Zelle.<br />
Weitere gut untersuchte Neurotransmitter des Gehirns sind die zwei Monoamine<br />
Dopamin und Noradrenalin. Sie werden in den Zellen aus Tyrosin hergestellt,<br />
einer Aminosäure, die gewöhnlich in der Nahrung vorkommt. Tyrosin wird<br />
zunächst in L-Dopa, dann in Dopamin, schließlich in Noradrenalin und zuletzt in<br />
Adrenalin umgewandelt. Welches Endprodukt - ob Dopamin oder Noradrenalin -<br />
entsteht, hängt da<strong>von</strong> ab, welche Enzyme in der Zelle vorliegen.<br />
Es gibt drei wichtige dopaminerge Nervenbahnen im Gehirn. <strong>Ein</strong>e befindet sich<br />
im Hypothalamus im Zwischenhirn, eine andere erstreckt sich <strong>von</strong> der<br />
"Substantia nigra" im Mittelhirn zu den Basalganglien des Großhirns, eine<br />
weitere verläuft vom Hirnstamm zur Großhirnrinde und zu anderen Vorderhirnstrukturen.<br />
Bei der Parkinson-Krankheit (Schüttellähmung) gehen dopaminhaltige<br />
Zellen in der "Substantia nigra" zu Grunde. Die Symptome der Erkrankung<br />
sind Ausdruck der daraus resultierenden verminderten Dopaminübertragung<br />
in den Basalganglien. Injiziert man den Patienten L-Dopa (welches sich im<br />
Gehirn in Dopamin umwandelt), verbessert sich ihr Zustand.<br />
Das dopaminerge System, welches auf das Vorderhirn hinzielt (projiziert), scheint<br />
eine Rolle bei der schweren Geisteskrankheit Schizophrenie zu spielen. Im<br />
Allgemeinen blocken Substanzen, die schizophrene Symptome lindern, dopaminerge<br />
Synapsen im Gehirn. Viele Forscher vertreten so die Ansicht, Ursache<br />
der Schizophrenie sei eine Überaktivität des mesolimbischen Dopaminsystems in<br />
der Tiefe des Großhirns und eine kompensatorische Unteraktivität im Vorderhirn.<br />
Fast alle noradrenergen Bahnen des Gehirns entspringen im "Locus coeruleus",<br />
einer kleinen Nervenzellansammlung im Hirnstamm, und entsenden ihre Fasern<br />
zu praktisch allen Vorderhirnstrukturen. Das Noradrenalinsystem soll das<br />
Aktivierungsniveau regulieren (ARAS, aufsteigendes retikuläres System) und<br />
möglicherweise an der Konsolidierung des Gedächtnisses mitwirken (Langzeitspeicherung<br />
<strong>von</strong> Gedächtnisinhalten).
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 25<br />
Serotonin ist ein weiterer Neurotransmitter, der in den Zellen aus einer in der<br />
Nahrung vorkommenden Aminosäure hergestellt wird, dem Tryptophan (es ist in<br />
Bananen reichlich vorhanden). Serotonin wird wie Dopamin und Noradrenalin<br />
zur chemischen Klasse der Monoamine gezählt. Die Zellkörper der serotonergen<br />
Bahnen im Gehirn befinden sich hauptsächlich in den so genannten Raphe-<br />
Kernen des Hirnstammes. Ihre Fasern ziehen <strong>zum</strong> Hypothalamus im Zwischenhirn<br />
und zu Vorderhirnstrukturen des Großhirns.<br />
Bei schwerer Depression scheinen die noradrenergen und serotonergen Bahnen<br />
eine Rolle zu spielen. Es gibt zwei Formen der Depression: Bei der einen handelt<br />
es sich um eine anhaltende schwere Verstimmung (Major Depression), bei der<br />
anderen tritt neben der schweren depressiven Verstimmung mindestens eine<br />
manische Episode auf (Bipolare Störung, früher als manisch-depressive<br />
Erkrankung bezeichnet). Im Allgemeinen lassen sich schwere depressive Zustände<br />
durch Substanzen günstig beeinflussen, welche die Aktivität noradrenerger<br />
und serotonerger Bahnen im Gehirn erhöhen oder verstärken. Allerdings gelingt<br />
es diesen Substanzen kaum, die Symptome der bipolaren Störung zu lindern.<br />
Jedoch sprechen Patienten mit bipolarer Störung auf Lithium gut an.<br />
Alle diese für das psychische Wohlbefinden offenbar entscheidenden Neurotransmittersysteme<br />
des Gehirns scheinen über den langsamen Mechanismus der<br />
"second messenger" zu wirken. Interessanterweise machen sie nur wenige<br />
Prozent der gesamten Nervenüberträgerstoffe im Gehirn aus. Die schnellen<br />
Transmitter wie Glutamat und GABA kommen sehr viel häufiger vor und sind<br />
viel weiter verbreitet. Die langsamen synaptischen Wirkungen dauern einige<br />
Zehntelsekunden und dienen häufig der Modulation der schnellen Transmitterwirkungen.<br />
So dämpfen beispielsweise so genannte Opiate an den Synapsen im<br />
Rückenmark die Schmerzübertragung mittels Glutamat.<br />
Der Nachweis <strong>von</strong> Nervenzellrezeptoren im Gehirn, die auf Opium und seine<br />
Abkömmlinge - Morphin und Heroin - ansprechen, ist ein verblüffendes<br />
Forschungsergebnis der neueren Zeit. In der Folge stieß man auf Hirnopiate, <strong>von</strong><br />
Nervenzellen und Hypophyse (Hirnanhangdrüse) hergestellte Substanzen, die auf<br />
eben diese Rezeptoren einwirken und sehr ähnliche Effekte wie Morphin<br />
hervorrufen: Sie lindern Schmerzen und lösen angenehme Empfindungen aus.<br />
Die Hirnopiate sind allesamt Peptide (Ketten <strong>von</strong> Aminosäuren) und entstammen<br />
drei Superhormonfamilien, deren Aufbau <strong>von</strong> den Genen der entsprechenden<br />
Zellen gesteuert wird. Diese drei riesigen Eiweißmoleküle werden gespalten, um<br />
die viel kleineren opiumähnlichen Peptide hervorzubringen: Endorphine,<br />
Enkephaline und Dynorphine. Enkephaline findet man in Nervenzellen, die <strong>zum</strong><br />
langsamen Schmerzsystem gehören. Endorphin wird <strong>von</strong> der Hypophyse freigesetzt.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 26<br />
Die grundsätzliche Arbeitsweise <strong>von</strong> Neuronen im Netz<br />
<strong>Ein</strong> Neuron ist idealisiert ein einfaches Schaltelement, das viele <strong>Ein</strong>gangssignale<br />
Xi (Inputs) in ein Ausgangssignal Y (Output) umwandelt. Die Signale sind<br />
digitalisiert, d.h. 0 = KEIN Signal und 1 = EIN Signal. Der Index i bezeichnet<br />
die i-te Synapse <strong>von</strong> insgesamt n Inputleitungen. Die Verbindungsstärke einer<br />
Synapse mit dem Neuron ist durch die Anzahl der chemischen Transmitterspeicher<br />
und Rezeptor-Moleküle gegeben. Man nennt sie Synapsengewicht Wi.<br />
Das Neuron bildet die gewichtete Summe aller Inputs S = Σ (Wi * Xi). Dann wird<br />
diese Summe mit einem internen Schwellwert G verglichen.<br />
Ist S < G, dann bleibt das Neuron stumm, sein Outputsignal ist 0.<br />
Ist S = G oder S > G, dann feuert das Neuron, sein Outputsignal ist 1,<br />
d.h. an seiner Membran entsteht ein Aktionspotential.<br />
Lernen bedeutet eine Änderung des neuronalen Netzes, d.h. es ändern sich nachhaltig<br />
die Synapsenstärken Wi der beteiligten Neuronen. Damit ändert sich auch<br />
die gesamte Outputleistung des Netzes.<br />
[1.1.3] Gliederung des zentralen Nervensystems (ZNS)<br />
Der überwiegende <strong>Teil</strong> der ungefähr 200 Milliarden Neuronen des zentralen<br />
Nervensystems befindet sich im Gehirn. Dabei kann eine Nervenzelle bis zu<br />
10000 Synapsen aufweisen, sodass ein vielschichtiges Netzwerk entsteht. Die<br />
Zellen selbst erscheinen als graue, ihre Fortsätze als weiße Substanz.<br />
Das ZNS besteht oben aus dem Gehirn in der Schädelhöhle und setzt sich nach<br />
unten durch das Hinterhauptsloch der Schädelbasis in das Rückenmark im<br />
Wirbelkanal der Wirbelsäule fort. Im interzellulären Raum befinden sich neben<br />
Blutgefäßen noch so genannte Gliazellen, die für bestimmte Nervenfasern isolierende<br />
Hüllschichten (Markscheiden) produzieren. Die Gliazellen umkleiden<br />
auch die Blutgefäße und tragen so zur Blut-Hirn-Schranke bei, die verhindert,<br />
dass viele Substanzen (z.B. Antibiotika) weiter ins Gehirn gelangen.<br />
Das Nervengewebe wird geschützt durch drei Hirnhäute. Im Spalt zwischen den<br />
beiden inneren Häuten befindet sich die Hirnflüssigkeit (Liquor cerebrospinalis),<br />
die in den vier Hirnkammern (Ventrikeln) gebildet wird und als Stoßdämpfer<br />
dient. Die Flüssigkeit wird durch die venösen Blutgefäße resorbiert.<br />
Die Blutversorgung des Gehirns erfolgt frontal über die zwei Kopfarterien (a.<br />
carotis) und dorsal über die zwei Wirbelarterien (a. vertebralis).
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 27<br />
Von oben nach unten wird das ZNS grob in folgende Abschnitte gegliedert:<br />
Großhirn - Hirnstamm und Kleinhirn - Verlängertes Mark - Rückenmark<br />
Das Gehirn ist grundsätzlich in zwei Hälften geteilt, wobei jede für die gegengleiche<br />
Körperhälfte zuständig ist. Alle afferenten (zuleitenden) und efferenten<br />
(wegleitenden) Bahnen kreuzen auf die Gegenseite.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 28<br />
Der entwicklungsgeschichtlich ältere Hirnstamm wird in Zwischenhirn, Mittelhirn<br />
und Brücke unterteilt. Das dahinter liegende Kleinhirn dient der Koordination<br />
der Körpermotorik. Das jüngere Großhirn gliedert sich in das weiße Mark<br />
innen und die außen liegende graue Rinde (Cortex). In der Tiefe des Großhirns<br />
erstreckt sich das ältere limbische System, das auch Anteile am Hirnstamm hat.<br />
Unter einem Kern (nucleus) versteht man eine abgrenzbare Ansammlung <strong>von</strong><br />
Nervenzellen, welcher eine bestimmte Funktion zugeordnet ist. Im gesamten<br />
Gehirn hat man viele solche Kerngebiete lokalisiert. Dies geschieht meistens<br />
durch elektrische Reizung mit dünnen, vorsichtig eingeführten Stahlelektroden.<br />
Das Großhirn (Telencephalon)<br />
Außen befindet sich die graue, aus Nervenzellen bestehende Großhirnrinde und<br />
innen das weiße, aus Nervenfasern bestehende Großhirnmark. Ohne Hirnrinde<br />
(Cortex) ist kein bewusstes Erleben möglich. <strong>Ein</strong>e ausführliche Beschreibung des<br />
Großhirns erfolgt weiter unten.<br />
Das Zwischenhirn (Diencephalon)<br />
Unterhalb des Großhirns befindet sich das Zwischenhirn. In der Mitte liegt die<br />
dritte Hirnkammer (Ventrikel), seitlich dorsal befinden sich die beiden Thalami<br />
(Sehhügel). In diese strahlen die afferenten sensorischen Fasern <strong>von</strong> den Sinnesorganen<br />
ein und werden in den Thalamus-Kernen umgeschaltet. Entweder erfolgt<br />
die Weiterleitung zur Cortex (bewusstes Erleben) oder die Umschaltung zu<br />
ventralen Steuerkernen im Hirnstamm, welche die Körpermotorik regulieren. Der<br />
Thalamus wird auch als das Vorzimmer <strong>zum</strong> Bewusstsein bezeichnet. In einer<br />
Schleife zwischen Großhirn und Thalamus erfolgt über absteigende und aufsteigende,<br />
hemmende und erregende Impulse die Kontrolle der bewussten Aufmerksamkeit.<br />
Am Boden der dritten Hirnkammer liegt der so genannte Hypothalamus<br />
mit seinen Steuerzentren für Temperaturregelung, Sexualität, Lust,<br />
Hunger und Durst. An den Hypothalamus schließen die zwei Hormondrüsen<br />
Epiphyse und Hypophyse. Das Zwischenhirn ist die Schnittstelle zwischen dem<br />
zentralen somatischen Nervensystem, dem vegetativen Nervensystem und dem<br />
Hormonsystem.<br />
Das Mittelhirn (Mesencephalon)<br />
Die dritte Hirnkammer setzt sich hier nach unten als schmaler Gang fort. Ventral<br />
(vorne) liegt das Tegmentum (Haube) mit seinen motorischen Ursprungskernen<br />
<strong>von</strong> einigen Hirnnerven und dorsal (hinten) liegt das Tectum (Vierhügelplatte).
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 29<br />
In das Tectum strahlen Seitenäste <strong>von</strong> afferenten Bahnen ein und dessen Kerne<br />
sind für optische und akustische Reflexe verantwortlich. Weitere sehr bedeutsame<br />
Areale sind die motorischen Zentren, vor allem die Stammganglien des<br />
schwarzen und roten Kerns (Nucleus niger und Nucleus ruber). Sie sind den<br />
Basalganglien des Großhirns (Striatum und Pallidum) nachgeschaltet und steuern<br />
über absteigende Bahnen die unbewusste Körpermotorik. Dieses System wird<br />
extrapyramidal motorisch genannt (EPM) - im Gegensatz zur willkürlichen<br />
Motorik, welche <strong>von</strong> motorischen Zentren der Cortex und über die absteigende<br />
Pyramidenbahn kontrolliert wird.<br />
Die Brücke (Pons)<br />
Der schmale Gang im Mittelhirn erweitert sich nach unten zur vierten Hirnkammer.<br />
Auf deren Boden liegt die Rautengrube, an die sich zur Hirnbasis hin<br />
eine kräftige Auftreibung anschließt. Diese Brücke enthält wichtige Kerne,<br />
welche der Verbindung <strong>von</strong> Großhirn und Kleinhirn dienen (Großhirn - Kleinhirn<br />
- Bahnen). Unterhalb der Brücke liegt das verlängerte Mark.<br />
Das Kleinhirn (Cerebellum)<br />
Das Kleinhirn liegt hinter der Brücke unter dem Hinterhauptslappen des Großhirns<br />
und gliedert sich außen in eine graue Rinde und innen in ein weißes Mark.<br />
Die Kleinhirnschenkel verbinden das Kleinhirn mit dem Mittelhirn, der Brücke<br />
und dem verlängerten Mark. Die Neuronen des Kleinhirns erhalten <strong>von</strong> afferenten<br />
Fasern sensorische Meldungen vom benachbarten Gleichgewichts-Sinnesorgan<br />
und <strong>von</strong> den Sehnen-Rezeptoren der Körpermuskulatur. Nach deren Verarbeitung<br />
werden motorische Erregungen erzeugt, die zur Regulation des Muskeltonus und<br />
der Feinregulation der gesamten Körpermotorik dienen. Beinträchtigungen oder<br />
Ausfälle <strong>von</strong> Kleinhirnkernen führen zu so genannten Kleinhirnataxien (Bewegungsstörungen).<br />
Das verlängerte Mark (Medulla oblongata)<br />
Neben den <strong>zum</strong> Hirnstamm aufsteigenden und <strong>zum</strong> Rückenmark absteigenden<br />
Bahnen enthält das verlängerte Mark wichtige Kerngebiete <strong>von</strong> Hirnnerven, aber<br />
auch Steuerzentren für das vegetative Nervensystem (Atemzentrum und Kreislaufzentrum).<br />
<strong>Ein</strong> sehr interessantes Gebiet ist die formatio reticularis (ARAS,<br />
aufsteigendes, retikuläres Aktivierungssystem). Dieses verstreute Netzwerk versorgt<br />
die Großhirnrinde mit unspezifischen Erregungen und steuert so den Wachheitszustand<br />
des Individuums (<strong>von</strong> tiefster Bewusstlosigkeit bis zur hellwachen<br />
Aufmerksamkeit).
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 30<br />
Aus dem Gehirn treten im Gebiet des Hirnstammes und des verlängerten Markes<br />
12 Hirnnerven-Paare, welche sensorische, motorische und vegetative Anteile<br />
aufweisen (für jede Körperhälfte ein Nerv). Diese innervieren vor allem verschiedene<br />
Bereiche des Gesichtsschädels. Beispiele dafür sind:<br />
II. Hirnnerv (Sehnerv, N. opticus): Netzhaut des Auges - Sehnervenkreuzung -<br />
Zwischenhirn - Thalamus - Großhirnrinde.<br />
V. Hirnnerv (Drillingsnerv, N. trigeminus): Austrittsstelle bzw. <strong>Ein</strong>trittsstelle ist<br />
die Brücke (Pons). Motorische Versorgung: Kaumuskeln. Sensorische Versorgung<br />
<strong>von</strong> Gesichts- und Kopfhaut, Nasen-, Mund- und Augenhöhle.<br />
X. Hirnnerv (herumschweifender Nerv, N. vagus): Austrittsstelle bzw. <strong>Ein</strong>trittsstelle<br />
ist das verlängerte Mark. Parasympathische Versorgung der inneren Organe<br />
in Kopf-, Hals-, Brust- und Bauchraum. Sensorische Versorgung <strong>von</strong> Kehlkopf<br />
und inneren Organen.<br />
Aus dem Rückenmark treten beidseitig durch die Zwischenwirbellöcher in der<br />
Wirbelsäule 31 Körpernerven-Paare. Jeder dieser Spinalnerven versorgt ein bestimmtes<br />
Körpersegment, bestehend aus einem Hautbereich (Dermatom), einem<br />
Muskelbereich (Myotom) und einem inneren Organbereich (Enterotom).<br />
Im Wirbelkanal liegt in Form einer Schmetterlingsfigur die graue Substanz der<br />
Nervenzellen, umgeben <strong>von</strong> der weißen Substanz ihrer Fortsätze. Hinten strahlen<br />
die sensorischen afferenten Fasern der Körpernerven ein, vorne liegen die motorischen<br />
efferenten Leitungsbahnen. Die Nervenzellen der grauen Substanz dienen<br />
erstens der direkten Umschaltung <strong>von</strong> sensorischen auf motorische Leitungen<br />
(Reflexschaltungen zur automatischen Bewegungskoordination). Zweitens dienen<br />
sie entweder der Weiterleitung der sensorischen Signale <strong>von</strong> den Rezeptoren in<br />
der Peripherie <strong>zum</strong> Gehirn (Hinterstrang) oder der Weiterleitung <strong>von</strong> motorischen<br />
Signalen <strong>von</strong> der Zentrale zu den Muskeln in der Peripherie. Dabei sind die<br />
Bahnen der unwillkürlichen Motorik (EPM-System, Vorderstrang) und jene der<br />
willkürlichen Motorik (Pyramidenbahn, Seitenstrang) zu unterscheiden.<br />
Die drei Hauptfunktionen des Nervensystems<br />
Verbindung mit der Welt: Aufnahme, Verarbeitung, Beantwortung <strong>von</strong> Reizen.<br />
Das entspricht der sensorischen, zentralen und motorischen Informationsverarbeitung.<br />
Bemerkenswert ist, dass die sensorischen Funktionen <strong>zum</strong>eist dorsal<br />
(hinten), jedoch motorische Funktionen <strong>zum</strong>eist ventral (vorne) zu finden sind.<br />
Regulation der Organtätigkeit: vor allem durch das vegetative Nervensystem.<br />
Sitz des Bewusstseins: im Gehirn, insbesonders in der Großhirnrinde.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 31<br />
[1.1.4] Gehirn und Großhirn<br />
Von außen betrachtet scheint die Hauptmasse des Gehirns aus den beiden<br />
Großhirnhemisphären (linke und rechte Großhirnhalbkugel) zu bestehen, welche<br />
die übrigen <strong>Teil</strong>e so überwölben, dass diese <strong>von</strong> oben und <strong>von</strong> der Seite kaum<br />
sichtbar sind. Beide Halbkugeln sind durch die Längsfurche (Fissura longitudinalis<br />
cerebri) getrennt, die bis zu den querlaufenden Fasermassen des Balkens<br />
(Corpus callosum) herunterreicht. Der Balken enthält die Verbindungsbahnen der<br />
beiden Hirnhälften.<br />
Die Oberfläche des Großhirns zeigt erhabene Windungen (Gyrus). Dazwischen<br />
liegen Furchen (Sulcus). Diese Faltung bewirkt eine deutliche Vergrößerung der<br />
aktiven Oberfläche.<br />
Die großen Lappen der Großhirnrinde heißen nach ihrer Lage:<br />
• Stirnlappen (Lobus frontalis)<br />
• Scheitellappen (Lobus parietalis)<br />
• Schläfenlappen (Lobus temporalis)<br />
• Hinterhauptslappen (Lobus occipitalis)
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 32<br />
Die Lappengrenzen werden teilweise durch fest und tief ausgebildete Furchen<br />
markiert. So ist der Schläfenlappen durch die tiefe Seitenfurche (Sulcus lateralis<br />
oder Sylvius-Spalte) gegenüber Stirn- und Scheitellappen abgegrenzt. Zwischen<br />
Stirn- und Scheitellappen verläuft die Zentralfurche (Sulcus centralis). Dahinter<br />
liegt die hintere Zentralwindung (Gyrus postcentralis), davor die vordere Zentralwindung<br />
(Gyrus präcentralis). Der stark entwickelte Hinterhauptslappen grenzt<br />
sich mit dem Sulcus parietooccipitalis vom Scheitellappen ab. Drängt man linken<br />
und rechten Hinterhauptslappen auseinander, so kommt die Region der Calcarinafurche<br />
(sulcus calcarinus) <strong>zum</strong> Vorschein. Der Schläfenlappen lässt <strong>von</strong> außen<br />
eine obere, mittlere und untere Schläfenwindung erkennen. <strong>Ein</strong>en ähnlichen Verlauf<br />
dreier übereinander gelegener Windungen zeigt der Stirnlappen. In der Tiefe<br />
der Seitenfurche liegt die so genannte Insel (Lobus insularis). Unter dem Stirnlappen<br />
liegt das Riechhirn (Riechkolben, bulbus olfactorius).<br />
Die beiden Großhirnhemisphären besitzen mit der Hirnrinde (Cortex cerebri) eine<br />
gleichmäßig dicke Randschicht grauer Substanz (ca. 5 mm), die allen Windungen<br />
und Furchen der Oberfläche folgt. Die Cortex allein enthält ungefähr 20<br />
Milliarden Neuronen. Im Innern jeder Hemisphäre erstreckt sich eine geräumige,<br />
mit Hirn-Rückenmarks-Flüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) gefüllte Hirnkammer<br />
(linke und rechte Seitenventrikel). Zwischen diesen Hohlräumen und der Hirnrinde<br />
dehnt sich eine große Masse weißer Substanz, in die mehrere Kerngebiete,<br />
die so genannten Basalganglien, eingelagert sind. Die weiße Substanz (Hirnmark)<br />
setzt sich aus Faserbündeln (Bahnen) zusammen. Es handelt sich dabei um Assoziationsbahnen,<br />
Kommissurenbahnen und Projektionsbahnen.<br />
• Die Assoziationsbahnen sind Verbindungszüge, welche verschiedene <strong>Teil</strong>e der<br />
gleichen Großhirnhemisphäre verknüpfen.<br />
• Kommissurenbahnen verbinden einander entsprechende <strong>Teil</strong>e beider Hemisphären.<br />
Sie sind unter der Längsfurche in der Mitte zwischen den Hemisphären<br />
zu einer Nervenfaserplatte, dem Balken (Corpus callosum), zusammengedrängt.<br />
• Das Großhirn steht durch seine rindenwärts (afferent) und rückenmarkwärts<br />
(efferent) ziehenden Fernbahnen oder Projektionsbahnen mit dem ganzen Organismus<br />
in wechselseitiger Verbindung. Die Projektionsbahnen durchlaufen ziemlich<br />
geschlossen die innere Kapsel (Capsula interna).<br />
Die großen subcortikal (unter der Hirnrinde) gelegenen Kerngebiete der Hemisphären<br />
heißen Basalganglien. Sie grenzen an die Seitenventrikeln. Man unterscheidet<br />
verschiedene Komponenten: den bogenförmig mit dem Seitenventrikel<br />
verlaufenden Schweifkern (Nucleus caudatus), den keilförmigen Linsenkern<br />
(Nucleus lentiformis) und den lateralen Schalenkern (Putamen). Diese Kerngebiete<br />
werden auch als Streifenkörper (Striatum) bezeichnet.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 33<br />
Schließlich muss noch der mediale bleiche Kern (Pallidum) erwähnt werden, der<br />
auch schon <strong>zum</strong> Zwischenhirn gezählt wird. Auch die Vormauer (Claustrum)<br />
wird zu den Basalganglien gerechnet.<br />
Zusammen mit Kerngebieten des Hirnstamms (den Stammganglien im Mittelhirn)<br />
sind die Basalganglien vor allem für die unbewusst ablaufende Bewegungskontrolle<br />
sehr wichtig. Zwischen dem Linsenkern, dem Schweifkern sowie dem<br />
Thalamus des Zwischenhirns verlaufen die Nervenfaserbündel der inneren Kapsel<br />
(Capsula interna). Hierbei handelt es sich um Projektionsbahnen, wie die<br />
Pyramidenbahn und die extrapyramidalen Bahnen.<br />
<strong>Ein</strong> sehr interessantes Gebiet an der Basis des Großhirns an der Grenze <strong>zum</strong><br />
Zwischenhirn ist das limbische System, welches den Balken saumförmig umgibt<br />
(limbus = Saum). Die wichtigsten Strukturen da<strong>von</strong> sind der Mandelkern<br />
(Amygdala), der Hippocampus und der Gyrus cinguli. Der Fornix ist ein dickes<br />
Nervenbündel, das die <strong>Teil</strong>e des limbischen Systems miteinander verknüpft. Es<br />
bestehen starke Verbindungen mit Bereichen des Thalamus, des Hypothalamus<br />
und der Großhirnrinde. Das limbische System spielt eine entscheidende Rolle bei<br />
der Entstehung <strong>von</strong> Gefühlen (emotionale Bewertung <strong>von</strong> sensorischen<br />
Erregungen). So konnten dort Lust-, Furcht- und Wut-Zentren lokalisiert werden.<br />
Forschungen haben gezeigt, dass der Hippocampus (Seepferdchen) für die <strong>Ein</strong>speicherung<br />
<strong>von</strong> Erregungen (Lernen, Gedächtnis) eine wichtige Funktion ausübt.<br />
Der komplexe Bau des Zentralnervensystems ist am Beispiel der Großhirnrinde<br />
besonders eindrucksvoll zu veranschaulichen. Die Rindensubstanz besteht aus<br />
sechs oberflächenparallelen, gut abgrenzbaren Schichten, die sich durch Art und<br />
Anordnung der Nervenzellen und Nervenzellfortsätze unterscheiden (z.B. die<br />
großen Pyramidenzellen). Die Anteile dieser Schichten in den einzelnen Arealen<br />
der Hirnrinde sind unterschiedlich, was auch verschiedenen Funktionen der Rinde<br />
entspricht. So heben sich Rindenfelder strukturell und funktionell <strong>von</strong>einander ab.<br />
Es muss zwischen sensorischen und motorischen Arealen unterschieden werden.<br />
Erstere liegen dorsal hinter der Zentralfurche (z.B. in der hinteren Zentralwindung).<br />
Sie verarbeiten die, <strong>von</strong> den Rezeptoren über aufsteigende Bahnen<br />
einlangenden sensorischen Erregungen zu bewussten Wahrnehmungen. Zweitere<br />
liegen ventral vor der Zentralfurche (z.B. in der vorderen Zentralwindung). Sie<br />
erzeugen für eine willkürlich beabsichtigte Bewegung jene Erregungsmuster, die<br />
über absteigende Leitungsbahnen (Pyramidenbahn) die entsprechenden Muskeln<br />
steuern. In den beiden Rindenbereichen sind sämtliche Regionen des Körpers<br />
repräsentiert (Homunculus-Projektion). Außerdem muss noch zwischen primären<br />
und sekundären Arealen unterschieden werden. Letztere enthalten so genannte<br />
Erinnerungsspuren <strong>von</strong> den primären sensorischen und motorischen Erregungsmustern<br />
und dienen auch zu deren Verknüpfung (Assoziationsfelder).
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 34<br />
<strong>Ein</strong>ige wichtige primäre sensorische und motorische Rindenfelder:<br />
1. Primäres Sehzentrum<br />
Ort : Sulcus calcarinus im Hinterhauptslappen<br />
Funktion : Umsetzung <strong>von</strong> Erregungen des Sehnervs in bewusste, optische<br />
Empfindungen<br />
Ausfall : Rindenblindheit (trotz Funktionstüchtigkeit <strong>von</strong> Auge und Sehnerv)<br />
2. Primäres Hörzentrum<br />
Ort : Heschlsche Querwindung im Schläfenlappen<br />
Funktion : Umsetzung <strong>von</strong> Erregungen des Hörnervs in bewusste, auditive<br />
Empfindungen<br />
Ausfall : Rindentaubheit (trotz Funktionstüchtigkeit <strong>von</strong> Ohr und Hörnerv)<br />
3. Primäre Hautsensibilität<br />
Ort : Abschnitte des Gyrus postcentralis hinter der Zentralfurche<br />
Funktion : Umsetzung <strong>von</strong> sensorischen Erregungen in bewusste Haut-<br />
empfindungen<br />
Ausfall : Empfindungslosigkeit in den entsprechenden Projektionsgebieten<br />
4. Primäre willkürliche Körpermotorik<br />
Ort : Abschnitte des Gyrus präcentralis vor der Zentralfurche<br />
Funktion : Bewusste Erzeugung <strong>von</strong> motorischen Erregungen für Muskel-<br />
bewegungen<br />
Ausfall : Bewegungsstörungen bestimmter Muskelgruppen (Apraxien)<br />
<strong>Ein</strong>ige wichtige sekundäre Rindenfelder (Assoziationsfelder):<br />
1. Optisches Assoziationsfeld<br />
Ort : Gyrus angularis, hinten im Schläfenlappen<br />
Funktion : Engramme (Erinnerungsspuren) <strong>von</strong> visuellen Signalmustern<br />
Ausfall : Alexie, Unfähigkeit zu Lesen<br />
2. Auditives Assoziationsfeld<br />
Ort : Wernikesche Sprachregion, hinten im Schläfenlappen<br />
Funktion : Engramme <strong>von</strong> akustischen Signalmustern<br />
Ausfall : Sensorische Aphasie, Unfähigkeit <strong>zum</strong> Wortverstehen<br />
3. Sprachmotorisches Assoziationsfeld<br />
Ort : Brocasche Sprachregion, seitlich hinten im Stirnlappen<br />
Funktion : Engramme <strong>von</strong> motorischen Wort- und Satzmustern<br />
Ausfall : Motorische Aphasie, Unfähigkeit <strong>zum</strong> sinnvollen Sprechen
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 35<br />
4. Schreibmotorisches Assoziationsfeld<br />
Ort : Vor dem Gyrus präcentralis<br />
Funktion : Engramme <strong>von</strong> koordinierten Schreibbewegungen der Hände<br />
Ausfall : Agraphie, Unfähigkeit <strong>zum</strong> sinnvollen Schreiben<br />
Mittels verschiedener moderner Lokalisationstechniken wurde die Kartierung des<br />
Cortex in den letzten Jahrzehnten sehr verfeinert. Interessant sind die Areale im<br />
Stirnlappen. Dieser präfrontale Cortex erhält seine Zuleitungen (Afferenzen)<br />
hauptsächlich <strong>von</strong> unspezifischen Thalamus-Kernen und hat ausgedehnte reziproke<br />
Verbindungen mit verschiedenen <strong>Teil</strong>en des limbischen Systems (Hippocampus,<br />
Amygdala) und Hypothalamus.<br />
Während Hypothalamus und limbisches System für Triebe und Gefühle verantwortlich<br />
sind, erweist sich der Stirnlappen als die oberste cortikale Kontrollinstanz<br />
für triebhafte und emotionale Verhaltensweisen. Individuen mit Stirnhirnläsionen<br />
zeigen dementsprechend auch auffällige Störungen im Sozialverhalten<br />
und oftmals eine allgemeine Antriebslosigkeit.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 36<br />
[1.1.5] Sensorisches und motorisches System<br />
In der Abbildung ist die hintere Zentralwindung dargestellt, wo die Körperzonen<br />
des Menschen repräsentiert sind.<br />
Das sensorische Nervensystem leitet Signale <strong>von</strong> den Sinnesorganen in der<br />
Körperperipherie über das Rückenmark und den Hirnstamm bis in die primär<br />
sensorischen Felder der Großhirnrinde (Cortex). Dort entstehen bewusste Sinnesempfindungen.<br />
<strong>Ein</strong>e wichtige Zwischenstation vor der Cortex ist der Thalamus<br />
(Sehhügel) im Zwischenhirn, der mit vielen anderen Hirnteilen verbunden ist.<br />
Grundsätzlich gibt es drei Arten <strong>von</strong> Neuronen: (a) Die sensorischen Neuronen,<br />
deren Zellen direkt außerhalb des Rückenmarks in den hinteren Nervenwurzeln<br />
liegen. Sie erhalten Signale <strong>von</strong> den Sinnesorganen und leiten sie weiter ins ZNS.<br />
(b) Die motorischen Neuronen (Motoneuronen) befinden sich in verschiedenen<br />
Regionen <strong>von</strong> Gehirn und Rückenmark. Ihre Axone ziehen zu den Muskeln und<br />
steuern dort über die motorischen Endplatten die Kontraktion der Muskelfasern.<br />
(c) Die Interneuronen sind zwischen sensorischen und motorischen Neuronen geschaltet<br />
und machen 90 % aller Nervenzellen aus. In ihnen kommt es zur spezifischen<br />
Verarbeitung der Signale (entweder verstärkend oder abschwächend). Sie<br />
sind als Zwischenschichten in neuronalen Netzen zu finden, beispielsweise in der<br />
Netzhaut des Auges, wo sie u.a. die so genannte laterale Inhibition bewirken.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 37<br />
In der Abbildung ist die vordere Zentralwindung dargestellt, wo die Körperzonen<br />
des Menschen repräsentiert sind.<br />
Das motorische Nervensystem mit seinen Motoneuronen steuert die Kontraktion<br />
der Muskelfasern der quergestreiften Skelettmuskulatur. Die unbewusste Stütz-<br />
und Haltemotorik wird mit Reflexen über Rückenmark und Kleinhirn reguliert.<br />
Die bewusste Zielmotorik hingegen hat ihren Ursprung in der vorderen Zentralwindung<br />
der Großhirnrinde, wo die einzelnen Körperbereiche des Menschen<br />
repräsentiert sind, wo die dicke Pyramidenbahn beginnt, welche über das<br />
Rückenmark zur Muskulatur zieht. Die unwillkürliche Körpermotorik wird über<br />
extrapyramidale Bahnen (EPM) gesteuert.<br />
Neben der quergestreiften Skelettmuskulatur gibt es noch die glatte Muskulatur<br />
als Wandauskleidung <strong>von</strong> Blutgefäßen und inneren Hohlorganen. Ihre Steuerung<br />
erfolgt autonom über das vegetative Nervensystem. Das gilt auch für die Spezialmuskulatur<br />
der Herzens.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 38<br />
Die obere Abbildung zeigt das Rückenmark mit den Nervenwurzeln der Körpernerven.<br />
Die untere Abbildung zeigt einen typischen Reflexbogen.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 39<br />
[1.1.6] Das vegetative Nervensystem<br />
Das vegetative Nervensystem reguliert autonom die Tätigkeit der inneren Organe.<br />
Oberste Steuerungszentrale ist der Hypothalamus. Das vegetative Nervensystem<br />
besteht aus zwei Gegenspielern. Der Sympathikus ist der Nerv der Spannung und<br />
Unruhe (fördert Kreislauf-Funktionen, "fight or flight"). Wichtige Ursprungszellen<br />
liegen im Rückenmark und seine Fasern verlaufen über den Grenzstrang<br />
links und rechts vom Rückenmark. Der Parasympathikus ist der Nerv der Entspannung<br />
und Ruhe (fördert Verdauungs-Funktionen, "feed or breed"). Wichtige<br />
Ursprungszellen liegen im Hirnstamm und im craniosakralen Rückenmark. Die<br />
Abbildung zeigt die Wirkungen des vegetativen Systems auf einzelne Organe.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 40<br />
Die vegetativen Reflexbögen beginnen in den Rezeptoren (Mechano-, Thermo-,<br />
Chemo- und Schmerzsensoren) der glatten Muskulatur in der Wand eines inneren<br />
Hohlorgans. Der afferente Neurit führt <strong>zum</strong> sensorischen Neuron im Spinalganglion.<br />
Die Erregung wird weitergeführt über die Hinterwurzel in das Hinterhorn<br />
des Rückenmarkes. Dort erfolgt die Umschaltung auf das erste vegetative<br />
Neuron im Seitenhorn. Dessen efferenter Neurit (präganglionär) zieht über die<br />
Vorderwurzel aus dem Rückenmark zu einem vegetativen Ganglion (Nervenzellengruppe),<br />
wo die Weiterschaltung auf das zweite vegetative Neuron erfolgt<br />
(postganglionär). Sein efferenter Neurit zieht nun direkt zur Zielzelle des Erfolgsorganes<br />
(glatte Muskelfaser, Spezialmuskulatur des Herzens, Drüsenzelle).<br />
Im Gegensatz zu den Motoneuronen des zentralen Nervensystems können<br />
vegetative Signale in den Zielzellen sowohl hemmend (inhibitorisch) als auch<br />
anregend (exzitatorisch) wirken. Die Reaktion der Zielzelle hängt vom jeweiligen<br />
Erfolgsorgan ab, ist also weitgehend organspezifisch. Zur Erregungsübertragung<br />
vom postganglionären Nervenende auf die Zielzelle werden bestimmte Transmitterstoffe<br />
benötigt, die durch chemische Bindung an spezifischen Membranrezeptoren<br />
der Zielzelle die entsprechende Aktion auslösen (z.B. Aktionspotentiale<br />
zur Muskelfaserverkürzung). Damit ist der vegetative Reflexbogen abgeschlossen.<br />
Der Transmitter im präganglionären Neuron ist Acetylcholin. Die Transmitter im<br />
postganglionären Neuron sind Noradrenalin oder Adrenalin.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 41<br />
[1.1.7] Das Hormonsystem<br />
Hypophyse und untergeordnete Hormondrüsen<br />
Hormone sind chemische Botenstoffe, welche in Senderzellen erzeugt werden<br />
und dann über den Blutweg auf Empfängerzellen einwirken. Die Steuerung erfolgt<br />
nach dem Regelkreisprinzip (feed back): Das Hormon regt die Empfängerzelle<br />
zur Produktion eines bestimmten Wirkstoffes an. Dieser gelangt über das<br />
Blut zurück zur Senderzelle und hemmt dort die weitere Erzeugung des Hormons.<br />
Das führt wiederum dazu, dass die Empfängerzelle weniger Wirkstoff produziert.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 42<br />
Die Übersichttafel enthält alle wichtigen Hormone – ausgenommen der Sexualhormone.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 43<br />
Die hormonale Regelung der Geschlechtsfunktionen<br />
Hypothalamus und Hypophyse regeln die Spermatogenese (Samenzellenreifung)<br />
in den Hoden des Mannes und die Oogenese (Eizellenreifung) in den Eierstöcken<br />
der Frau. Das so genannte follikelstimulierende Hormon (FSH) des Hypophysenvorderlappens<br />
fördert direkt Keimzellenbildung und -reifung. Es ist, wie auch die<br />
anderen hypophysären Hormone, bei beiden Geschlechtern gleich. <strong>Ein</strong> weiteres<br />
auf die Keimdrüsen wirkendes Hormon des Hypophysenvorderlappens ist das<br />
luteinisierende Hormon (LH). LH und FSH werden als Gonadotropine bezeichnet,<br />
weil sie auf die Geschlechtsdrüsen (Gonaden) wirken. Das Gonadotropin-<br />
Releasing-Hormon (GnRH) des übergeordneten Hypothalamus steigert Produktion<br />
und Freisetzung der Gonadotropine in der Hypophyse.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 44<br />
Beim Mann verstärkt das LH die Testosteronbildung in den Leydig-Zwischenzellen<br />
im Nebenhoden, welche als Zellgruppen zwischen den Samenkanälchen<br />
liegen. Die Produktion und Freisetzung <strong>von</strong> Testosteron durch den Hoden erfolgt<br />
mithilfe eines Regelkreises, an dem Hypothalamus und Hypophyse beteiligt sind.<br />
Dabei werden durch einen Abfall <strong>von</strong> Testosteron im Blut zunächst das<br />
Gonadotropin-Releasing-Hormon im Hypthalamus und dann die Gonadotropine<br />
(LH, FSH) des Hypophysenvorderlappens vermehrt ausgeschüttet, was dann zur<br />
Steigerung der Testosteronbildung im Hoden führt. Testosteron wird außer im<br />
Hoden auch in der Nebennierenrinde sowie im Eierstock der Frau und in der<br />
Leber gebildet. Es steuert entscheidend die Entwicklung der männlichen<br />
Geschlechtsmerkmale, beeinflusst die sexuelle Aktivität und hat darüber hinaus<br />
anabolische Stoffwechselwirkungen (Proteinaufbau und damit Zunahme der<br />
Muskulatur).<br />
Bei der Frau stimulieren FSH und LH gemeinsam die Produktion der beiden<br />
Hormone Östrogen und Progesteron durch den Eierstock. Östrogen beeinflusst<br />
maßgeblich die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale in der Pubertät.<br />
Dazu gehören Wachstum der Brust und die geschlechtsspezifische Verteilung <strong>von</strong><br />
Unterhautfettgewebe. Beginnend mit der Pubertät (12. bis 15. Lebensjahr) reifen<br />
in den Eierstöcken die ersten Eizellen. Nach dem ersten Eisprung kommt es zur<br />
ersten Regelblutung, der Menarche. Danach stellt sich allmählich ein regelmäßiger<br />
Menstrualzyklus <strong>von</strong> ungefähr 28 Tagen ein. Der erste Tag der monatlichen<br />
Regelblutung (Menstruation) ist als erster Tag des Zyklus festgelegt. Der<br />
Zyklus entsteht durch ein kompliziertes Zusammenspiel verschiedener Hormone<br />
und Organe. Er besteht aus:<br />
• Follikelphase (l. bis 12. Tag)<br />
• Ovulationsphase (l3. bis 15. Tag)<br />
• Lutealphase (l6. bis 28. Tag)<br />
Jede dieser Phasen ist durch charakteristische Hormonspiegel im Blut und<br />
Veränderungen in verschiedenen Organen (insbesonders in Ovar und Uterus, also<br />
in Eierstock und Gebärmutter) gekennzeichnet.<br />
• Follikelphase: Zu Beginn der Follikelphase kommt es zur Menstruation. Diese<br />
beruht auf einer Abstoßung (Desquamation) eines großen <strong>Teil</strong>s der Gebärmutterschleimhaut<br />
(Endometrium). Sie tritt immer dann ein, wenn die aus dem<br />
Eierstock freigesetzte Eizelle nicht befruchtet wird. Zu dieser Zeit steigt die FSH-<br />
Ausschüttung der Hypophyse an. Dies führt zu einer beschleunigten Follikelreifung<br />
und der Oogenese im Ovar mit gleichzeitiger Erhöhung der Östrogenproduktion<br />
durch die Granulosazellen der Follikel. Dabei reift jener Follikel, der<br />
am meisten FSH bindet und am meisten Östrogen produziert, <strong>zum</strong> sprungreifen<br />
Follikel (dominanter Follikel) heran.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 45<br />
Unter <strong>Ein</strong>fluss <strong>von</strong> Östrogen regeneriert die Schleimhaut der Gebärmutter durch<br />
Wucherung (Proliferation) <strong>von</strong> Bindegewebe, Drüsenschläuchen und Gefäßen<br />
(Proliferationsphase).<br />
• Ovulationsphase: Der in der Follikelphase steigende Östrogenspiegel unterdrückt<br />
die FSH-Freisetzung der Hypophyse (negatives Feed-back) und fördert<br />
andererseits dort die LH-Produktion (positives Feed-back). Bei einem bestimmten<br />
Konzentrationsverhältnis <strong>von</strong> FSH zu LH erfolgt dann der Eisprung, wobei der<br />
Follikel platzt und die reife Eizelle im Eileiter abwärts zur Gebärmutter wandert.<br />
In dieser Phase beginnt die Erzeugung <strong>von</strong> Progesteron (Gestagen) durch den<br />
geplatzten Follikel, während die Östrogenausschüttung absinkt.<br />
• Lutealphase: Nach dem Eisprung wandelt sich der zurückbleibende Follikelrest<br />
unter <strong>Ein</strong>fluss <strong>von</strong> LH <strong>zum</strong> Gelbkörper (Corpus luteum). Er setzt steigende<br />
Mengen <strong>von</strong> Progesteron frei. Dieses Hormon verändert die Uterusschleimhaut.<br />
Die Drüsenschläuche verlängern sich und beginnen zu sezernieren (Sekretionsphase).<br />
Die Schleimhaut wird damit für die <strong>Ein</strong>nistung einer befruchteten Eizelle<br />
vorbereitet. Progesteron führt in dieser Phase auch zu einem Anstieg der<br />
Körpertemperatur um etwa 0,5°C (Basaltemperatur) sowie durch Wassereinlagerungen<br />
zu einer Erhöhung des Körpergewichts.<br />
Bleibt eine Befruchtung aus, so kommt es gegen Ende der Lutealphase zu einer<br />
Rückentwicklung des Gelbkörpers und zu einer <strong>Ein</strong>stellung der Progesteronausschüttung.<br />
In der Gebärmutter wird die äußere Schicht der Schleimhaut abgestoßen<br />
(Menstrualblutung).<br />
Durch anhaltende Erhöhung der Östrogen- und Progesteronkonzentration lässt<br />
sich die Freisetzung <strong>von</strong> GnRH des Hypothalamus und Gonadotropinen (LH,<br />
FSH) der Hypophyse hemmen und damit auch ein Eisprung im Eierstock unterbinden.<br />
Durch diese hormonale Ovulationshemmung kann eine Empfängnis<br />
(Konzeption) verhindert werden. Dazu nimmt die Frau über einen meist 28tägigen<br />
Zyklus Östrogen und Progesteron täglich in Form <strong>von</strong> Pillen ein (Antibaby-Pille).<br />
Zwischendurch wird die Hormoneinnahme kurzzeitig unterbrochen,<br />
sodass es zu einer Abstoßung der aufgebauten Gebärmutterschleimhaut (Abbruchblutung)<br />
kommt. Danach wird die künstliche Hormonzufuhr wieder fortgesetzt.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 46<br />
[1.1.8] Informationsflüsse im Nervensystem<br />
(1) Reflexe und Instinktbewegungen:<br />
Rezeptoren - unbewusste Zentren (Hirnstamm, Rückenmark) - Effektoren.<br />
(2) Wahrnehmung und willkürliches Handeln:<br />
Rezeptoren - bewusste Zentren (Großhirnrinde) - Effektoren (Muskeln).<br />
(3) Gedächtnis, Denken und Motivation:<br />
Informationsfluss zwischen unbewussten und bewussten Zentren.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 47<br />
Wichtige Stationen und Bahnen zwischen Peripherie und Zentrum<br />
• Reizaufnahme und Signalerzeugung in den Sinnesorganen.<br />
• Reflexe zur unbewussten, schnellen Reizbeantwortung im Rückenmark.<br />
• Aufsteigende sensorische Nervenbahnen im Rückenmark.<br />
• Triebzentren zur Lebenserhaltung im Stammhirn.<br />
• Emotionale Reizbewertung im Zwischenhirn und limbischen System.<br />
• Filterung der sensorischen Erregungen durch Motive (Triebe, Emotionen).<br />
• Bewusste Informationsverarbeitung in der Großhirnrinde.<br />
• Leitung der bewussten, willkürlichen Motorik über die Pyramidenbahn.<br />
• Leitung der unbewussten Motorik über das extrapyramidale System.<br />
• Motorische Reaktion (Kontraktion) der Muskeln.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 48<br />
[1.1.9] Der Weg <strong>zum</strong> Bewusstsein<br />
Nur adäquate Reize lösen in den Sinnesorganen elektrochemische Erregungen aus<br />
(erster Filter). Diese sensorischen Signale gelangen über aufsteigende Nervenbahnen<br />
in den Thalamus im Zwischenhirn.<br />
Zugleich fließen die sensorischen Signale auch <strong>zum</strong> Hypothalamus und <strong>zum</strong><br />
limbischen System und erregen dort jene Nervenzentren, in denen Triebe und<br />
Gefühle entstehen. Damit kommt es zu einer unbewussten (bzw. vorbewussten)<br />
emotionalen Bewertung der sensorischen Inputs. Diese Zentren senden ihrerseits<br />
Steuersignale <strong>zum</strong> Thalamus, wobei es zu einer neuerlichen Auswahl kommen<br />
kann (zweiter Filter).<br />
Die nunmehr gefilterten und emotional bewerteten sensorischen Inputs fließen<br />
vom Thalamus aufwärts in die entsprechenden Wahrnehmungszentren in der<br />
Großhirnrinde (Cortex). Gleichzeitig werden Erinnerungsspuren aktiviert. Erst<br />
hier in der Rinde des Großhirns entsteht Bewusstsein, d.h. ein bewusstes Wahrnehmungserlebnis.<br />
Unspezifische Wachheit<br />
Bewusste Erlebnisse in der Cortex sind nur dann möglich, wenn unspezifische<br />
Erregungen die Cortex aktivieren. Diese beginnen in einem netzartigen Nervengeflecht<br />
im verlängerten Rückenmark (formatio reticularis) und steigen über<br />
Mittelhirn und Thalamus zur Cortex auf (ARAS, aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem).<br />
Das ARAS wird durch sensorische Inputs eingeschaltet und bewirkt eine<br />
unspezifische Wachheit des Gehirns. Erst durch diese Aktivierung kann die<br />
Cortex spezifische Sinnesqualitäten (Qualia) bewusst erleben.<br />
<strong>Ein</strong>e durch einoperierte Sonden erfolgte Ausschaltung des ARAS führt bei<br />
wachen Versuchstieren zur sofortigen Bewusstlosigkeit. <strong>Ein</strong>e künstliche Elektrostimulation<br />
des ARAS führt bei schlafenden Versuchstieren <strong>zum</strong> sofortigen Aufwachen.<br />
Der Thalamus im Zwischenhirn ist ein außerordentlich wichtiger <strong>Teil</strong> des<br />
Gehirns. <strong>Ein</strong>erseits strömen dort alle sensorischen Inputs <strong>von</strong> der Körperperipherie<br />
ein, aber auch Signale vom limbischen System und vom Hypothalamus.<br />
Auf diese Weise erfolgt eine unbewusste emotionale Bewertung der<br />
Inputs. Der Thalamus kann als das Vorzimmer <strong>zum</strong> Bewusstsein angesehen<br />
werden.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 49<br />
Selektive Aufmerksamkeit und Bewusstsein als Systemfunktionen<br />
In den Thalamus als Vorzimmer der Hirnrinde münden auch absteigende Bahnen<br />
vom Stirnlappen der Hirnrinde. Über diese Leitungen erfolgt die Steuerung der<br />
selektiven Aufmerksamkeit, welche auf die zu den primären Rindenzentren aufsteigenden<br />
sensorischen Inputs einwirkt. Unter der selektiven Aufmerksamkeit<br />
versteht man die bewusste <strong>Ein</strong>engung der Wahrnehmung auf bestimmte Inhalte.<br />
Die meisten Prozesse der Informationsverarbeitung im Nervensystem sind nicht<br />
bewusst (unbewusst), z.B. Reizaufnahme und Signalerzeugung in Sinnesorganen,<br />
Erkennen <strong>von</strong> Mustern (Gestalten), die emotionale Bewertung der sensorischen<br />
Signale, direkte und einfache motorische Reizbeantwortungen, usw. Bewusst<br />
hingegen sind die gefilterten Wahrnehmungen, neu zu erlernendes Verhalten, das<br />
Nachdenken und Entscheiden bei schwierigen Handlungsalternativen, usw.<br />
Wirft man drei Holzstäbe (z.B. <strong>von</strong> einem Mikadospiel) in die Luft, so fallen sie<br />
in einer zufälligen Anordnung zurück auf den Tisch. Ordnen sie sich dabei in der<br />
Gestalt eines Dreiecks an, dann treten neue Strukturmerkmale auf, die vorher<br />
nicht zu bemerken waren: z.B. Winkel oder Fläche. Jeder muss wohl zugeben,<br />
dass es völlig unsinnig ist, <strong>von</strong> einem Winkel eines einzelnen Stabes zu sprechen.<br />
Das System (Ganzheit), in unserem Beispiel das Dreieck, ist mehr als die Summe<br />
seiner <strong>Ein</strong>zelteile (Übersummativität). Aus den Interaktionen der <strong>Teil</strong>e resultieren<br />
neue Systemmerkmale.<br />
In diesem Sinne kann das Bewusstsein als ein ganzheitliches Funktionsmerkmal<br />
des zentralen Nervensystems verstanden werden. Bewusste Erlebnisse entstehen<br />
erst dadurch, dass sich Milliarden <strong>von</strong> Nervenzellen des Gehirns im Laufe der<br />
Evolution in einer besonderen Weise anordnen, vernetzen und interagieren.<br />
Über dieses primäre Bewusstsein hinausgehend hat das Gehirn noch die Möglichkeit<br />
der Selbstbewusstheit, d.h. es kann ein Protokoll über die in ihm laufenden<br />
bewussten Prozesse der Informationsverarbeitung führen, also ein Modell des<br />
eigenen Bewusstseins entwerfen (Reflexivität). Dieses sekundäre Bewusstsein<br />
bildet sich aber erst im Dialog mit anderen Gehirnen ("Ich weiß, dass Du weißt,<br />
dass Ich fühle .......... "). Das Bewusstsein kann sich nur durch Wechselwirkung<br />
mit anderen Gehirnen entwickeln. Damit wird aber Bewusstsein zu einem <strong>Teil</strong><br />
des sozialen Miteinanders. Und mehr noch: Weil die am Dialog mit dem<br />
werdenden Gehirn teilhabenden Bezugspersonen (Eltern, Lehrer usw.) ihrerseits<br />
wieder stark <strong>von</strong> der Gesellschaft und der Kultur, in der sie leben, geprägt sind,<br />
erhält das Bewusstsein zur sozialen noch zusätzlich eine historische Dimension.<br />
Höheres Bewusstsein (Wahrnehmen, Analysieren und Bewerten des eigenen<br />
Bewusstseins) wird in dieser Sicht zu einem Entwicklungsprodukt nicht nur der<br />
biologischen, sondern auch der kulturellen Evolution.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 50<br />
[1.1.10] Das Erkenntnisproblem "Bewusstsein"<br />
<strong>Ein</strong>e Grunderfahrung ist, dass wir uns als ein wahrnehmendes, bewertendes, entscheidendes,<br />
handelndes <strong>ICH</strong> erleben, dem ein freier Wille zugesprochen wird,<br />
der allen neuronalen Verarbeitungsprozessen vorangeht. Wir glauben an einer<br />
immateriellen (geistigen) Dimension teilzuhaben, die <strong>von</strong> den Phänomenen der<br />
dinglichen Welt gänzlich verschieden ist. Die immateriellen Erlebnisse unseres<br />
Gehirns scheinen uns genau so real zu sein wie die Phänomene der materiellen<br />
Außenwelt.<br />
<strong>Ein</strong>erseits begreifen wir uns selbst als beseelte Wesen – andererseits erkennen<br />
wir, dass wir ein <strong>Teil</strong> der materiellen Natur sind, die sich evolutionär entwickelt,<br />
und welche mit einer objektiven, naturwissenschaftlichen Beschreibungssprache<br />
erklärt werden kann.<br />
Der so genannte Dualismus ist eine philosophische Theorie, welche die Existenz<br />
<strong>von</strong> zwei einander ausschließlichen Erscheinungsformen annimmt, eine immaterielle<br />
und eine materielle Welt. Sein wichtigster Vertreter war wohl René<br />
Descartes mit seinen "res cogitans" und "res extensa". Von ihm stammt auch der<br />
berühmte Satz "cogito, ergo sum" (ich denke, daher bin ich). Dieser Satz ist die<br />
Meinung des Rationalismus, welcher der geistigen Welt den Vorrang gibt vor der<br />
realen materiellen Welt.<br />
Der Dualismus hat ein Hauptproblem, nämlich das Zusammenwirken <strong>von</strong> Geist<br />
und Materie zu erklären. Wie, wo und wann wird der Körper beseelt? Ist das bei<br />
der Befruchtung, bei der Geburt oder erst in späteren Entwicklungsphasen?<br />
Die empirischen Naturwissenschaften gehen zunächst <strong>von</strong> einer materiellen Welt<br />
<strong>von</strong> objektiv beobachtbaren und messbaren Dingen aus. Die Biologie, besonders<br />
die klassische Verhaltensforschung, beobachtet das Verhalten <strong>von</strong> Tieren und<br />
versteht es als determiniert durch die genetische Organisation des jeweiligen<br />
Nervensystems und durch die individuelle Lerngeschichte, d.h. durch die Reizkonstellationen<br />
der jeweiligen Umwelt. Die verfeinerten Messmethoden der<br />
modernen Neurobiologie ermöglichen es, auch die höheren kognitiven Leistungen<br />
komplexer Gehirne objektiv darzustellen und zu analysieren. Das sind vor allem:<br />
Reize wahrnehmen und erinnern, mit selektiver Aufmerksamkeit bestimmte Reize<br />
filtern und andere unterdrücken, zwischen verschiedenen Reaktionsoptionen entscheiden,<br />
Belohnungen und Bestrafungen erkennen, soziale Bindungen herstellen<br />
und diese mit Affekten aufladen, Emotionen erleben, usw. Alle diese kognitiven<br />
Leistungen werden heute als emergente Funktionen <strong>von</strong> komplexen neuronalen<br />
Vorgängen verstanden, d.h. sie werden mit den physikalisch-chemischen Interaktionen<br />
in den Nervennetzen zwar nicht gleichgesetzt, aber sie gehen kausal<br />
erklärbar aus diesen hervor.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 51<br />
Die modernen Neurowissenschaften sehen sich drei Hauptfragen gegenüber, <strong>von</strong><br />
denen der Dualismus behauptet, dass sie aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht<br />
beantwortet werden können.<br />
(1) Wie ist die so genannte Qualia erklärbar? Darunter versteht man die spezifische<br />
Qualität subjektiver Sinnesempfindungen, beispielsweise die Farbqualität<br />
<strong>von</strong> "Blau" oder den Geschmack <strong>von</strong> "Süß" oder den unverwechselbaren Klang<br />
eines Saxophons.<br />
(2) Wie ist Selbstbewusstheit (Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion) möglich?<br />
Darunter versteht man die Grunderfahrung, dass wir uns selbst als ein wahrnehmendes,<br />
bewertendes, entscheidendes und handelndes <strong>ICH</strong> wahrnehmen. Unser<br />
Bewusstsein konstruiert ein Modell <strong>von</strong> sich selbst.<br />
(3) Wie kann der intuitive Glaube an den eigenen freien Willen erklärt werden?<br />
Darunter versteht man die grundsätzlich freie Entscheidungsmöglichkeit für verschiedene<br />
Handlungsalternativen.<br />
Im Folgenden werden wissenschaftliche Erklärversuche dieser drei Phänomene<br />
(Qualia, Selbstreflexion und Willensfreiheit) vorgestellt.<br />
(ad 1) Der Neurobiologe Francisco Varela führte folgendes Experiment durch: Er<br />
bat Versuchspersonen (Vpn) Schwarz-Weiß-Bilder anzuschauen, <strong>von</strong> denen<br />
einige Profilansichten <strong>von</strong> Gesichtern darstellten. Während die Vpn versuchten,<br />
in diesen Bildern Gestalten zu erkennen, wurden mit einem dichten Netz <strong>von</strong><br />
Elektroden Hirnströme gemessen. Die Vpn mussten durch Drücken einer Taste<br />
angeben, ob sie ein Gesicht erkannt hatten. Jedes Mal, wenn dies der Fall war,<br />
wurden über den Hirnrindenarealen, welche sich mit dem Sehen befassen, kurzfristige<br />
(einige Zehntel-Sekunden andauernde) hochsynchrone Wellen mit einer<br />
Frequenz <strong>von</strong> etwa 40 Hertz registriert. Dies war nicht der Fall, wenn die Vpn die<br />
vorgelegten Bilder nicht als Gesichter identifizieren konnten.<br />
Wenn sensorische Inputs zu einer bewussten Wahrnehmung zusammengefügt<br />
(rekonstruiert) werden, dann synchronisieren jene Neuronen, die sich in der Hirnrinde<br />
mit der Verarbeitung dieser Inputs befassen, ihre Entladungen über kurze<br />
Zeitspannen. Die zeitlich koordinierte Aktivität einer sehr großen Anzahl <strong>von</strong><br />
räumlich verteilten Nervenzellen charakterisiert somit eine bewusste Sinnesempfindung<br />
und ist damit das neurophysiologische Korrelat der Qualia.<br />
Unser Sinnessystem liefert oft nur unvollständige und lückenhafte Informationen<br />
an die Großhirnrinde. In diesen Fällen vervollständigt und ergänzt unser Gehirn<br />
mit Hilfe <strong>von</strong> gespeichertem Vorwissen die Wahrnehmung, d.h. es rekonstruiert<br />
die Wahrnehmung. Das Gleiche gilt auch für unsere Denkprozesse.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 52<br />
(ad 2) Neuronale Netze können trainiert werden oder sie können auch selbstorganisierend<br />
sein. In den selbstorganisierenden Neuronennetzen passen sich die<br />
Synapsenstärken schrittweise den einlangenden Inputmustern an. Die stummen<br />
und feuernden Neuronengruppen werden zu einem Abbild der Inputmuster, so<br />
dass gleiche Inputreize immer dieselben Neuronengruppen erregen. Das neuronale<br />
Netz ist dann zu einer Landkarte (map) der Rei<strong>zum</strong>welt geworden. Dabei<br />
kommt es auf der neuronalen Eigenschaftskarte zu einer Reduzierung der Dimensionalität.<br />
Aus der Reizvielfalt werden einige wenige Haupteigenschaften extrahiert<br />
– das sind diejenigen, in denen die Inputmuster am deutlichsten variieren. So<br />
erregen auch ähnliche Inputreize dieselben Neuronen. Diese Abstraktionsleistung<br />
ermöglicht erst die Bildung <strong>von</strong> Kategorien und ist wesentlich für das begriffliche<br />
Denken.<br />
Es gibt nun keinen Grund gegen die Annahme, dass auch die Selbsterfahrungsprozesse<br />
auf neuronalen Vorgängen beruhen. <strong>Ein</strong> erstes wichtiges Faktum ist,<br />
dass die meisten neuronalen Informationsverarbeitungen unbewusst ablaufen. Wir<br />
haben beispielsweise keinen bewussten Zugriff zu Informationen über unseren<br />
Blutdruck oder über unseren Blutzuckerspiegel, obgleich diese Variablen sehr<br />
sorgfältig gemessen, vom Gehirn ausgewertet und in Regulationsprozesse umgewandelt<br />
werden. Der wahrscheinliche Grund hierfür ist, dass diese Informationen<br />
ohne Beteiligung der Großhirnrinde verarbeitet werden. Aber auch <strong>von</strong> den in der<br />
Großhirnrinde ablaufenden Prozessen wird uns immer nur ein kleiner Ausschnitt<br />
bewusst – das sind jene Aspekte, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken<br />
und die dann unser Handeln steuern. Auch die unbewussten Prozesse hinterlassen<br />
Gedächtnisspuren und beeinflussen unser zukünftiges Handeln. Aber wir werden<br />
uns dieser Handlungsdeterminanten nicht bewusst und können sie deshalb nicht<br />
als Begründungen für unser Tun anführen.<br />
Neben diesen unbewussten Verarbeitungsprozessen im Gehirn ist eine zweite<br />
Vorraussetzung für die Konstitution eines Selbst (Ich) die so genannte soziale<br />
Interaktion. Für die Entwicklung des Selbstmodells scheint der Dialog mit den<br />
Anderen wesentlich. Dialoge der Form "Ich weiß, dass Du weißt, dass Ich fühle"<br />
führen dazu, dass wir uns in der Wahrnehmung des Anderen spiegeln. Mit Hilfe<br />
seiner Reaktionen (re)konstruiert dann das Gehirn die Selbstwahrnehmung.<br />
Damit ein effektiver zwischenmenschlicher Dialog stattfinden kann, müssen aber<br />
zwei Prämissen erfüllt sein. Erstens muss das abstrakte Denken entsprechend<br />
hoch entwickelt sein und zweitens muss die sprachliche Codierung <strong>von</strong> Vorstellungen<br />
und Denkinhalten möglich sein. Mit Ausnahme der großen Menschenaffen<br />
fehlen den Tieren diese Fähigkeiten. Auch kleine Menschenkinder besitzen<br />
sie noch nicht. Der Grund ist, dass für diese höchsten kognitiven Leistungen<br />
bestimmte Hirnstrukturen vor allem in der Großhirnrinde erforderlich sind, die<br />
erst beim Menschen im Laufe der ersten Lebensjahre ihre volle Ausprägung<br />
erfahren.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 53<br />
Somit kann die Selbstwahrnehmung (eben unser Ichbewusstsein) als eine höchst<br />
komplexe kognitive Leistung <strong>von</strong> selbstorganisierenden neuronalen Netzen verstanden<br />
werden, wobei viele unbewusste Verarbeitungsprozesse mitspielen und<br />
die soziale Kommunikation ein wesentlicher Faktor ist. Zur Erklärung der Selbstwahrnehmung<br />
ist es nicht nötig, eine Transzendenz in immaterielle Sphären zu<br />
postulieren. Auch wäre der Schluss falsch, dass hinter den kognitiven Leistungen<br />
des Gehirns ein Dirigent, eine Führungsinstanz steht, welche die neuronalen<br />
Prozesse steuert und lenkt. Die neuronalen Verarbeitungsprozesse laufen parallel<br />
und dezentral ab und erzeugen in ihrer Gesamtheit kohärente Wahrnehmungen<br />
und Handlungen. Zwar gibt es hierarchische Gliederungsebenen im Nervensystem<br />
mit reziproken Kopplungen, aber es gibt kein eigenes übergeordnetes<br />
Koordinationszentrum der parallelen Prozesse.<br />
An dieser Stelle sei auch noch ein Querverweis auf das biochemische Geschehen<br />
in der Zelle erlaubt. Schon auf molekularer Ebene gibt es so etwas wie Selbstanalyse<br />
und Selbstreparatur. Wenn bei der identischen Reduplikation eines DNS-<br />
Moleküls (des Trägermoleküls der Gene) ein Fehler passiert, dann gibt es Hilfsmoleküle<br />
(spezialisierte Enzyme), welche das DNS-Molekül analysieren und<br />
etwaige Fehler reparieren. Schon hier liegt eine elementare Form der Selbstwahrnehmung<br />
der einzelnen Zellen vor.<br />
(ad 3) Wie aber kommen wir nun zu der unerschütterlichen Überzeugung, dass<br />
unser Selbst (Ich) freie Entscheidungen treffen und über Prozesse in unserem<br />
Gehirn verfügen kann, welche dann unser Handeln steuern ?<br />
<strong>Ein</strong>e erste und vermutlich entscheidende Erfahrung mit der Zuschreibung <strong>von</strong><br />
Autonomie und Freiheit machen wir schon als Kleinkinder. Eltern sagen ihren<br />
Kindern fortwährend sie sollten dies tun und jenes lassen, weil andernfalls diese<br />
oder jene Konsequenzen einträten. Diese Verweise und die mit ihnen verbundenen<br />
Sanktionen legen den Schluss nahe, man könne sich auch anders verhalten<br />
und müsse dazu nur wollen. Wir erfahren (erleiden) also schon sehr früh eine Behandlung,<br />
welche sich durch die Annahme rechtfertigt, wir seien in unseren Entscheidungen<br />
frei – eine Annahme, die mit Hilfe der Erziehung verlässlich <strong>von</strong><br />
Generation zu Generation übermittelt wird. Wir internalisieren diese Annahme<br />
der Willensfreiheit und handeln dann in unserem Leben auch nach ihr.<br />
Die Dialoge, die ein Wertesystem vermitteln, beginnen in einer Entwicklungsphase,<br />
in der Kleinkinder noch kaum ein deklaratives Gedächtnis haben. Sie<br />
lernen, machen sich das Gelernte zu Eigen. Sie können aber nicht angeben, woher<br />
sie wissen, was sie wissen, d.h. sie erinnern sich zwar an das Gelernte, nicht aber<br />
an den Lernprozess. Diese Unfähigkeit, den Kontext bewusst zu erinnern,<br />
bezeichnet man als frühkindliche Amnesie. So erscheint den Kleinkindern das,<br />
was sie wissen als nicht verursacht, als immer schon gewusst.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 54<br />
Diese frühkindliche Amnesie könnte der Grund dafür sein, dass uns später, wenn<br />
wir beginnen über uns nachzudenken, die Inhalte des frühkindlichen Lernens als<br />
nicht verursacht erscheinen.<br />
Die Annahme einer Willensfreiheit erscheint somit als eine durch die Erziehung<br />
vermittelte Attribution. Die fehlende Erinnerung an diese frühen sozialen Lernprozesse<br />
könnte somit der Grund für die eigentümliche Transzendenz unseres<br />
Selbstmodells sein, für den Glauben an einen freien Willen, welcher unverursacht<br />
allen materiellen Prozessen vorausgeht.<br />
Bemerkenswert ist, dass wir – trotz aller Überzeugung grundsätzlich frei zu sein –<br />
in der Bewertung des eigenen und fremden Verhaltens sehr wohl zwischen freien<br />
und unfreien Akten unterscheiden. Für erstere übernehmen wir Verantwortung,<br />
für zweitere fordern wir Nachsicht. Dieser Unterschied wird bewirkt durch den<br />
Bewusstheitsgrad der Motive. Nur jene Motive erscheinen dem freien Willen<br />
unterworfen, die wir bewusst erkennen. Jene Motive hingegen, welche unbewusst<br />
wirken, unterliegen offenkundig nicht dem freien Willen.<br />
Aus der Sicht der modernen Neurowissenschaft sind die Annahme einer Willensfreiheit<br />
und die Unterscheidung <strong>von</strong> freien und weniger freien Handlungen nicht<br />
haltbar. Allen kognitiven Leistungen des Gehirns, so auch dem Entscheiden,<br />
gehen Verarbeitungsprozesse in neuronalen Netzen voran. Diese determinieren<br />
unseren Handlungsspielraum. Das Gehirn besteht aus Milliarden <strong>von</strong> Nervenzellen.<br />
<strong>Ein</strong>e Nervenzelle kann mit tausenden anderen Nervenzellen verbunden<br />
sein. In hoch organisierten Gehirnen machen die <strong>Ein</strong>gänge <strong>von</strong> den sensorischen<br />
Systemen und die Ausgänge zu den Effektoren nur einen verschwindend kleinen<br />
Prozentsatz der Verbindungen aus. Die meisten Verbindungen kommen <strong>von</strong><br />
anderen Nervenzellen. Das Gehirn beschäftigt sich also vorwiegend mit sich<br />
selbst.<br />
Das Gehirn kann seine eigene Tätigkeit, seine eigenen kognitiven Prozesse<br />
analysieren und bewerten. Aus dieser iterativen Anwendung der Kognition auf<br />
sich selbst resultiert die Selbstwahrnehmung (Ichbewusstsein).<br />
Willensentscheidungen sind mehrstufige Prozesse, bei denen sich immer das<br />
stärkste Motiv durchsetzt. Soll ein Motiv einem anderen vorgezogen werden,<br />
dann muss es gestärkt werden – beispielsweise durch überzeugende Argumente in<br />
einem sozialen Dialog. Wir sind zwar im neurobiologischen Mechanismus des<br />
Entscheidungsprozesses determiniert, aber sowohl durch äußere <strong>Ein</strong>flüsse als<br />
auch durch innere Denkakte kann es zu einer Umordnung der Motivstärken, zu<br />
einer Neuorientierung des erlernten Wertesystems kommen. Aber damit verschiebt<br />
sich nur die Determiniertheit. <strong>Ein</strong> nicht determiniertes, freies <strong>ICH</strong> ist aus<br />
neurowissenschaftlicher Sicht eine Illusion.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 55<br />
[1.2] EIN BASISMODELL DER PSYCHE<br />
Der Wiener Psychologe Hubert Rohracher (1903 - 1972) gliedert die Inhalte der<br />
Psyche in zwei Erlebnisklassen:<br />
Psychische Kräfte sind die angeborenen Instinkte und Triebe, die erlernten<br />
Interessen, die Gefühle (Emotionen) und die Willenserlebnisse. Sie werden<br />
subjektiv als drängend und zielsetzend erlebt.<br />
Psychische Funktionen sind die Wahrnehmung, das Gedächtnis (Lernen) und das<br />
Denken und Sprechen. Sie sind Werkzeuge zur Erreichung der gesetzten Ziele.<br />
Der Zusammenhang wird durch das Prinzip der funktionalen Aktivierung erklärt:<br />
es gibt keine funktionale Aktivität ohne einen inneren Antrieb oder einen äußeren<br />
Anreiz.<br />
Psychische Funktionen<br />
Wahrnehmung: Aufnehmen <strong>von</strong> Informationen.<br />
Gedächtnis (Lernen): Speichern und Abrufen <strong>von</strong> Informationen.<br />
Denken: Verknüpfen <strong>von</strong> Informationen zur Problemlösung.<br />
Sprechen: Weitergeben <strong>von</strong> Informationen durch phonetische<br />
Artikulation <strong>von</strong> bewussten Erlebnisinhalten.<br />
Psychische Kräfte<br />
Instinkte und Triebe: Angeborene Drangzustände, die überwiegend<br />
zu lebenserhaltenden Aktionen führen.<br />
Interessen: Zumeist erlernte Drangzustände, die zur Ausführung<br />
kultureller Aktionen streben.<br />
Gefühle (Emotionen): Reaktive Erlebniszustände auf äußere oder innere<br />
Reize, die angenehm oder unangenehm erlebt werden.<br />
Wollen: Bewusste Entscheidungserlebnisse.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 56<br />
Als Beispiel sei die Situation nach intensiver Sportbetätigung angeführt. Durch<br />
den Flüssigkeitsverlust beginnt über einen Regelkreismechanismus ein Nervenzentrum<br />
(Durstzentrum) im tiefer gelegenen Stammhirn zu feuern, d.h. elektrochemische<br />
Erregungen zu produzieren. Diese steigen höher in das Großhirn und<br />
erzeugen dort das unlustvolle Trieberlebnis des Durstes. Dadurch werden die<br />
Wahrnehmung, das Gedächtnis und das Denken aktiviert, um in der Umwelt nach<br />
durstlöschenden Objekten zu suchen. Nach deren Auffindung kommt es zur<br />
lustvoll erlebten Triebbefriedigung (Trinken). Dabei werden über entsprechende<br />
motorische Steuerungen passende Verhaltensweisen ausgeführt. Die Emotionen<br />
Lust und Unlust dienen als sinnvolle Triebverstärkungen. Ursprünglich sind die<br />
gestellten Handlungsziele auf Lebens- und Arterhaltung gerichtet. Mit Hilfe des<br />
psychischen Apparates, insbesondere seiner Denkleistungen hat sich das<br />
menschliche Gehirn einen entscheidenden Leistungsvorteil im täglichen Daseinskampf<br />
geschaffen.<br />
Die bewussten Erlebnisse sind Systemfunktionen <strong>von</strong> komplex vernetzten, gegenseitig<br />
miteinander gekoppelten und hierarchisch gegliederten <strong>Teil</strong>bereichen des<br />
zentralen Nervensystems, insbesondere der Großhirnrinde (Cortex). Zentrales<br />
Nervensystem und Bewusstsein haben sich evolutionär entwickelt und dienen<br />
letztendlich der optimalen Anpassung an die Umwelt. Unter Psyche versteht man<br />
die Gesamtheit der bewussten Erlebnisse, aber auch der nicht bewussten (unbewussten)<br />
Vorgänge im zentralen Nervensystem. Der Begriff Seele wird hier<br />
ausschließlich als Synonym für eine so verstandene Psyche verwendet.<br />
Entsprechend der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Gehirns und des<br />
zentralen Nervensystems durchläuft die Psyche unterschiedliche Ausbildungsstufen.<br />
Immer dann, wenn einfachere Formen sensomotorischer Informationsverarbeitung<br />
(z.B. Reflexe) zur Steuerung und Kontrolle des Organismus nicht<br />
mehr ausreichen, hat sich eine höhere und leistungsfähigere Funktionsebene<br />
entwickelt. Bei einfachen Reflexen wird ein Reiz <strong>von</strong> den peripheren Sensoren<br />
(Sinnesorganen) aufgenommen und in eine spezifische Folge <strong>von</strong> elektrischen<br />
Spannungsschwankungen verschlüsselt. Diese wird entlang <strong>von</strong> Nervenfasern<br />
über das Rückenmark oder das Stammhirn zu den Effektoren (Muskeln, Drüsen)<br />
weitergeleitet, wo der Reiz durch entsprechende motorische Reaktionen beantwortet<br />
wird. Etwas komplexer gestaltet sich der Ablauf einer Instinktreaktion.<br />
Hier fließt der Informationsstrom über höher gelegene Stammhirn-Zentren im<br />
zentralen Nervensystem. Als Beispiel sei das Hinaustreten aus einem dunklen<br />
Raum in das helle Sonnenlicht genannt. Zunächst erfolgen reflektorische<br />
Reaktionen (Pupillenreflex), dann instinktive Schutzreaktionen (Heben der Hände<br />
<strong>zum</strong> Augenschutz) und schließlich noch komplexere Verhaltensweisen (Aufsetzen<br />
einer Sonnenbrille).
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 57<br />
Reichen reflektorisches und instinktives Verhalten zur Problemlösung nicht aus,<br />
dann erfolgt die Informationsverarbeitung in den noch höher gelegenen Zentren<br />
in der äußeren Rinde des Großhirns (Cortex). Hier werden unsere Wahrnehmungen<br />
bewusst erlebt und Handlungen bewusst veranlasst. Allen diesen bewussten<br />
Erlebnissen liegen spezifische Erregungskonstellationen zugrunde, welche in<br />
wechselseitig gekoppelten Gruppen <strong>von</strong> Nervenzellen (neuronale Ensembles)<br />
ablaufen. Schließlich ziehen dann die entsprechenden elektrischen Signalfolgen<br />
über die so genannte Pyramidenbahn abwärts zu den Muskeln und steuern dort<br />
die willkürlichen Handlungen. Damit ist die höchste Stufe sensomotorischer<br />
Regelkreise erreicht: Reize werden selektiv wahrgenommen und mit motorischen<br />
Reaktionen bewusst beantwortet. Das Ergebnis des Verhaltens wird wiederum<br />
wahrgenommen (Feed-back) und führt zu neuerlichen Reaktionen, usw.<br />
<strong>Ein</strong> sensomotorischer Prozess wird bewertet (z.B. eine erfolgreiche Nahrungssuche),<br />
wenn Signale zu jenen tiefer gelegenen Nervenzentren an der Basis des<br />
Großhirns und im Zwischenhirn übermittelt werden, wo Gefühle und Triebe<br />
entstehen (limbisches System, Hypothalamus). Diese bewirken eine Bewertung<br />
(z.B. Lust - Unlust) und eine Selektion der Information. Die Filterung erfolgt im<br />
so genannten Thalamus im Zwischenhirn, das zwischen Stammhirn und Großhirn<br />
liegt. So wird beispielsweise beim sehnsüchtigen Warten auf das <strong>Ein</strong>treffen eines<br />
geliebten Menschen der Wahrnehmungsfilter durch psychische Kräfte wirksam.<br />
Zum Zeitpunkt des Erscheinens der erwarteten Person werden andere Reize (z.B.<br />
irgendein Vorfall in der näheren Umgebung) kaum wahrgenommen - die Wahrnehmung<br />
engt sich auf das entsprechende Objekt ein.<br />
Auf dem Weg vom Sensor an der Körperperipherie bis zur Rinde des Großhirns,<br />
also vom Reiz bis zu seiner bewussten Wahrnehmung, wird die Informationsmenge<br />
drastisch reduziert. Erstens werden durch die Bauart des Sensors nur<br />
adäquate Reize aufgenommen und zweitens erfolgt eine Selektion der aufgenommenen<br />
Information durch die psychischen Kräfte, d.h. eine Sensibilisierung<br />
der Wahrnehmung. Weil jeder sensorische Input emotional bewertet wird, kommt<br />
es immer zu einer Filterung der Information. Daher haben verschiedene Individuen<br />
auch unterschiedliche bewusste Bilder <strong>von</strong> ein- und demselben Bereich der<br />
Außenwelt. Was subjektiv für wirklich gehalten wird, hängt somit <strong>von</strong> den<br />
individuellen Gefühlen, Trieben und Interessen ab. Die daraus resultierende<br />
Divergenz der subjektiven Weltbilder führt nicht selten zu Konflikten.<br />
Starke triebhafte oder emotionale Bewertungen <strong>von</strong> Inhalten und wiederholte<br />
Rückkopplungen (Feed-back) <strong>von</strong> motorischem Verhalten und Sinnesrezeptionen<br />
führen zur Ausbildung <strong>von</strong> so genannten synaptischen Verstärkungen in den<br />
beteiligten Nervenbahnen. Dadurch werden die molekularen Grundlagen für das<br />
Gedächtnis geschaffen.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 58<br />
[1.3] METHODEN DER GEHIRNFORSCHUNG<br />
[1.3.1] Stereotaktische <strong>Ein</strong>griffe (Läsion und Stimulation)<br />
Mit Hilfe eines dreidimensionalen Hirnatlas und einem stereotaktischen (räumlich<br />
ausgerichteten) Apparat werden Elektroden oder Kanülen, die auf bestimmte<br />
Zielgebiete in der Tiefe des Gehirns gerichtet sind, durch eine Operation<br />
eingesetzt. Über Elektroden kann elektrischer Strom in das Zielgebiet geschickt<br />
werden, durch die Kanülen werden bestimmte chemische Substanzen eingebracht.<br />
Das Zielgebiet kann irreversibel oder reversibel ausgeschaltet werden.<br />
Bei der irreversiblen Läsion wird durch die isolierte Elektrode hochfrequenter<br />
Wechselstrom geschickt, der durch Hitzeentwicklung an der Spitze das umgebende<br />
Gewebe zerstört (Elektrokoagulation). Selektiver wirken chemische<br />
Läsionen, die nur die Zellkörper zerstören, aber nicht deren Ausläufer. Verwendet<br />
werden dazu Kainsäure und auch Ibotensäure, die über eine Kanüle in das<br />
Zielgebiet eingeschleust werden.<br />
Reversible Läsionen erfolgen durch Kühlung mit Hilfe kleiner Mengen <strong>von</strong><br />
Kaliumchlorid-Lösungen. Sinn der Läsion eines umgrenzten Hirngebietes ist es,<br />
jene Veränderungen zu registrieren, die nach der Läsion auftreten.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 59<br />
Im Gegensatz zu Läsionen werden bei Stimulationen die Zielgebiete nicht<br />
ausgeschaltet sondern künstlich gereizt. Die Reizung erfolgt über eine isolierte<br />
Elektrode mittels genau abgestimmter elektrischer Stromzufuhr. Es können aber<br />
auch winzige Mengen <strong>von</strong> chemischen Substanzen über Kanülen oder Mikropipetten<br />
an die Synapsen transportiert werden, die dort als Agonisten oder Antagonisten<br />
<strong>von</strong> bestimmten Neurotransmittern wirken. Sinn der Stimulation eines<br />
umgrenzten Hirngebietes ist es, jene Veränderungen zu registrieren, welche bei<br />
der Stimulation auftreten. Durch solche gezielte Läsionen und Stimulationen kann<br />
der kausale Zusammenhang <strong>von</strong> bestimmten Hirnregionen und bestimmten<br />
Verhaltensweisen bzw. physiologischen Funktionen sehr gut erforscht werden.<br />
[1.3.2] Enzephalogramme (EEG und MEG)<br />
Das Elektroenzephalogramm (EEG)<br />
1902 begann Hans Berger mit Experimenten an Hunden und Katzen, die ihn<br />
soweit führten, daß er 20 Jahre später über außen an der Schädeldecke befestigte<br />
Elektroden an einem siebenjährigen Patienten mit Hilfe eines empfindlichen<br />
Saitengalvanometers erstmals spontane elektrische Spannungsschwankungen der<br />
Hirnrinde registrierte.<br />
Mindestens 2 Elektroden aus Silberlegierung werden an die Schädeldecke mit<br />
einer Paste angeklebt. Sie sind mit einem Verstärker verbunden, der die<br />
elektrische Potentialdifferenz der beiden Orte verstärkt und an ein Aufzeichnungsgerät<br />
weitergibt. Diese Messungen und Aufzeichnungen erfolgen in<br />
bestimmten vorgegebenen zeitlichen Abständen. Dadurch ist es möglich, den<br />
elektrischen Spannungsverlauf zwischen den beiden Elektroden zeitlich zu<br />
erfassen. Zusätzlich werden sehr langsame Schwankungen und auch die<br />
Gleichspannungsanteile herausgefiltert, so dass nur Wechselspannungen in einem<br />
Amplitudenbereich <strong>von</strong> 1 - 200 mV und in einem Frequenzbereich <strong>von</strong> 1 - 50 Hz<br />
registriert werden. Anstelle <strong>von</strong> nur 2 Elektroden werden <strong>zum</strong>eist die zeitlichen<br />
Spannungsänderungen zwischen mehreren Elektroden aufgezeichnet, die an<br />
typischen Schädelpositionen angebracht sind. (Polygraph mit bis zu 20 Ableitungspunkten).<br />
Das mit Elektroden abgenommene elektrische Potential entsteht durch die<br />
Summierung der exzitatorischen postsynaptischen Potentiale in der obersten<br />
Rindenschicht des Großhirns. In Wirklichkeit werden die cortikalen Neuronen<br />
durch vom Thalamus aufsteigende Erregungen angetrieben. Der Thalamus wirkt<br />
somit als Tor für sensorische Impulsströme. Die Durchlässigkeit dieses Tores<br />
hängt <strong>von</strong> den inhibitorischen Signalen ab, welche über absteigende Leitungen<br />
vor allem vom präfrontalen Cortex (Stirnlappen) ankommen.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 60<br />
Durch den thalamo-cortikalen Feedback wird die selektive Aufmerksamkeit<br />
reguliert. Je größer die Hemmung des Thalamus ist, umso langsamer und synchronisierter<br />
sind die EEG-Wellen. Je ungehemmter der Thalamus ist, umso<br />
desynchronisierter und heftiger verlaufen die EEG-Schwankungen.<br />
Je nach Wachheitsgrad des Bewußtseins treten verschiedene Wellenformen im<br />
EEG auf. Im entspannten Wachzustand herrscht der Alpha-Rhythmus (8-13 Hz)<br />
vor. Bei selektiver Aufmerksamkeit (visuell und auditiv) wird er blockiert und<br />
geht in den höher frequenten Beta-Rhythmus (13-30 Hz) über. Frequenzen über<br />
30 Hz werden als Gamma-Wellen bezeichnet. Sie haben eine sehr kleine<br />
Amplitude (1-10 mV) und sehr hohe lokale Spezifität. Sie werden mit sich lokal<br />
entladenden Zellenensembles (vernetzten Neuronengruppen) in Verbindung<br />
gebracht. Die Theta-Wellen (4-8 Hz) und Delta-Wellen (unter 4 Hz) sind typisch<br />
für den Schlaf. Beim Träumen werden die langsamen Delta-Wellen durch Theta-<br />
und Beta-Phasen unterbrochen (REM-Phasen: rapid eye movement, schnelle<br />
Augenbewegungen).<br />
Im klinischen Bereich wird das EEG zur Diagnose und zur Lokalisation <strong>von</strong><br />
Funktionsstörungen der Gehirntätigkeit verwendet: bei epileptischen Anfallsleiden,<br />
bei Tumoren, bei Durchblutungsstörungen und zur Abschätzung <strong>von</strong><br />
Pharmakawirkungen und Narkosetiefen.<br />
Unter evozierten, ereigniskorrelierten Hirnpotentialen (EKP) versteht man alle<br />
elektrocortikalen Potentialschwankungen, welche kurz vor, während und kurz<br />
nach einem sensorischen, motorischen oder psychischen Ereignis im EEG<br />
messbar sind. Diese EKPs sind <strong>von</strong> wesentlich kleinerer Amplitude als das<br />
Standard-EEG. Durch spezielle mathematische Mittelungstechniken werden die<br />
EKP-Signale aus der Hintergrundaktivität (Rauschen) hervorgehoben und<br />
graphisch dargestellt. Diese Registrierungs- und Berechnungstechniken werden<br />
<strong>von</strong> Computern schnell und zuverlässig durchgeführt.<br />
Das Magnetenzephalogramm (MEG)<br />
Jede elektrische Ladungsdifferenz zwischen zwei Orten (Dipol) erzeugt eine<br />
Bewegung <strong>von</strong> elektrischer Ladung (Stromfluss). Jeder solcher Stromfluss ruft in<br />
seiner Umgebung ein magnetisches Kraftfeld hervor, dessen Feldlinien<br />
kreisförmig um die Stromrichtung verlaufen. Die hintereinander geschalteten<br />
Neuronen in der äußeren Rindenschicht wirken wie elektrische Dipole und<br />
erzeugen daher auch schwache Magnetfelder, die mit hochempfindlichen Detektoren,<br />
so genannten SQUIDS (superconducting quantum interference device)<br />
nachgewiesen werden können.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 61<br />
Die SQUIDS werden ca. 10 mm über der Schädeldecke angebracht und<br />
registrieren magnetische Feldstärkenveränderungen <strong>von</strong> weniger als einem<br />
Hundertmillionstel der erdmagnetischen Feldstärke (also kleiner als ein Pico<br />
Tesla). Mit den auf der Temperatur des flüssigen Helium gehaltenen SQUIDS<br />
wurde 1968 erstmals Alpha-Aktivität und ab 1975 auch ereigniskorrelierte<br />
Aktivität registriert.<br />
Da mit dem MEG aus technischen Gründen nur zur Schädeldecke parallele<br />
elektrische Ströme und mit dem EEG meist nur zur Schädeldecke vertikal<br />
laufende Ströme gemessen werden, lassen sich durch Kombination <strong>von</strong> MEG und<br />
EEG Quellen elektrischer Aktivität in der Cortex bis auf 2 mm Genauigkeit<br />
lokalisieren. Dadurch wird eine räumliche und zeitliche Bestimmung der gehirnelektrischen<br />
Aktivität sehr genau ermöglicht.<br />
[1.3.3] Bildgebende Verfahren (CT, PET und MRT)<br />
Zur Ergänzung <strong>von</strong> EEG und MEG, die elektrische und magnetische Aktivitäten<br />
in der Gehirnrinde registrieren, werden auch Bild gebende Verfahren in der<br />
Gehirnforschung eingesetzt. Dabei werden verschiedene Hirnschichten röntgenologisch<br />
gescannt (CT, Computertomographie), oder die regionale Hirndurchblutung<br />
mit Hilfe <strong>von</strong> radioaktiven Markierungssubstanzen gemessen (PET,<br />
Positronen-Emmissions-Tomographie), oder der Blutdurchfluss in bestimmten<br />
Arealen über die dabei verstärkten kernmagnetischen Resonanzen <strong>von</strong> Wasserstoffionen<br />
registriert (MRT, Magnetische Resonanz-Tomographie).<br />
Die Messergebnisse werden durch einen Computer ausgewertet und dann<br />
schattierte oder verschieden gefärbte grafische Bilder der Hirnregionen hergestellt.<br />
Mit diesen Bildern lassen sich neuronale Aktivitäten auch in tieferen<br />
Hirngebieten sehr gut darstellen. Der Nachteil liegt in ihrer trägen zeitlichen<br />
Auflösung (meist werden nur Prozesse, die Minuten dauern, sichtbar). Zum Abschluss<br />
sollen diese Bild gebenden Verfahren näher beschrieben werden.<br />
Röntgen-Computertomographie (CT)<br />
Röntgenstrahlen entstehen beim Aufprall hoch beschleunigter Elektronen auf<br />
einer Schwermetall-Anode. In der so genannten Röntgenröhre emittiert eine<br />
Glühkathode Elektronen, die durch eine angelegte Spannung <strong>von</strong> etwa 30 kV zur<br />
gegenüberliegenden Anode fliegen. Durch umgebende negativ geladene Platten<br />
werden die Elektronen gebündelt (Wehnelt-Zylinder). Beim Aufprall auf der<br />
Anode erreichen sie Geschwindigkeiten <strong>von</strong> rund 100 000 km/sec.. Durch die<br />
Abbremsung beim Aufprall wird Energie in Form <strong>von</strong> kurzwelligen Röntgenstrahlen<br />
freigesetzt (10 -10 m Wellenlänge).
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 62<br />
<strong>Ein</strong>e der wichtigsten Eigenschaften <strong>von</strong> Röntgenstrahlen ist ihr hohes Durchdringungsvermögen.<br />
Sie durchdringen viele Stoffe (Papier, Holz, Fleisch) fast<br />
ungeschwächt und werden <strong>von</strong> Materialien absorbiert, welche chemische<br />
Elemente mit hoher Ordnungszahl enthalten. Dazu zählt das Kalzium in den<br />
Knochen. Auf der anderen Seite des durchstrahlten Körpers wird eine fotografische<br />
Platte angebracht, welche je nach Intensität der einlangenden Röntgenstrahlen<br />
mehr oder minder stark geschwärzt wird. Durch die Anordnung der<br />
Schwärzungspunkte kann auf die Struktur des durchdrungenen Körpers rückgeschlossen<br />
werden.<br />
Die Röntgendiagnostik ist ein sehr wichtiges Hilfsmittel in der Medizin; sie ist<br />
aber nicht ungefährlich, weil sie wie jede kurzwellige elektromagnetische<br />
Strahlung ionisierend wirkt und so die Zellen schädigen kann.<br />
Zur Darstellung <strong>von</strong> Weichteilen eignet sich ein röntgen-technisches Verfahren,<br />
die Computertomographie (CT), mit welcher kleinste Dichteunterschiede im<br />
Gewebe ermittelt werden können (bis zu 0,5 %). Dabei wird der Patient<br />
schichtweise mittels einer um ihn rotierenden Röntgenröhre mit niedriger Intensität<br />
durchstrahlt, wobei in den verschiedenen Richtungen die Strahlung verschieden<br />
stark absorbiert wird. Die Strahlung wird in ringförmig um den Patienten<br />
angeordneten Zählern (Detektoren) gemessen. Aus den erhaltenen Daten wird<br />
mittels Computer ein kontrastreiches Bild einer Schichtebene rekonstruiert. Danach<br />
wird der Patient in seiner Lage etwas verschoben und die nächste Gewebeschicht<br />
durchgescannt.<br />
Die Abbildung zeigt das<br />
Schema eines CT-Scans,<br />
wobei der Röntgenemittor<br />
schrittweise um 3° in jeder<br />
Schicht gedreht wird.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 63<br />
Radioisotopen-Tomographie<br />
<strong>Ein</strong> Maß für die Aktivität einer bestimmten Körperregion ist der dortige Verbrauch<br />
<strong>von</strong> Sauerstoff und Zucker. Durch den erhöhten chemischen Stoffwechsel<br />
kommt es zu vermehrter Bildung <strong>von</strong> sauren Zwischenprodukten bei der Zuckerverbrennung.<br />
Diese sauren Stoffwechselprodukte bewirken eine Erweiterung der<br />
arteriellen Blutgefäße, was eine Erhöhung der lokalen Durchblutung zufolge hat.<br />
Radioaktive Stoffe senden die so genannte Gamma-Strahlung aus, die noch<br />
kurzwelliger und energiereicher und daher auch gefährlicher als die Röntgenstrahlung<br />
ist. Diese radioaktive Strahlung kann nur durch dicke Blei- und Betonplatten<br />
abgeschirmt werden. Durch den hohen Energiegehalt wirkt die radioaktive<br />
Strahlung sehr stark ionisierend auf die Stoffatome der jeweiligen Umgebung.<br />
Auf der ionisierenden Wirkung beruht auch der Strahlungsnachweis durch das<br />
Geiger-Müller-Zählrohr.<br />
Bei der Szintigraphie wird ein radioaktiver Markierungsstoff (tracer) in die Blutbahn<br />
gebracht. Seine Ausbreitung und Verteilung in bestimmten Körpergebieten<br />
kann nun an Hand der <strong>von</strong> ihm ausgesendeten radioaktiven Strahlung mit Hilfe<br />
<strong>von</strong> Geigerzählern gemessen werden.<br />
Die Messdaten werden <strong>von</strong> einem angeschlossenen Computer zu grafischen<br />
Bildern verarbeitet, an denen die Verteilung des Radioisotops in der Körperregion<br />
ersichtlich ist. Dadurch können Rückschlüsse auf die jeweilige lokale Durchblutung<br />
des Gewebes gezogen werden. Die dargestellte Abbildung zeigt die<br />
prinzipielle Messanordnung zur Feststellung der regionalen Gehirndurchblutung<br />
mit Hilfe <strong>von</strong> intraarteriell injiziertem radioaktivem Xenon (Xe).
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 64<br />
Bei der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) werden die radioaktiven<br />
Isotope biologisch wichtiger Atome (F, O, N, C) verwendet, die Positronen (ß-<br />
Strahlung) freisetzen. Direkt am Ort ihrer Freisetzung treffen diese Positronen auf<br />
die den Atomkern umgebenden Elektronen.<br />
<strong>Ein</strong>e solche Kollision führt zu einer Vernichtung beider <strong>Teil</strong>chen. Dabei wird die<br />
vernichtete Masse in Energie umgewandelt, welche in Form <strong>von</strong> radioaktiver<br />
Gamma-Strahlung auftritt. Diese Strahlung wird nun <strong>von</strong> rund um den Kopf des<br />
Patienten angeordneten Detektoren registriert.<br />
Aus Richtung und Intensität der Strahlung kann die räumliche Verteilung der, die<br />
Positronen emittierenden Atome, ermittelt und dann graphisch dargestellt werden.<br />
In der Nuklearmedizin werden vor allem Substanzen wie Wasser, Glukose oder<br />
Aminosäuren mit den genannten Radioisotopen markiert.<br />
Aus dem graphischen Verteilungsbild radioaktiv markierter Glukose kann dann<br />
auf die lokale Durchblutung einer Region und somit auch auf ihre Aktivität rückgeschlossen<br />
werden.<br />
Die Abbildungen zeigen verschieden stark durchblutete Gehirnregionen (sehr gut<br />
ersichtlich an den Schwärzungen) bei unterschiedlichen sensorischen und motorischen<br />
sprachlichen Tätigkeiten. Die PET erlaubt auf diese Art und Weise die<br />
Darstellung <strong>von</strong> Bildern der geistigen Aktivität des Gehirns.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 65<br />
Magnetresonanztomographie (MRT)<br />
Wie die Elektronen der Atomhülle haben auch die einzelnen Bausteine des<br />
Atomkerns (Nukleonen) einen Eigendrehimpuls (Spin) und verhalten sich wie<br />
winzige Magnete. Bei Atomkernen mit gerader Anzahl <strong>von</strong> Nukleonen können<br />
sich die magnetischen Kraftmomente der Kernbausteine kompensieren, bei<br />
ungerader Nukleonenanzahl kann dies nicht erfolgen. Der Kern besitzt dann einen<br />
resultierenden Gesamtspin und ein magnetisches Kraftmoment. Der Atomkern<br />
<strong>von</strong> Wasserstoff (H) besteht aus einem einzigen Proton und hat daher ein<br />
magnetisches Moment.<br />
Beim Anlegen eines starken äußeren Magnetfeldes beginnen die Atomkerne eine<br />
kreiselförmige Bewegung um ihre Gleichgewichtslage auszuführen (Auslenkung,<br />
Präzession). Die Geschwindigkeit dieser Kreiselbewegung (Präzessionsfrequenz)<br />
ist proportional zur angelegten magnetischen Feldstärke.<br />
Wenn die Atomkerne anschließend wieder in ihre energetisch günstigere Ausgangslage<br />
zurückkehren, senden sie genau jene elektromagnetische Frequenz aus,<br />
welche sie zuvor absorbiert haben.<br />
Diese Resonanzfrequenz des Atomkerns hängt einerseits vom angelegten äußeren<br />
magnetischen Feld, andererseits auch <strong>von</strong> den lokalen Magnetfeldern ab, die<br />
durch die Elektronen der Atomhülle erzeugt werden. Dadurch ist die Resonanz<br />
auch stoffspezifisch und kann in der Chemie zur Strukturanalyse <strong>von</strong> unterschiedlichen<br />
organischen Verbindungen benutzt werden (nuclear magnetic resonance<br />
spectroscopy, NRMS).<br />
In der Nuklearmedizin werden die oben beschriebenen atomphysikalischen<br />
Effekte in der so genannten Kernspintomographie verwendet (NMR-Tomographie<br />
oder auch MRT genannt). Der Großteil des menschlichen Körpers besteht<br />
aus Wasser, dessen Verteilung mit Hilfe der MRT in Schnittbildern graphisch<br />
dargestellt wird. Dadurch können Dichteunterschiede im Gewebe deutlich<br />
sichtbar gemacht werden. Bei der Untersuchung befindet sich der Patient im<br />
Inneren einer großen, <strong>von</strong> Strom durchflossenen Spule, die ein starkes, völlig<br />
homogenes Magnetfeld erzeugt. Dadurch werden die Wasserstoffkerne zuerst<br />
entsprechend diesem Felde ausgerichtet.<br />
Mit zusätzlichen Hochfrequenz-Spulen lässt sich die Stärke des Magnetfeldes<br />
räumlich variieren. Durch die kurzfristigen Zusatzimpulse werden die Wasserstoffkerne<br />
in einer bestimmten Schnittebene zur Kernspinresonanz angeregt.
<strong>Paukert</strong>: <strong>Ein</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>zum</strong> Ich – <strong>Teil</strong> 1 66<br />
Die <strong>von</strong> den Kernen emittierte Resonanzstrahlung wird <strong>von</strong> Antennen empfangen,<br />
digital gespeichert und im Computer mit komplizierten Rechenverfahren zu<br />
einem grafischen Bild verarbeitet. Nach Fertigstellung eines solchen Schichtbildes<br />
wird der Patient in der Spule weiterbewegt, so dass ein Bild <strong>von</strong> der<br />
nächsten Schnittebene erzeugt werden kann. Medizinische Risken der Magnetresonanztomographie<br />
sind nicht bekannt.