katalog-overlapping voices - Ritesinstitute
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statement fuer wien<br />
Yoav weiss<br />
1. als ich nach wien kam, spürte ich eine veränderung<br />
in meiner identität als israeli, in der die jüdische<br />
komponente bisher eine eher unwichtige<br />
Rolle gespielt hatte. ich wurde mir plötzlich meiner<br />
heiklen Position in Österreich bewusst: wäre<br />
ich vor 70 Jahren hier gewesen, hätte man mich<br />
wahrscheinlich wie eine Ratte vernichtet. Und hier<br />
bin ich nun, im land von hitler und freud, wittgenstein,<br />
mozart und klimt, im land des anschlusses.<br />
Und der deutschen sprache, von der<br />
wir in israel nur ganz spezielle ausdrücke lernen:<br />
achtung!, Raus!, aktion, transport, „arbeit macht<br />
frei“, Buchenwald, führer etc.<br />
Die landschaft, die architektur, das essen … alles<br />
ist so europäisch, so bekannt aus den nachmittagsfilmen<br />
im fernsehen am holocaust memorial<br />
Day. ich verstehe, dass es sich hier um meine<br />
konditionierung handelt. ich weiß, dass „arbeiten“<br />
nur „to work“ heißt und dass Buchenwald nur ein<br />
wald voller Buchen ist; dass die menschen, die<br />
ich um mich herum sehe, nicht die menschen<br />
sind, die die generation meiner großeltern umgebracht<br />
haben; aber ich kann fühlen, wie meine jüdische<br />
identität wichtiger wird als meine identität<br />
als israeli.<br />
vor kurzem entdeckte ich einen Brief von ephraim<br />
gover, einem jüdisch-palästinensischen soldaten<br />
in der britischen armee. er drückt in gewisser<br />
weise meine gefühle bei meinem wien-Besuch<br />
aus. Der an seine familie in Palästina gerichtete<br />
Brief trägt das Datum 21. Juni 1945:<br />
langsam, langsam kamen wir aus den alpen heraus<br />
ins hügelland. um uns herum: das deutsche<br />
Österreich. wir erreichten Klagenfurt, etwa 70 km<br />
von der Grenze entfernt. die stadt ist fast unbeschädigt.<br />
die lage ist nicht toll: Viele Geschäfte<br />
sind geschlossen, die menschen stehen schlange<br />
um nahrungsmittel. aber die stimmung ist<br />
deutsch, und deutsche menschen leben ihr normales<br />
leben weiter. an den ufern des großen sees<br />
liegen schöne ferienanlagen. deutsche sitzen auf<br />
dem rasen, sonnen sich und freuen sich des<br />
lebens.<br />
wenn ich das sehe, überkommen mich wut, ohnmacht<br />
und neid: unsere mörder sind frei, gut angezogen<br />
und leben im schoße ihrer familien, während<br />
wir durch ein von ihren „netten“ taten<br />
verfluchtes europa treiben. es ist schwer, durch<br />
2 OVERLAPPING VOICES<br />
die straßen zu gehen und zu hören, wie sie alle<br />
ihre verfluchte sprache sprechen, ihre gefassten,<br />
ruhigen Gesichter und ihren selbstbewussten stolz<br />
zu sehen, als wären sie die herren dieses landes.<br />
man sieht in ihren Gesichtern nicht eine spur von<br />
scham oder reue.<br />
einmal saß ich in einer straßenbahn neben einem<br />
jungen deutschen, der behaglich in einem Buch<br />
las. ich konnte es nicht ertragen und trat ihm auf<br />
den fuß. er schaute auf, und als er sah, wer ich<br />
war, stand er auf und stieg aus.<br />
gover wurde am 26. märz 1948 im alter von 21<br />
Jahren in israels Unabhängigkeitskrieg, auch als<br />
nakba bekannt, getötet.<br />
2. in israel reicht das politische spektrum von ultrarechten<br />
Rassisten aus den siedlungen tapuach<br />
und kiryat arba über die liberale mitte-rechts-Partei<br />
likud, die eine eiserne hand, aber auch frieden<br />
möchte, die mitte-links-arbeitspartei, die frieden,<br />
aber auch eine eiserne hand möchte, und<br />
die zionistische linkspartei, die frieden und gar<br />
keine eiserne hand möchte, bis zur nicht-/post-/<br />
antizionistischen linken, die eine lösung für den<br />
konflikt möchte, in der territoriale Zugeständnisse,<br />
ein Rückkehrrecht und gleiche Rechte für die palästinensischen<br />
Bürger israels enthalten sind. so<br />
weit das sichtbare spektrum. es gibt darüber hinaus<br />
noch, unsichtbar, aber doch spürbar, das palästinensische<br />
spektrum von der pragmatischen<br />
nationalistischen Plo über die etwas weniger pragmatische<br />
religiöse hamas bis zum absolut fanatischen<br />
islamischen Dschihad und anderen.<br />
mit meiner künstlerischen arbeit und meiner politischen<br />
einstellung würde man mich ins linke,<br />
vielleicht sogar extrem linke lager der israelischen<br />
Politik einordnen, aber innerhalb des gesamten<br />
spektrums befinde ich mich eigentlich eher in einer<br />
ziemlich zentralen Position.<br />
3. Das israelische außenministerium und seine Diplomaten<br />
behaupten oft, kritik an israel und seiner<br />
Palästinenserpolitik sei ausdruck eines latenten<br />
antisemitismus (eine Behauptung, die ich<br />
immer für lächerlich hielt: könnte es eine bessere<br />
art geben, kritik zu vermeiden, als die kritiker des<br />
antisemitismus zu beschuldigen?). in Österreich<br />
hörte ich jedoch von einer Reihe von leuten, nicht<br />
unbedingt Juden oder Zionisten, dass ein teil der<br />
kritik an israel seine wurzeln im traditionellen europäischen<br />
antisemitismus hat, und ich habe keinen<br />
grund, ihnen nicht zu glauben.<br />
so ändert also, genau wie meine identität sich bei<br />
meiner ankunft in Österreich wandelte, meine politische<br />
welt ihre Bedeutung. meine anstrengende<br />
opposition gegen die Besetzung entspringt einer<br />
zutiefst patriotischen Quelle. ich glaube einfach<br />
nicht, dass israel lang existieren kann – politisch,<br />
wirtschaftlich, kulturell, geistig –, wenn es den<br />
klotz der Besetzung am Bein hat. wenn aber<br />
meine arbeit schlussendlich antisemitischen strömungen<br />
in der österreichischen gesellschaft noch<br />
auftrieb gibt, dann wäre es vielleicht besser, überhaupt<br />
keine arbeiten zu zeigen. andererseits muss<br />
es in europa ein forum der legitimen opposition<br />
gegen die Politik israels geben.<br />
4. wenn kritik an der israelischen Palästinenserpolitik<br />
tatsächlich ein ventil für den antisemitismus<br />
darstellt, beweist dies, dass die geschichte<br />
einen bitteren und ironischen sinn für humor hat.<br />
hätte der antisemitismus im allgemeinen und besonders<br />
die bösartige liquidierung des europäischen<br />
Judentums unter den nazis europa nicht<br />
unbewohnbar für die Juden gemacht, dann wären<br />
sie nicht nach Palästina ausgewandert. in ihrem<br />
Buch „land and Power“ schreibt anita shapira,<br />
dass man jemandem, der in Palästina im Jahr<br />
1938 gesagt hätte, in zehn Jahren würde es einen<br />
jüdischen staat geben, halluzinationen unterstellt<br />
hätte. es ist klar, dass der holocaust ein direkter<br />
vorläufer der nakba war. ich schreibe dies nicht,<br />
um israel oder die zionistische Bewegung von ihrer<br />
verantwortung freizusprechen, sondern um zu<br />
sagen, dass die europäer erst lange und sorgfältig<br />
in den spiegel schauen müssen, bevor sie das leid<br />
der Palästinenser als ausrede für eine antisemitische<br />
agenda verwenden.