katalog-overlapping voices - Ritesinstitute
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wegung nationaler wiedergeburt? Diese frage<br />
plagte die gründer der zionistischen Bewegung.<br />
es lag eine Demütigung in der vorstellung, dass<br />
die jüdische nationalbewegung womöglich nicht<br />
das ergebnis immanenter Prozesse, sondern das<br />
Produkt von haltungen von nichtjuden gegenüber<br />
Juden war. tatsächlich lässt sich zeigen, dass alle<br />
nationalen Bewegungen gleichermaßen durch innere<br />
und äußere faktoren angestachelt wurden.<br />
wäre der spanische nationalismus ohne die napoleonische<br />
invasion entstanden? wäre der tschechische<br />
nationalismus ohne Diskriminierung durch<br />
Deutsche entstanden? hätte sich Deutschland zu<br />
einem vereinigten staatsgebilde zusammengeschlossen,<br />
hätte es nicht die herausforderung gegeben,<br />
die frankreich darstellte? Die europäische<br />
geschichte ist reich an Beispielen dafür, dass äußerer<br />
Druck, Diskriminierung und eroberungen der<br />
entwicklung nationalistischer Bewegungen als katalysatoren<br />
dienen. Darin unterschieden sich die<br />
Juden keineswegs von den völkern, in deren mitte<br />
sie lebten. Der Zionismus erwuchs im schatten der<br />
hoffnungen auf eine emanzipation der Juden in<br />
Russland, die durch eine welle von Pogromen in<br />
südrussland im Jahr 1881 zunichte gemacht worden<br />
waren. er entwickelte sich fort in Reaktion auf<br />
den rassistischen antisemitismus, der als einflussreiche<br />
politische kraft im letzten viertel des 19.<br />
Jahrhunderts in west- und mitteleuropa sein hässliches<br />
haupt erhob.<br />
für theodor herzl, den gründer der zionistischen<br />
Bewegung, war der Zionismus eine antwort auf die<br />
Zurückweisung, die er von den Deutschen erfuhr:<br />
wir Juden haben alles in unserer macht stehende<br />
getan, um uns in die nationen, in deren mitte wir<br />
lebten, zu integrieren, aber sie wollen uns nicht<br />
haben. Daher schloss herzl: „wir sind eine nation,<br />
eine einzige nation“, und brauchen unseren eigenen<br />
staat. nur jemand, der in der europäischen<br />
kultur sozialisiert und erzogen worden und der bedrohlichen<br />
und schöpferischen macht des nationalismus<br />
ausgesetzt gewesen war, konnte zu einem<br />
solchen schluss gelangen. Der europäische nationalismus<br />
steigerte die Probleme der Juden als einer<br />
nationalen minderheit in nationalstaaten. Dies<br />
war ein exklusiver nationalismus, der diejenigen<br />
zurückwies, die er als unechte mitglieder der nation<br />
betrachtete. andererseits zeigte der europäische<br />
nationalismus den Juden auch die lösung<br />
für ihre missliche lage auf: die annahme und anwendung<br />
des Begriffs der nation auf ihre eigene<br />
lage. Das schlagwort vom „Judenstaat“ (so der titel<br />
einer kleinen von herzl veröffentlichten streitschrift)<br />
elektrisierte die gemüter. von entscheidender<br />
Bedeutung allerdings war die einrichtung<br />
des Zionistischen kongresses, einer art Parlament<br />
der abteilungen der europäischen Judenheit, das<br />
sich mit der revolutionären idee eines jüdischen<br />
staates identifizierte. herzls ureigener Beitrag zur<br />
zionistischen Bewegung war es, in politischen Begriffen<br />
zu denken. seine einsicht in die notwen-<br />
digkeit, ein gremium zu schaffen, in dessen namen<br />
er mit führenden vertretern der weltmächte<br />
verhandeln konnte – eine art fiktive vertretung des<br />
jüdischen volkes – hatte er der geschichte der nationalbewegungen<br />
europas abgesehen. auch die<br />
von ihm beworbenen symbole – darunter eine<br />
flagge und eine nationalhymne – waren der europäischen<br />
geschichte entnommen.<br />
herzl stattete die zionistische Bewegung mit der<br />
gewandtheit eines mannes aus, der der europäischen<br />
Politik ausgesetzt gewesen war und ihre<br />
kniffe kannte. in osteuropa, das sich noch in der<br />
voremanzipierten Phase befand, hatten Juden<br />
keine gelegenheit, solche kenntnisse über den<br />
staat zu erwerben und darüber, wie er funktionierte.<br />
Daher stammte die erste generation der<br />
führer der zionistischen Bewegung aus mitteleuropa.<br />
Das herz der Bewegung jedoch – die massen,<br />
die sie trugen – schlug in osteuropa.<br />
am ende des 19. Jahrhunderts machten die Juden<br />
einen revolutionären sinneswandel durch: sie<br />
hörten auf, passiv ihr elendes schicksal hinzunehmen.<br />
Die große masse emigrierte nach amerika auf<br />
der suche nach einer besseren Zukunft. ein weiterer<br />
teil schloss sich der russischen revolutionären<br />
Bewegung an in der hoffnung, dass die welt, wie<br />
sie nach der Revolution entstehen sollte, Juden als<br />
gleichberechtigte mitbürger akzeptieren würde. wieder<br />
andere sahen im Zionismus den weg der erlösung<br />
sowohl für den individuellen Juden als auch<br />
für das jüdische kollektiv. so wurde eine Bewegung<br />
geboren, bei der die anführer aus einer kulturellen<br />
welt stammten, die große Zahl der einfachen mitglieder<br />
jedoch aus einer anderen.<br />
herzl war ein schüler der deutschen kultur, und<br />
seine jüdischen wurzeln waren recht locker. Die<br />
massen in osteuropa dagegen waren zutiefst mit<br />
der jüdischen tradition verwachsen. Bei ihnen<br />
führte die säkularisierung nicht dazu, dass sie das<br />
jüdische kollektiv aufgaben, sondern vielmehr<br />
dazu, dass sie seinen nationalen charakter betonten.<br />
in osteuropa lebten millionen Juden in enger<br />
nachbarschaft, sprachen dieselbe sprache,<br />
teilten ein und dasselbe schicksal und eine gemeinsame<br />
kultur. Der Zionismus wurde nicht nur<br />
als versprechen einer erlösung der Juden von Demütigung<br />
und Unterdrückung wahrgenommen,<br />
sondern auch als Bewegung der geistigen und kulturellen<br />
wiedergeburt, die es unternahm, die Juden<br />
als individuen, als gesellschaft und als kultur<br />
umzubilden. Die neue jüdische gesellschaft würde<br />
die Bindung an die jüdische tradition und ihre historischen<br />
symbole bewahren. aber sie würde auch<br />
neue formen annehmen, insbesondere die Rückkehr<br />
zur natur und zu einer einfachen lebensweise<br />
auf landwirtschaftlicher grundlage. Diese<br />
ideen hat die zionistische Bewegung zweifelsohne<br />
nicht erfunden; vielmehr eignete sie sie sich von<br />
der europäischen Romantik an. sehnsüchte nach<br />
ursprünglichen lebensformen, nach der unverbildeten<br />
einfachheit von mensch und gesellschaft,<br />
der wunsch, vor der heuchelei der großstadt Zuflucht<br />
zu finden, indem man zu der ethischen<br />
Reinheit körperlicher arbeit im allgemeinen und<br />
der landwirtschaft im besonderen finden würde,<br />
waren seit Rousseau kennzeichen jeder Bewegung<br />
gewesen, die sich gegen die entfremdung der industrialisierung<br />
und die anonymität des modernen<br />
lebens auflehnte. für Juden wohnte diesen ideen<br />
eine besondere Bedeutung inne, da sie seit Jahrhunderten<br />
vorwiegend stadtbewohner gewesen<br />
waren und intellektuelle fähigkeiten höher als körperliche<br />
stärke schätzten. Der moderne Jude<br />
wurde mit einer städtischen intellektuellenschicht<br />
identifiziert, nicht mit dem einfältigen landbewohner.<br />
Der Zionismus stellte eine herausforderung<br />
an traditionelle jüdische werte dar. Das jüdische<br />
staatsgebilde in eretz Yisrael würde eine vollständige<br />
verwandlung der jüdischen gesellschaft wie<br />
des jüdischen individuums bedeuten. Der neue<br />
Jude würde kenntnisse und fähigkeiten erwerben,<br />
wie sie ein volk braucht, das seinen nationalstaat<br />
erschafft und für ihn verantwortung übernimmt.<br />
er würde in der lage sein, die zwei Rollen zu erfüllen,<br />
die als für jeden staat unabdingbar angesehen<br />
wurden – die des landmannes und die des<br />
soldaten. er würde ehrlich, stolz und tapfer sein,<br />
frei von verstellung und Unterwürfigkeit; ein ergebener<br />
Bürger seines staates und ein würdiger Bürger<br />
der welt.<br />
Der europäische nationalismus betrachtete sprache<br />
als ein wesentliches merkmal nationaler existenz.<br />
völker, die ihr nationales schicksal in die<br />
hand zu nehmen trachteten, versuchten daher,<br />
ihre ursprünglichen sprachen wiederzubeleben,<br />
wie etwa das tschechische und das gälische. Der<br />
jüdische nationalismus entzündete ein wiedererstarken<br />
des hebräischen, das vorwiegend gebetssprache<br />
und sprache der heiligen schrift gewesen<br />
war. im alltag sprachen Juden Jiddisch, ladino<br />
und Judäo-arabisch. Dagegen erschienen in der<br />
zweiten hälfte des 19. Jahrhunderts nach und<br />
nach eine hebräische literatur und hebräischer<br />
Journalismus. mit Beginn des 20. Jahrhunderts<br />
wurde hebräisch eine gesprochene sprache, in<br />
der gelehrte sich unterhielten, kinder schrien und<br />
literarische werke verfasst wurden. Die kultur der<br />
neuen jüdischen gemeinschaft in Palästina fand<br />
in hebräischer sprache statt. ein wesentlicher Bestandteil<br />
der sich herausbildenden hebräischen<br />
kultur war die Bibel. in der traditionellen jüdischen<br />
kultur war die Bibel dem talmud hintangesetzt<br />
worden. nun wurde sie in der zionistischen mythologie<br />
auf einen ehrenplatz gehoben als erhabenes<br />
Zeugnis der intellektuellen und ethischen<br />
leistungen des jüdischen volkes einerseits und als<br />
Quelle und Zeugnis der historischen Bindungen<br />
zwischen dem jüdischen volk und seinem land<br />
andererseits. so verwandelte der Zionismus das<br />
heilige land in den jüdischen staat, die heilige<br />
sprache in eine gesprochene alltagssprache und<br />
die heiligen schriften in ein nationalepos.<br />
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