katalog-overlapping voices - Ritesinstitute
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Donnerstag, 15. Mai 2008 MEINUNG 41<br />
Das ewige Klischee „Nahost-Konflikt“<br />
„Ich bedaure, dass am 60. Geburtstag<br />
meines Landes der arabisch-israelische<br />
Konflikt Hauptthema einer Kunstausstellung<br />
wird“: Entgegnung auf den<br />
offenen Brief von Tal Adler (s. Seite 40).<br />
V<br />
quergeschrieben<br />
Abkehr vom Utilitarismus<br />
Das Brauchbare und das Wertvolle<br />
sind nicht dasselbe.<br />
A<br />
or einem Jahr wurde ich von Prof.<br />
Essl überrascht, als er mir mitteilte,<br />
dass er dem Staat Israel ein Ge-<br />
schenk zum 60. Unabhängigkeitstag in<br />
Form einer israelischen Kunstausstellung<br />
bereiten wolle. So eine Ausstellung im renommierten<br />
Essl Museum wäre einerseits<br />
eine Chance für israelische Künstler, sich<br />
auf der internationalen Bühne vorzustellen,<br />
andererseits würde sie dem österreichischen<br />
Publikum Israel, seine Menschen,<br />
Natur, Kultur und Kunst, sein Leben,<br />
ja seine Seele, näher bringen.<br />
Der Staat Israel wurde vor 60 Jahren unter<br />
schwierigsten Umständen gegründet.<br />
Damals musste man unverbesserlicher Optimist<br />
sein, um an sein langjähriges Überleben<br />
zu glauben. Am 14. Mai 1948 brachen<br />
die arabischen Staaten einen Krieg vom<br />
Zaun, um sein Entstehen im Keim zu ersticken.<br />
Zu diesem Zeitpunkt lebten in Israel<br />
ca. 650.000 Juden, 6000 verloren im Unabhängigkeitskrieg<br />
ihr Leben. Seitdem musste<br />
Israel seine Existenz mehrmals verteidigen.<br />
Bis heute verneinen mehrere arabische<br />
Staaten das einfache Existenzrecht des<br />
Staates Israel. Israel, auf der anderen Seite,<br />
hat den Willen zu Frieden und friedlicher<br />
Nachbarschaft schon in seiner Unabhängigkeitserklärung<br />
1948 verankert und strebt<br />
unermüdlich weiter in diese Richtung.<br />
Araber sind gleichberechtigte Bürger<br />
Der Staat Israel ist so groß (oder klein) wie<br />
Niederösterreich. In seinem 60. Jahr leben<br />
in ihm rund 7,2 Millionen Menschen. Viele<br />
sind neu eingewandert oder gehören einer<br />
Einwandererfamilie an. In den ersten drei<br />
Jahren nach der Gründung fanden fast<br />
700.000 Überlebende der Shoah wie auch<br />
Juden aus arabischen Ländern Zuflucht. Israel<br />
öffnete seine Tore für jeden Juden und<br />
jede Jüdin. Verfolgte und gepeinigte Menschen<br />
aus aller Herren Ländern haben in<br />
Israel eine Heimat gefunden. Zwischen<br />
1990 und 1999 kamen fast eine Million Einwanderer<br />
aus der ehemaligen Sowjetunion,<br />
mehrere zehntausende aus Äthiopien. 2008<br />
leben in Israel ca. 5,8 Millionen Juden.<br />
In Israel leben ca. 1,3 Millionen arabische<br />
Bürger. Nach dem Unabhängigkeitskrieg<br />
waren es 150.000. Auch die arabische<br />
Dan Ashbel ist seit 2005 Botschafter Israels in Österreich.<br />
Er war u. a. Presse- und Kulturattaché in Bonn<br />
und London, zudem Generalkonsul in Philadelphia.<br />
meinung@diepresse.com<br />
m letzten Abend einer für interessierte<br />
Laien gedachten Vortragsserie, die ich<br />
vor einigen Monaten über die<br />
„schönste Formel“ hielt, in der die berühmtesten<br />
mathematischen Konstanten p (das<br />
Verhältnis von Umfang zu Durchmesser<br />
eines Kreises), e (die Basis des natürlichen<br />
Logarithmus) und i (die sogenannte imaginäre<br />
Einheit, die mit sich selbst multipliziert<br />
minus eins ergibt) ineinander verknüpft<br />
sind, war ein maßgeblicher Wissenschaftsjournalist<br />
anwesend, der nach dem Vortrag<br />
wohlwollend kritisch bemerkte: „All dies<br />
klingt ja ganz aufregend und interessant.<br />
Aber was mir bei Ihnen fehlte, war eine Erklärung,<br />
wozu man denn diese Formel<br />
überhaupt braucht.“<br />
„Wozu braucht man das?“ Diese entwaffnende<br />
Frage begleitet den Mathematikunterricht<br />
seit seinen Anfängen in grauer Vorzeit.<br />
Und in den letzten Jahrzehnten meinten<br />
die Gestalter der Lehrpläne dieser obstinat<br />
gestellten, in Frageform verhüllten Anklage,<br />
Rechnung leisten zu müssen. Extrem<br />
erlebt man es bei der sogenannten „Mathe-<br />
Bevölkerung Israels ist nicht aus einem Fell.<br />
Die Mehrheit bilden die Moslems, dazu<br />
kommen Christen der verschiedensten Kirchen<br />
wie auch Drusen. All diese ethnischen<br />
wie religiösen Gruppen sind gleichberechtigte<br />
Bürger (nicht „Mitbürger“). Die arabische<br />
Sprache gemeinsam mit dem Hebräischen<br />
sind die offiziellen Sprachen (siehe Orts- und<br />
Straßentafeln). Die arabischen Bürger sind in<br />
der Knesset (dem Parlament) wie auch als<br />
Minister in der Regierung vertreten. Sie genießen<br />
– selbstverständlich – alle zivilen<br />
Rechte und Freiheiten, es gibt keine Beschränkung<br />
beim Bau von neuen Moscheen<br />
oder Kirchen. Im Gegenteil, der Staat subventioniert<br />
die religiösen Dienste.<br />
Wo bleiben palästinensische NGOs?<br />
Auf diesem vielfältigen Hintergrund ist in<br />
den letzten 60 Jahren in Israel ein menschliches<br />
und kulturelles Mosaik entstanden, das<br />
seinesgleichen sucht. Die gegenseitige geistige<br />
Befruchtung, die geopolitischen, historischen<br />
und theologischen Gegebenheiten haben<br />
dazu beigetragen, dass Israel nicht nur<br />
eine führende Kraft in Landwirtschaft, Wissenschaft<br />
und technischer Innovation ist. Sie<br />
sind auch der Nährboden für ein vielschichtiges<br />
und faszinierendes kulturelles und<br />
künstlerisches Schaffen.<br />
Wer einen Blick auf die israelische Kulturszene<br />
wirft, ist von der Vielfalt und Originalität<br />
beeindruckt. Trotz der „politischen und<br />
kriegerischen Auseinandersetzungen“, wie<br />
Prof. Essl im Vorwort zum Ausstellungs<strong>katalog</strong><br />
schreibt, hat – im Gegensatz zur Meinung<br />
von Prof. Essl – sehr wohl „eine kontinuierliche<br />
berufliche und wissenschaftliche<br />
Ausbildung der Menschen“ stattgefunden.<br />
Mehr noch, in den letzten Jahren erhielten<br />
drei israelische Wissenschaftler den Nobel-<br />
matik im Kontext“, wo abstraktes Denken<br />
kaum noch vorkommt. Das Schwergewicht<br />
wird allein darauf gelegt, „wirkliche“ Anwendungen<br />
der Mathematik zu vermitteln, durch<br />
Aufgaben, die an die „Lebenswelt“ der Schülerinnen<br />
und Schüler angelehnt sind.<br />
Ein Lehrer, der seit 30 Jahren an einem<br />
deutschen Gymnasium unterrichtet, berichtete<br />
vor kurzem einer Redakteurin der „Welt“,<br />
wie wenig ihn dieser Trend begeistert: Viele<br />
seiner Schülerinnen und Schüler leiden darunter.<br />
Sie könnten sich mit Mathematik besser<br />
anfreunden, wenn sie nicht immer diesen<br />
Sachzwängen unterworfen wären. Doch laut<br />
äußern dürfe er seine Kritik nicht, denn sonst<br />
werde er schnell als „unwilliger, altmodischer<br />
Lehrer“ abgestempelt.<br />
Von der am 25. April in „Science“ erschienenen<br />
Studie „The Advantage of Abstract Examples<br />
in Learning Math“ erhalten endlich Kritiker<br />
wissenschaftlich fundierte Rückendeckung:<br />
Studierende, die ausschließlich abstrakt<br />
gelernt hatten, schneiden bei Eignungstests<br />
deutlich besser ab als jene, die nur mit<br />
anwendungsorientierten Aufgaben vertraut<br />
waren. Für Sebastian Walcher von der TH Aachen<br />
ist dieses ernüchternde Ergebnis wenig<br />
überraschend: Wird in der Schule bloß eine<br />
große Anzahl von Pseudoproblemen kreiert<br />
GASTKOMMENTAR VON DAN ASHBEL<br />
preis, immer mehr internationale Hightech-Firmen<br />
bauen Forschungszentren in<br />
Israel auf. In der Ausstellung „Overlapping<br />
<strong>voices</strong>“ werden Sie nur sehr wenig, wenn<br />
überhaupt, von dieser Vielseitigkeit sehen.<br />
Statt sich dem weiten Feld künstlerischen<br />
Schaffens zu widmen, verfällt die Ausstellung<br />
dem ewigen Klischee des „Nahost-<br />
Konflikts“. Vier Projekte werden den BesucherInnen<br />
vorgestellt. Alle von israelischen<br />
NGOs. Alle beschäftigen sich mit Aspekten<br />
des menschlichen Konflikts. Wenn das Thema<br />
die Menschen der Region ist, wo sind<br />
die arabischen oder palästinensischen<br />
NGO-Projekte gegen Terror, für Menschenrechte<br />
in der arabischen Welt? Wo die<br />
Künstler, die sich mit der Flucht hunderttausender<br />
Juden aus den arabischen Ländern<br />
nach der Gründung des Staates Israel<br />
beschäftigen? Geben Sie sich keine Mühe,<br />
sie zu suchen, Sie werden sie nicht finden.<br />
Stattdessen werden Sie unter den Kuratoren<br />
und Künstlern einige finden, die sich als<br />
Palästinenser darstellen, obwohl sie israelische<br />
Bürger sind. Es ist ihr gutes Recht, sich<br />
darzustellen, wie sie wollen. Könnten Sie<br />
sich aber einen Künstler, eine Künstlerin<br />
aus einem arabischen Land vorstellen, der<br />
sich als Jude, Zionist oder Israeli darstellen<br />
würde, dürfte, könnte? Wieder einmal wird<br />
die Münze dort gesucht, wo es Licht gibt,<br />
und nicht, wo sie verloren gegangen ist.<br />
Ich bedaure, dass am 60. Geburtstag meines<br />
Landes der arabisch-israelische Konflikt<br />
Hauptthema einer Kunstausstellung wird.<br />
Ich erlaube mir aber trotzdem die Hoffnung,<br />
dass auch diese Ausstellung einige<br />
seiner BesucherInnen zu einer Beobachtung<br />
des Landes, seiner Menschen und seiner<br />
kunstschaffenden Szene vor Ort, nämlich<br />
in Israel selber, animieren wird.<br />
VON RUDOLF TASCHNER<br />
und wird jede mathematische Aufgabe in<br />
einen Sachzusammenhang gepresst, bereitet<br />
man keineswegs gut für das Studium vor.<br />
Auch wenn es manche Schulexperten<br />
nicht wahrhaben wollen: Schülerinnen und<br />
Schüler haben Freude am abstrakten Lernen,<br />
es ist für sie, die ohnedies auf Schritt und<br />
Tritt mit der „lebensnahen“ Schule bedrängt<br />
werden, zuweilen befreiend, mit Zahlen umzugehen<br />
und geometrische Figuren in den<br />
Blick zu nehmen, die nur für sich stehen.<br />
Für die Mathematiklehrerinnen und -lehrer<br />
ebenso. Wirtschaftsmathematik, Statistik<br />
und Wahrscheinlichkeitsrechnung – Gebiete,<br />
die mit vollem Recht zum Lehrinhalt gehören<br />
– tragen ihre unmittelbare Anwendbarkeit<br />
ohnehin in sich. Da tut es gut, wenn man<br />
auch Mathematik l’art pour l’art unterrichten<br />
kann, als schönen Unterrichtsgegenstand,<br />
der sich in seiner Abstraktheit selbst genügt.<br />
Denn von dieser in sich selbst ruhenden Ästhetik<br />
waren diese Lehrkräfte während des<br />
Studiums fasziniert. Man soll sie nicht daran<br />
hindern, diese Faszination weiterzugeben.<br />
Rudolf Taschner ist Mathematiker und Betreiber des<br />
math.space im Wiener Museumsquartier.<br />
meinung@diepresse.com<br />
60 Jahre Israel sind<br />
60 Jahre Katastrophe<br />
VON OMAR AL-RAWI<br />
Die Welt feiert Israel – uns sei es<br />
gestattet, der „Nakba“ zu gedenken.<br />
D<br />
ie einen feiern 60 Jahre Staatsgründung,<br />
die anderen reden von der<br />
„Nakba“, auf Arabisch „Katastro-<br />
phe“. So eng kann Freude und Leid beieinander<br />
liegen. Die einen feiern ein rundes<br />
Jubiläum, die anderen warten noch immer<br />
auf ihren Staat. Keiner redet von dem<br />
Existenzrecht des palästinensischen Staates.<br />
Gewiss stellt ihn keiner explizit in Frage,<br />
doch implizit wird alles getan, um es<br />
zu verunmöglichen. Allein die illegalen<br />
Siedlungen zerfransen das Gebiet und lassen<br />
es wie einen Fleckerlteppich aussehen,<br />
wirtschaftlich und politisch nicht<br />
überlebensfähig. Eine Politik der vollendeten<br />
Tatsachen.<br />
Politische und militärische Übermacht<br />
Ben Gurion selbst äußerte einst seine Besorgnis<br />
darüber, dass die Araber Israel nie<br />
anerkennen würden. Denn die biblische<br />
Legitimation ist einseitig, die zwar für die<br />
Juden gelten mag, aber ein solcher Anspruch<br />
kann andere nicht verpflichten,<br />
schon gar nicht die Araber, die unmittelbare<br />
Kontrahenten im Konflikt sind. Der<br />
Schrecken des Holocaust ist das schlagende<br />
Argument in dieser Diskussion,<br />
schließlich nannte niemand Geringerer<br />
als Abba Eban die Grenzen von 1967 als<br />
die Grenzen von Auschwitz.<br />
Doch auch diese Legitimation ist nur<br />
zum Teil universalistisch, denn die Palästinenser<br />
haben mit dem Holocaust nichts<br />
zu tun. Noch frisch in Erinnerung ist die<br />
Weigerung des damaligen Außenministers<br />
von Ägypten, Amr Musa, in den 90er-<br />
Jahren, den sonst obligaten Besuch in der<br />
Holocaust-Gedenkstätte in Yad Vashem<br />
abzustatten, mit dem Hinweis, die Araber<br />
seien nicht für den Holocaust zu verpflichten.<br />
Was den Arabern übrigbleibt, ist die<br />
Anerkennung der Faktizität Israels. Und<br />
hier scheint der einzig mögliche pragmatische<br />
Weg der Lösung. Israel sollte mehr<br />
pragmatische als dogmatische Diskussionen<br />
zulassen. Angebote auf einen längeren<br />
Waffenstillstand von zehn Jahren und<br />
mehr sollten akzeptiert werden. Denn politisch<br />
wie militärisch sind die Israelis<br />
übermächtig. Sie, vor allen anderen, tragen<br />
die Verantwortung dafür, dass der<br />
tote Punkt überwunden wird.<br />
Jerusalem ist schon ethnisch geteilt<br />
Die Hamas wird sich in eine politische Bewegung<br />
verwandeln, sofern sie die Gelegenheit<br />
dazu bekommen würde. Solche<br />
Metamorphosen hat es in der Geschichte<br />
schon öfters gegeben. Und eine Lösung<br />
der großen Brocken – Status Jerusalems,<br />
Siedlungen, Rückkehrrecht der vertriebenen<br />
Palästinenser – muss dringend angegangen<br />
werden. Tony Judt meint zwar, es<br />
wird keine Rückkehr vertriebener Palästinenser<br />
geben; umgekehrt ist es aber Zeit,<br />
jüdische Rückkehransprüche aufzugeben.<br />
Denn Jerusalem ist, wie er meint, schon<br />
jetzt ethnisch geteilt und wird am Ende<br />
die Hauptstadt beider Staaten sein. Auch<br />
Israel wird es nicht erspart bleiben, dunkle<br />
Seiten seiner Geschichte aufzuarbeiten<br />
und Wiedergutmachungen zu leisten.<br />
Das Jahr der Staatsgründung Israels ist<br />
auf das engste mit dem Kontext des Zweiten<br />
Weltkriegs verknüpft. Angelika Merkel<br />
hat das nicht vergessen. Doch sollte sie<br />
auch überlegen, ob nicht Deutschland für<br />
das Schicksal der Palästinenser und die<br />
vielen noch vertriebenen Flüchtlinge eine<br />
historische Verantwortung trägt.<br />
Die Muslime Europas als Zuwanderer<br />
haben mit dieser dunklen Geschichte Europas,<br />
Gott sei Dank, nichts zu tun. Doch<br />
verpflichtet uns unsere neue Heimat genauso,<br />
ihre Geschichte mitzutragen. Man<br />
kann sich nicht nur die Rosinen aussuchen.<br />
Daher werden wir Mitstreiter gegen<br />
jegliche Form von Rassismus, Antisemitismus<br />
und Islamfeindlichkeit sein. Aber<br />
wir werden uns mit der legitimen Forderung<br />
der Palästinenser solidarisieren.<br />
Und es sei uns gestattet, der „Nakba“ zu<br />
gedenken.<br />
Omar Al-Rawi, geboren 1961 in Bagdad, ist<br />
Integrationsbeauftragter der Islamischen Glaubensgemeinschaft<br />
in Österreich.<br />
meinung@diepresse.com