katalog-overlapping voices - Ritesinstitute
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die kUnSt aLS projekt der arChiv-veränderUng<br />
EIN SECHZIGjÄHRIGES EINWANDERUNGSLAND Im TAKT DES<br />
GENERATIoNENWECHSELS<br />
Israel ist zweifellos ein typisches Einwanderungsland. Die Einwanderung nach<br />
Israel hatte einen scharfen ideologischen Beigeschmack. Die Staatsgründung<br />
selbst war Ausdruck und Gestaltwandel messianischer Denkmuster, die viele<br />
Generationen des judentums in der Diaspora (im Exil) geprägt hatten. Die<br />
Errichtung des Staates war Höhepunkt der zionistischen Erwachungs-Bewegung<br />
Europas, in der sich Prozesse der Säkularisierung, der Bestimmung der<br />
eigenen Nationalidentität und der Kennzeichnung der juden im christlichen<br />
Europa zusammengekommen waren. Die Frage des rechten ortes für den<br />
neuen Staat war auch verknüpft mit der Frage der Araber in Erez Israel (Land<br />
Israel); die Dynamik in diesem Land war häufig mit der Auffassung desselben<br />
als leeren Raum, der auf seine Verwirklichung wartet, verbunden.<br />
Das Lenken der Einwanderung:<br />
Der Ausschluss vom Buch und das Lenken zum Buch/Grenzland hin 1<br />
Die durch und durch europäische Errichtung des Staates beabsichtigte die Versammlung<br />
der juden aus allen Ländern ihres Exils. Dieses Versammlungsprojekt<br />
der Gemeinden enthielt einige konstruierte Phasen manipulierter Immigration:<br />
zuerst Vervollkommnung der mittel der Überzeugung und die<br />
motivierung zum Auswandern, danach die Lenkung der immigrierten Gemeinden<br />
in ihrem neuen Land. Diese Lenkung erschöpfte sich nicht nur in der<br />
Ansiedlung in bestimmten Gegenden, sondern zeigte sich auch im „tragbaren<br />
Vaterland“, dem zweiten Territorium des juden, in Sprache und Buch.<br />
In allem was mit dem Buch, diesem zweiten Territorium zu tun hat, haben die<br />
Staatsgründer, die im europäischen Diskurs und Kontext verwurzelt waren, sich<br />
selbst als Anbauer jungfräulichen Neulandes betrachtet: welcher Schriftart die<br />
graphische Form der Buchstabenschrift gleichen soll, welche aller Aussprachemöglichkeiten<br />
zum musikalischen Klang der hebräischen Sprache erwählt<br />
werden soll, welche von allen Geschichten die historische Erzaählung<br />
des judentums sein soll – bis dahin hatte das judentum angeblich außerhalb<br />
der Geschichte gelebt. Im Bereich der Sprache wurden aschkenasische<br />
[= jüdisch-europäisch] Schreibschrift und sefardische [Sefardim = die aus<br />
Spanien vertriebenen juden] Aussprache [am auffallendsten in der Pänultima-<br />
und Ultimabetonung = Endbetonung] vereint, und dabei die uneuropäischen<br />
Gutturallaute [= Kehllaute] gänzlich abgeschafft. Historisch gesehen, war die<br />
Antwort vollkommen klar. Geschichte wurde aus der Perspektive der jüdischen<br />
Existenz in Europa heraus erzählt, in völliger Anpassung an die zu moderne<br />
und Aufklärung gehörende Fortschritts-Erzählung. Die Folge war, dass große<br />
Bevölkerungsgruppen, die aus orientalischen Ländern kamen, doppelt ausgegrenzt<br />
waren. Zunächst wurden viele von ihnen manipulativ in die geographische<br />
Peripherie geleitet, und dann fanden sie nichts von sich in den Geschichtsbüchern<br />
wieder, die im Staat Israel geschrieben wurden. Das nenne<br />
ich: Ausgrenzung vom Buch und Wegleitung zum Grenzland. 2<br />
Diese Unterdrückung, so problematisch sie auch war, ist dennoch in sich äußerst<br />
komplex: Der messianische Erlösertraum von der Heimkehr ins gelobte<br />
Land war ja den juden aller Weltgegenden gemeinsam. Dieses, den menschen<br />
innewohnende, fast naive Gefühl der Verpflichtung zu diesem Traum erklärt,<br />
warum der propagierte Schmelztiegel Israel zu Anfang so erfolgreich war. Ebenfalls<br />
erklärt es, dass es eine Zeit dauerte, bis den einzelnen menschen die Kluft<br />
zwischen dem Kollektivtraum und den eigenen Wünschen – sich selbst und<br />
seine eigene Kultur authentisch auszudrücken – bewusst wurde. In diesem<br />
Sinn wurde der Staat zum Scheitelpunkt der Aufspaltung zwischen östlichem<br />
und westlichem muster innerhalb einer Religion. Diese Religion umfasst die<br />
zwei großen Kulturkreise der menschlichen Zivilisation und in den Grundfesten<br />
dieser Religion sind diese beiden Pole verschmolzen.<br />
Im Zuge der realen Rückführung des juden in die Geschichte in Form der<br />
Staatsgründung, wurde das orientalische ausgeslöscht, als lächerlich und<br />
überflüssig dargestellt, seiner Vergangenheit beraubt, in eine Lage gebracht,<br />
124 OVERLAPPING VOICES<br />
in der es sich seiner selbst schämen musste. Das orientalische wurde aus<br />
seinem Eigenen verdrängt, seine geistigen Bedürfnisse und sein Kulturerbe<br />
fanden keine staatlichen, kulturellen und institutionellen Ausdrucksmittel.<br />
Diese Politik wiederholte wie ein Echo die frühen Versuche jüdischer Aufklärer,<br />
dem judentum auch in Europa eine Geschichte innerhalb Europas zu geben.<br />
Die Anfänge dieser Versuche reichen bis in die frühe Neuzeit zurück, als Spanien<br />
seine juden vertrieb. Sie verstärkten sich im Laufe des achtzehnten jahrhunderts<br />
und waren von Selbstverachtung und Selbstverabscheuung, von dem<br />
Drang, den juden als den Anderen ins Archiv zu verbannen, und von starker<br />
emotionaler Ablehnung der Diaspora (= die Exilexistenz) begleitet 3 . Später, mit<br />
dem Auftreten der Wissenschaft des judentums in Deutschland des neunzehnten<br />
jahrhunderts, entwickelte sich daraus das, was Gerschom Scholem als das<br />
Bestreben, dem judentum ein ehrenvolles Begräbnis zu verschaffen, beschreibt:<br />
„ ...der Jude will sich von sich selbst befreien, und die Wissenschaft des Judentums<br />
dient ihm als Begräbniszeremonie und ist eine Art Befreiung von einem Joch,<br />
das auf ihm lastet.“ 4<br />
Der Akt der musealen Konservierung und Archivierung ist ein Akt vor der<br />
endgültigen Tötung – genau mit diesem Prozess kann die Beziehung des<br />
neuen europäischen, aufgeklärten judentums zum judentum beschrieben<br />
werden.<br />
Ein ähnlicher Prozess ist nun wieder im israelischen Lebensraum im Verhältnis<br />
des „Israelitums“ zum judentum zu sehen und zwar in der Beziehung<br />
des okzidents zum orient. Der orient durchlief einen beschleunigten, vielfältigen<br />
Prozess der Archivierung: Bisweilen nimmt dieser Prozess der Archivierung<br />
die Form der Durchtrennung von organen an und kommt somit einer<br />
Tötung gleich. manchmal wird der orient als Gesamtes aus dem Prozess<br />
der Archivierung ausgeschlossen.<br />
Wenn sich in den westlichen Ländern „der jude“ vom judentum befreien<br />
wollte, dann hat der israelische Kulturraum – nach Gründung des Staates –<br />
begonnen, die gleichen mittel zur Befreiung der orientalischen juden von ihrem<br />
Wesen und ihrer Vergangenheit, anzuwenden. Was die „Wissenschaft<br />
des judentums“ für die juden in Europa zu tun versucht hatte, versuchten<br />
die Führer und Gestalter der Politik des jungen Staates für die orientalischen<br />
juden zu tun. In diesem Zusammenhang können wir abgewandelt sagen, die<br />
Wissenschaft zur Erforschung des orientalischen judentums dient ihm als<br />
Begräbniszeremonie und ist eine Art Befreiung von einem joch, das auf ihm<br />
lastet.<br />
Fest steht, dass in dieser überspitzten metapher das, was einer sich selbst<br />
antut, Selbstmord ist – wenn er dagegen Ähnliches an anderen verübt, kann<br />
es als mord angesehen werden, mord am Gedächtnis.<br />
Was jetzt nottut in der israelischen Kultur, ist eine Verwandlung des toten Archivs<br />
in ein lebendiges, eine Rückkehr zu einem imaginären Nullpunkt des<br />
Daseins des orients. Diese würde es den Elementen von Leben und Tod in<br />
der Erinnerung ermöglichen, sich von neuem frei und vollständig zu<br />
entfalten.<br />
Raum und Gedächtnis: Geographie als Geschichte und Geschichte als<br />
Geographie<br />
Zu den bekannten Vorgängen in einem „Schmelztiegel“ (ein aus dem Einwanderungsland<br />
USA kommender Ausdruck) kamen als Klebstoff und Trennermaterial<br />
noch zwei weitere Elemente in jenes Gemisch, das in dem Tiegel<br />
blubbert: das Universale, eigentlich das Westliche, war der Klebstoff. Das<br />
Arabische, das schon zu Beginn des jahrhunderts in europäischer, kolonialistischer<br />
Perspektive zum „orient“ wurde, war das trennende material.<br />
Gleichzeitig wurde alles Arabische als „leer“ angesehen: Als geographische<br />
Leere im Sinne eines leeren Landes und als „leer“ auf der Ebene des historischen<br />
Gedächtnisses im Sinne von Erinnerungsleere.<br />
Diese Verleugnung des Orientalischen verleugnete auch das Orientalische im<br />
Judentum: Es ist dies eine Einstellung, die nichts davon wissen will, dass das<br />
Judentum als kulturelles Gebilde auch einen östlichen Pol hat und dass das<br />
Land Israel am Ostrand des Mittelmeers liegt. Dies war die Auffassung der Pi-