Sportpsychologische Praxis: Von der Diagnostik zu ... - Hogrefe
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1. Kapitel<br />
<strong>Sportpsychologische</strong> <strong>Praxis</strong>:<br />
<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Diagnostik</strong> <strong>zu</strong> Training und Intervention<br />
1 Einleitung<br />
Jürgen Beckmann und Michael Kellmann<br />
Wir betrachten Sportpsychologie als ein Anwendungsfach <strong>der</strong> Psychologie. Die<br />
Beson<strong>der</strong>heit dieses Anwendungsfaches ist, dass <strong>der</strong> praktisch arbeitende Sportpsychologe<br />
auch immer fundierte Kenntnisse <strong>der</strong> spezifischen Rahmenbedingungen<br />
sportlicher Betätigung haben muss. Teilweise ist sogar die Kenntnis<br />
spezifischer Anfor<strong>der</strong>ungsbedingungen in einzelnen Sportarten unerlässlich.<br />
Daher lassen sich auch Theorien aus <strong>der</strong> Mutterwissenschaft Psychologie nicht<br />
ohne Weiteres auf den Sportbereich übertragen. Noch viel weniger lassen sich<br />
aus den Theorien <strong>der</strong> Mutterwissenschaft unmittelbar sportpsychologische Trainings-<br />
und Interventionsmaßnahmen ableiten. Hier<strong>zu</strong> bedarf es spezifischer sportpsychologischer<br />
Theoriebildung und Forschung, so wie sie im ersten Band <strong>der</strong><br />
beiden Enzyklopädiebände Sportpsychologie (Schlicht & Strauß, in Druck)<br />
dargestellt sind. Eine wichtige Aufgabe des Anwendungsfaches Sportpsychologie<br />
besteht nun darin, einen systematischen Ansatz für die sportpsychologische<br />
Betreuung <strong>zu</strong> entwickeln, <strong>der</strong> Transparenz für alle Beteiligten besitzt, so dass<br />
Athleten und Trainern klar ist, was sie von sportpsychologischer Betreuung <strong>zu</strong><br />
erwarten haben. Auch für den praktisch arbeitenden Sportpsychologen soll<br />
Orientierung geschaffen werden, die letztlich <strong>der</strong> Qualitätssicherung dient.<br />
Gerade angesichts einer wachsenden Nachfrage nach sportpsychologischer<br />
Betreuung im Sport ist das Qualitätsmanagement angewandter sportpsychologischer<br />
Dienstleistung <strong>zu</strong>nehmend notwendig (Birrer & Seiler, 2001). Durch<br />
klare Strukturen eines Systems sportpsychologischer Betreuung und Transparenz<br />
<strong>der</strong> Qualitätsmerkmale muss eine deutliche Abgren<strong>zu</strong>ng qualitativ hochwertiger,<br />
wissenschaftlich begründeter <strong>Praxis</strong> <strong>der</strong> Sportpsychologie vom sogenannten<br />
Mentaltrainer ohne einschlägige Ausbildung erfolgen (vgl. Sanchez, Godin
2 Jürgen Beckmann und Michael Kellmann<br />
& DeZanet, 2005). Um eine solche Grundorientierung geht es in diesem Beitrag.<br />
Wie jedes an<strong>der</strong>e Anwendungsfach <strong>der</strong> Psychologie sieht sich auch die Sportpsychologie<br />
mit einem Dilemma konfrontiert: Einerseits soll durch empirische<br />
Forschung <strong>der</strong> Erkenntnisfortschritt des Faches vorangetrieben werden. An<strong>der</strong>erseits<br />
erwarten jedoch die Sportler, die mit Sportpsychologen in Kontakt treten,<br />
von diesen praktische Hilfe. Hier ergibt sich ein Konflikt zwischen Forschung<br />
und Anwendung.<br />
Dieser Konflikt kommt auch beim Einsatz <strong>der</strong> sportpsychologischen Messinstrumente<br />
<strong>zu</strong>m Tragen. Es stellt sich die Frage, ob diejenigen Messinstrumente eingesetzt<br />
werden, die sich <strong>zu</strong>r Untersuchung eines Forschungsproblems eignen o<strong>der</strong><br />
ob solche ausgewählt werden, die <strong>zu</strong>r Diagnose einer vorliegenden Problemsituation<br />
tauglich sind. Nur selten wird es hier eine Deckungsgleichheit geben.<br />
In diesem Beitrag wird die Position vertreten, dass ein Weg von einer adäquaten<br />
<strong>Diagnostik</strong> <strong>zu</strong> einer daraus abgeleiteten systematischen Intervention beschritten<br />
werden muss (vgl. Westhoff, 1998). Psychologische <strong>Diagnostik</strong> wird<br />
hier verstanden als systematisches Sammeln und Aufbereiten von Informationen<br />
mit dem Ziel, Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen <strong>zu</strong> begründen,<br />
<strong>zu</strong> kontrollieren und <strong>zu</strong> optimieren (vgl. Jäger & Petermann, 1999).<br />
Wird dieser Weg nicht beschritten, fehlt den sportpsychologischen Maßnahmen<br />
die Basis. Sie bekommen einen spekulativen Charakter. Es steigt die Gefahr,<br />
am Problem vorbei <strong>zu</strong> intervenieren. Sicherlich gibt es verschiedene Formen<br />
<strong>der</strong> <strong>Diagnostik</strong>: Beobachtung, Interviews, Fragebögen und Tests. Bei <strong>der</strong><br />
Auswahl ist entscheidend, dass sie einerseits problemangemessen ist und dass<br />
an<strong>der</strong>erseits ausschließlich reliable und valide Diagnoseinstrumente <strong>zu</strong>m Einsatz<br />
kommen (Kellmann & Langenkamp, in Vorb.).<br />
Die bislang vorliegenden Arbeiten <strong>zu</strong>r sportpsychologischen <strong>Praxis</strong> stellen eher<br />
eine Sammlung verschiedener mentaler Fertigkeitstrainings dar (z. B. Eberspächer,<br />
2004; Seiler & Stock, 1994). Beckmann und Elbe (2008) haben versucht<br />
sportpsychologische Betreuung <strong>zu</strong> systematisieren und die verschiedenen Trainingsmaßnahmen<br />
in einem raum-zeitlichen Strukturmodell für eine systematische<br />
sportpsychologische Intervention <strong>zu</strong> integrieren. Dieses Modell beschreibt<br />
sportpsychologische <strong>Praxis</strong> als ein systematisches Vorgehen, bei dem einerseits<br />
grundlegende mentale Fertigkeiten vermittelt und trainiert werden. An<strong>der</strong>erseits<br />
wird aufgrund einer Stärken-Schwächen-<strong>Diagnostik</strong> <strong>der</strong> spezielle Bedarf<br />
an bestimmten Maßnahmen ermittelt. Dies kann an einem Problem ansetzen,<br />
um dann <strong>zu</strong> ermitteln, warum <strong>der</strong> „Trainingsweltmeister“ im Training überragende<br />
Leistungen zeigt, diese aber nicht im Wettkampf erbringen kann. Aber<br />
auch <strong>der</strong> Athlet ohne aktuelle Probleme kann sich durch das Training optimie-
<strong>Sportpsychologische</strong> <strong>Praxis</strong>: <strong>Diagnostik</strong>, Training und Intervention<br />
ren, stabilisieren und für eventuell auftretende kritische Situationen präparieren.<br />
Dem<strong>zu</strong>folge umfasst angewandte sportpsychologische Arbeit einen Präventions-,<br />
einen Trainings- und einen Interventionsaspekt.<br />
Wie schon ausgeführt, ist die <strong>Diagnostik</strong> für alle drei Aspekte ein unverzichtbares<br />
Hilfsmittel. Ihrem Einsatz stellen sich jedoch nicht selten Wi<strong>der</strong>stände entgegen.<br />
Auf diese soll nun eingegangen werden.<br />
2 <strong>Sportpsychologische</strong> <strong>Diagnostik</strong> als Ausgangspunkt für Intervention<br />
Gabler (1995) betrachtet angewandte Sportpsychologie als wissenschaftlich reflektierte<br />
<strong>Praxis</strong>. Nachdem wir in <strong>der</strong> Zwischenzeit jedoch auf einen bemerkenswerten<br />
Bestand sportpsychologischer Forschungsergebnisse <strong>zu</strong>rückgreifen<br />
können, ziehen wir es vor, die angewandte Sportpsychologie in Abgren<strong>zu</strong>ng <strong>zu</strong><br />
zweifelhaften Mentaltrainings als wissenschaftlich begründete <strong>Praxis</strong> <strong>zu</strong> bezeichnen.<br />
Dies bedeutet, dass Interventionen in <strong>der</strong> Sportpsychologie systematisch<br />
aus bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleitet werden sollten.<br />
Um die eigentlichen Interventionen ab<strong>zu</strong>leiten, sind Informationen über vorhergehende<br />
Konditionen (z. B. die individuelle Zustandssituation des Athleten)<br />
notwendig. So berichten Ziemainz, Neumann, Rasche und Stemmler<br />
(2006) hinsichtlich <strong>der</strong> häufigsten Betreuungs- bzw. Beratungsanlässe von<br />
Athleten und Trainern folgende Schwerpunkte: Bei den Athleten wurden die<br />
Themen Trainingsweltmeister (35,1 %), Leistungsoptimierung (29,7 %) und Verlet<strong>zu</strong>ngsmanagement<br />
(21,6 %) am häufigsten als Gründe aufgeführt. Bei den<br />
Trainern wurden Coaching (38,1 %), Kommunikation (28,6 %) und Verbesserung<br />
im Umgang mit <strong>der</strong> Mannschaft/Athleten/Kollegen (28,6 %) als Beratungsanlässe<br />
genommen. Die Effektivität <strong>der</strong> durchgeführten psychologischen Interventionen<br />
hängt von <strong>der</strong> Genauigkeit und Zuverlässigkeit <strong>der</strong> Eingangsdiagnose und<br />
seiner Problemrelevanz ab (<strong>zu</strong>sammenfassend Gabler, Janssen & Nitsch, 1990;<br />
Kellmann, Beckmann & Kopczynski, 2006).<br />
Die vorhandenen Interventionsmaßnahmen, wie z. B. die von Eberspächer<br />
(2004) beschriebenen kognitiven Fertigkeitstrainings (Aufmerksamkeitstraining,<br />
Mentale Vorstellungs- und Entspannungsverfahren) werden oftmals eingesetzt,<br />
ohne dass eine vorherige Untersuchung <strong>der</strong> einzigartigen Situation des<br />
Individuums erfolgt. Wir bezeichnen dies als Ad-hoc-Interventionsansatz. Dieser<br />
Ansatz basiert auf <strong>der</strong> Annahme, dass alle Athleten dieselben psychologischen<br />
Vorausset<strong>zu</strong>ngen aufweisen. Es gibt sicherlich eine Menge von Themen, die eine<br />
Vielzahl von Athleten betreffen, die aus den unterschiedlichen Sportarten des<br />
Hochleistungssports kommen. Jedoch unterscheiden sich die Athleten sowie<br />
ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten häufig in erheblichem Maße voneinan<strong>der</strong>.<br />
<strong>Sportpsychologische</strong> Intervention muss für jeden Athleten maßgeschnei<strong>der</strong>t<br />
3
4 Jürgen Beckmann und Michael Kellmann<br />
sein, um eine optimale Effektivität <strong>zu</strong> gewährleisten (Beckmann, 1990; Beckmann<br />
& Kellmann, 2003).<br />
Der Ad-hoc-Interventionsansatz kann nur dann als Provisorium akzeptiert werden,<br />
wenn es an adäquaten sportpsychologischen Diagnoseverfahren mangelt<br />
(Ostrow, 1996). Bedauerlicherweise liegt hierin noch ein zentrales Problem<br />
sportpsychologischer <strong>Praxis</strong>. Van Mele, Vanden Auweele und Rzewnicki (1995)<br />
stellen fest, dass „despite the acknowledged need for diagnosis, very few theoretical<br />
and experimental publications mention diagnosis“ (S. 130). Auch eine von<br />
den Autoren dieses Beitrages vorgenommene ausführliche Literaturrecherche<br />
ließ keine wesentliche Verbesserung dieser Situation erkennen. In Veröffentlichungen,<br />
die sich auf das mentale Training beziehen, wird <strong>der</strong> diagnostischen<br />
Phase wenig Aufmerksamkeit geschenkt (Van Mele et al., 1995). Zum Beispiel<br />
ist in den von An<strong>der</strong>sen (2000a) herausgegebenen Büchern Doing Sport Psychology<br />
(2000) o<strong>der</strong> Sport Psychology in Practice (2005), welche sportpsychologische<br />
Intervention thematisieren, kein Kapitel <strong>zu</strong>r <strong>Diagnostik</strong> <strong>zu</strong> finden. Auch in<br />
Eberspächers (2004) Buch Mentales Training ist <strong>Diagnostik</strong> kein Thema (siehe<br />
da<strong>zu</strong> auch Beckmann & Elbe, 2008).<br />
Neben <strong>der</strong> Schwierigkeit, geeignete diagnostische Verfahren <strong>zu</strong> finden, wird oft<br />
für den Ad-hoc-Ansatz ins Feld geführt, dass die Athleten sich nur zögerlich<br />
einem Sportpsychologen öffnen, <strong>der</strong> für das Team <strong>zu</strong>nächst eine fremde Person<br />
darstellt. Weiterhin sind die Athleten im Allgemeinen eher unwillig, Papierkram,<br />
wie z. B. Fragebögen, aus<strong>zu</strong>füllen. Die Bereitschaft <strong>zu</strong>r Bearbeitung von<br />
Erhebungsinstrumenten nimmt jedoch <strong>zu</strong>, wenn folgende Aspekte berücksichtigt<br />
werden (vgl. Beckmann & Kellmann, 2003): (1) Jede sportpsychologische<br />
Intervention beginnt mit einer vertrauensbildenden Phase, in <strong>der</strong> die Athleten<br />
und Trainer den Sportpsychologen kennen und ihm vertrauen lernen. (2) Jede<br />
sportpsychologische Handlung sollte die Unterstüt<strong>zu</strong>ng des Team’s Top Management<br />
und des Cheftrainers erfahren. (3) Die sportpsychologischen Handlungen<br />
sollten in den regulären Trainingsplan integriert werden.<br />
2.1 Warum ist psychologische <strong>Diagnostik</strong> im Hochleistungssport<br />
so wichtig?<br />
Eine problemorientierte <strong>Diagnostik</strong> sollte am Anfang je<strong>der</strong> sportpsychologischen<br />
Intervention stehen. Ein fehlen<strong>der</strong> Einsatz von reliabler und vali<strong>der</strong> <strong>Diagnostik</strong><br />
kann <strong>zu</strong> einer Fehleinschät<strong>zu</strong>ng des Problems und eventuell <strong>zu</strong> einer unangemessenen<br />
Intervention führen. Das folgende Beispiel verdeutlicht, wie wichtig<br />
eine korrekte Diagnose für die praktische Arbeit des Sportpsychologen ist. Beckmann<br />
und Kellmann (2003) beschreiben nachfolgende Problemsituation einer<br />
Frauen Bundesliga-Basketballmannschaft: Der Trainer hatte den Donnerstag-
<strong>Sportpsychologische</strong> <strong>Praxis</strong>: <strong>Diagnostik</strong>, Training und Intervention<br />
abend ausgewählt, um ein Trainingsspiel in Vorbereitung auf das eigentliche<br />
Bundesligaspiel am Sonnabend o<strong>der</strong> Sonntag durch<strong>zu</strong>führen. Sein Hintergedanke<br />
dabei war, dass die Durchführung eines Trainingsspiels die Motivation <strong>der</strong><br />
Spielerinnen positiv beeinflussen würde. Die Resonanz auf die Einführung des<br />
wöchentlichen Trainingsspiels von Seiten <strong>der</strong> Spielerinnen war jedoch eher negativ.<br />
Im Laufe <strong>der</strong> Saison nahm die Zahl <strong>der</strong>jenigen, die sich für das Donnerstagstraining<br />
krank meldeten, immer stärker <strong>zu</strong>. Nach <strong>der</strong> Hälfte <strong>der</strong> Saison wurde das<br />
Problem während einer Mannschaftsbesprechung thematisiert. Die Spielerinnen<br />
äußerten, dass sie die Situation des Trainingsspiels als feindlich empfanden und<br />
nicht verstehen konnten, warum einige Spielerinnen so grob spielten. Sie sagten,<br />
dass sie sich als harmonische und konfliktfreie Mannschaft fühlen möchten, jedoch<br />
das Donnerstagstraining einen gegenteiligen Effekt hätte. Dieses Trainingsspiel<br />
nahm ihnen den ganzen Spaß am Sport. Psychologisch formuliert können<br />
die Aussagen <strong>der</strong> Athletinnen dahingehend interpretiert werden, dass die bei<br />
ihnen vorliegenden Motive für das Basketballspielen vorrangig sozialer Natur<br />
waren. Dies war sowohl für den Trainer als auch für den Sportpsychologen sehr<br />
überraschend, da beide angenommen hatten, dass Hochleistungssportlerinnen<br />
vor allem leistungsmotiviert seien. Wenn vor Beginn <strong>der</strong> Saison die Motive <strong>der</strong><br />
Spielerinnen erhoben worden wären, hätte man das Problem eventuell voraussehen<br />
können. Das Trainingsspiel hätte dann mit entsprechen<strong>der</strong> sportpsychologischer<br />
Hilfe vorsichtiger in das Training integriert werden können.<br />
Smith, Smoll und Curtis (1978, 1979) stellen ein gutes Beispiel für die systematische<br />
Verbindung von <strong>Diagnostik</strong> und Intervention vor. Sie untersuchten<br />
den Zusammenhang zwischen dem Trainerverhalten und einigen Athletenvariablen<br />
bei Trainern und Spielern im Little-League Baseball. Die erste Phase des<br />
Projekts umfasste die <strong>Diagnostik</strong>, bei <strong>der</strong> das Trainerverhalten beobachtet und<br />
kodiert wurde. Die Überzeugungen, Einstellungen und Wahrnehmungen des<br />
Trainers wurden durch verschiedene Self-report-Instrumente erhoben. Die Spieler<br />
füllten Fragebögen aus und wurden <strong>zu</strong>sätzlich <strong>zu</strong> Hause interviewt. In <strong>der</strong><br />
zweiten Projektphase wurden die Ergebnisse <strong>der</strong> Erhebung als Basis für eine<br />
kognitive Verhaltensintervention eingesetzt. Diese hatte <strong>zu</strong>m Ziel, die Trainer<br />
da<strong>zu</strong> <strong>zu</strong> bewegen, ihren jungen Athleten eine positivere und stärker sozial unterstützende<br />
Umwelt <strong>zu</strong> gestalten.<br />
Die positive und unterstützende Umwelt wurde in Verbindung mit positiveren<br />
Erlebnissen <strong>der</strong> Spieler in ihrem Sport und einer geringeren Ausstiegsrate gebracht.<br />
Verhaltensrichtlinien wurden von <strong>der</strong> Eingangserhebung abgeleitet und<br />
dem Trainer <strong>zu</strong>r Orientierung vorgelegt. Zusätzlich <strong>zu</strong>m Teil des Programms,<br />
das sich auf das Information-modelling konzentrierte, wurde Rückmeldung <strong>zu</strong>m<br />
Verhalten gegeben und ein Self-monitoring-Verfahren eingesetzt. Ziel war es, das<br />
Bewusstsein <strong>der</strong> Trainer bezüglich ihres Verhaltens <strong>zu</strong> verbessern und sie <strong>zu</strong> ermuntern,<br />
die Trainerrichtlinien ein<strong>zu</strong>halten.<br />
5
6 Jürgen Beckmann und Michael Kellmann<br />
2.2 Vorausset<strong>zu</strong>ngen für die Anwendung von <strong>Diagnostik</strong><br />
im Hochleistungssport<br />
Offensichtlich wäre eine aussagekräftige <strong>Diagnostik</strong> im ersten Beispiel des vorigen<br />
Abschnitts hilfreich gewesen. Im Projekt von Smith et al. (1978, 1979) war<br />
sie im Prinzip sogar wesentlicher Bestandteil <strong>der</strong> Intervention. Die Athleten<br />
sollten jedoch ebenso wenig gleich beim ersten Zusammentreffen mit Stapeln<br />
von Fragebögen konfrontiert werden. Weiterhin muss darauf geachtet werden,<br />
dass keine persönlichen Informationen erhoben werden, die nicht im direkten<br />
Zusammenhang mit <strong>der</strong> spezifischen Situation stehen. Die <strong>Diagnostik</strong> sollte<br />
sich immer auf das Problem beziehen und die Auswahl und Umset<strong>zu</strong>ng von Lösungsstrategien<br />
unterstützen.<br />
So scheint es beispielsweise nicht geeignet, die Auge-Hand-Koordination im<br />
Abfahrtsski <strong>zu</strong> testen, wohingegen eine solche Erhebung im Schießsport durchaus<br />
sinnvoll wäre. Im bereits erwähnten Beispiel <strong>der</strong> Basketballmannschaft<br />
hätte eine validierte deutsche Version des Sport Participation Motivation Questionnaire<br />
von McKee, Mahoney und Kremer (1994) eingesetzt werden können.<br />
Mit diesem Instrument werden die Bedeutung und Ausprägung sportspezifischer<br />
Motive, wie z. B. dem Wettkampfmotiv, dem Gesundheitsmotiv o<strong>der</strong><br />
sozial orientierten Motiven, erfasst. Mit dieser Information über die Motivstrukturen<br />
<strong>der</strong> Spielerinnen wäre es möglich gewesen, die Missverständnisse bezüglich<br />
<strong>der</strong> Einführung des Trainingsspiels <strong>zu</strong> vermeiden.<br />
Eine effiziente <strong>Diagnostik</strong> versteht Westhoff (1998) als systematischen Entscheidungsprozess,<br />
eine Technologie, die er entscheidungsorientierte <strong>Diagnostik</strong> (EOD)<br />
nennt. „Die entscheidungsorientierte <strong>Diagnostik</strong> ist nicht an einer einzelnen<br />
Perspektive ausgerichtet, son<strong>der</strong>n nutzt das vorhandene erprobte technologische<br />
Wissen in möglichst effizienter Art und Weise und richtet sich somit an dem<br />
Verhältnis von Kosten und Nutzen als zentralem Kriterium aus“ (Westhoff, 1998,<br />
S. 173 f.). Westhoff führt acht zentrale Stationen des diagnostischen Prozesses auf.<br />
Zunächst ist die Fragestellung <strong>zu</strong> klären. Da<strong>zu</strong> gehört auch die Frage, ob <strong>der</strong><br />
Sportpsychologe eigentlich <strong>der</strong> <strong>zu</strong>ständige Experte ist, o<strong>der</strong> ob nicht <strong>zu</strong>nächst<br />
o<strong>der</strong> <strong>zu</strong>sätzlich etwa ein Sportmediziner angesprochen werden müsste. Danach<br />
sollte das Anfor<strong>der</strong>ungsprofil geprüft werden: Sind die Anfor<strong>der</strong>ungen vollständig,<br />
verhaltensorientiert formuliert, hinreichend objektiv, <strong>zu</strong>verlässig und<br />
gültig <strong>zu</strong> messen? Westhoff formuliert den diagnostischen Prozess analog <strong>zu</strong>m<br />
Forschungsprozess. Das bedeutet auch, dass die ohnehin immer vorhandenen Hypothesen<br />
über vorhandene Probleme o<strong>der</strong> Defizite explizit <strong>zu</strong> formulieren sind.<br />
Anschließend gilt es, die geeigneten Verfahren <strong>zu</strong>r Prüfung dieser Hypothesen<br />
aus<strong>zu</strong>wählen, also Tests, Fragebögen, Beobachtungen, Gespräche usw. Weiterhin<br />
sollte das Verhältnis von Kosten und Nutzen geprüft werden. Darauf folgt die<br />
Auswertung <strong>der</strong> psychologischen Verfahren. Dabei sollten immer wie<strong>der</strong> auch
<strong>Sportpsychologische</strong> <strong>Praxis</strong>: <strong>Diagnostik</strong>, Training und Intervention<br />
Fragen danach gestellt werden, ob die Auswertungen <strong>der</strong> Theorie entsprechen,<br />
ob sie psychometrisch sinnvoll und logisch gerechtfertigt sind. Im Weiteren sollte<br />
nun eine Kombination <strong>der</strong> diagnostischen Informationen im Befund erfolgen.<br />
Dabei geht es natürlich <strong>zu</strong>nächst darum, ob überhaupt die Fragestellungen beantwortet<br />
werden. Wichtig ist dabei aber auch die Transparenz für den Adressaten.<br />
Ist <strong>der</strong> Befund für ihn gut nachvollziehbar und werden die notwendigen<br />
Erläuterungen <strong>zu</strong>m Stand <strong>der</strong> sportpsychologischen Erkenntnisse allgemeinverständlich<br />
gegeben? Schließlich sollten natürlich Empfehlungen und Vorschläge<br />
bzw. Interventionen aus dem Befund folgen. Diese sollten konkret beschrieben<br />
und die Bedingungen für ihre Verwirklichung klar dargelegt werden. Dabei<br />
sind auch die Folgen verschiedener Interventionsmöglichkeiten auf<strong>zu</strong>zeigen.<br />
Folgt man solch einem systematischen diagnostischen Prozess und den gegebenen<br />
Empfehlungen, dürfte die <strong>Diagnostik</strong> bereits auf eine höhere Akzeptanz stoßen,<br />
weil ihr Nutzen für den Adressaten nachvollziehbar wird. Es empfiehlt sich grundsätzlich,<br />
beim gesamten <strong>Diagnostik</strong>- und Interventionsprozess folgende Grundregeln<br />
ein<strong>zu</strong>halten: Sinnvollerweise sollten jegliche Interventionsmaßnahmen<br />
mit vertrauensbildenden Maßnahmen, wie z. B. interaktive Übungen eingeleitet<br />
werden (An<strong>der</strong>sen, 2000b; Beckmann & Kellmann, 2003; Dorfman, 1990).<br />
Der Aufbau des Vertrauens <strong>zu</strong>m Sportpsychologen stellt die Grundlage für eine<br />
präzise Diagnose von Gruppenprozessen, Persönlichkeitsmerkmalen von Athleten,<br />
interindividuellen Unterschieden und aktuellen psychologischen Zuständen<br />
dar. Auch die Bereitschaft <strong>zu</strong>r Verän<strong>der</strong>ung (readiness for change) hängt vom Aufbau<br />
von Vertrauen ab (Prochaska, DiClemente & Norcross, 1992). Bevor Athleten<br />
und Trainer in das Diagnoseverfahren einwilligen, sollten sie von <strong>der</strong> Kompetenz<br />
und <strong>der</strong> Vertrauenswürdigkeit des Sportpsychologen sowie den Vorteilen<br />
einer systematischen Erhebung überzeugt sein. Auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> laufenden Erhebung<br />
kann <strong>zu</strong>m einen das körperlich-motorische sowie das mentale Training optimiert<br />
werden, <strong>zu</strong>m an<strong>der</strong>en können Interventionen für Einzelpersonen bzw.<br />
die Mannschaft abgeleitet werden. Langfristig orientiert werden die Effekte <strong>der</strong><br />
Interventionen analysiert und ausgewertet, um die Grundlage für weiterführende<br />
Maßnahmen <strong>zu</strong> schaffen. Die nachfolgenden Vorgehensschritte werden in <strong>der</strong><br />
Regel mit den Beteiligten diskutiert und gemeinsam mit ihnen beschlossen.<br />
2.3 Grundlegende Probleme bei <strong>der</strong> Akzeptanz und Umset<strong>zu</strong>ng<br />
angewandter Sportpsychologie<br />
2.3.1 Das Forschungs-Anwendungsdilemma<br />
Theorie und <strong>Praxis</strong>, Forschung und Anwendung werden häufig als unterschiedliche<br />
Fel<strong>der</strong> betrachtet, die nur schwerlich miteinan<strong>der</strong> in Einklang <strong>zu</strong><br />
bringen sind. Diese Trennung ist jedoch künstlich und unproduktiv. Es gibt<br />
7
8 Jürgen Beckmann und Michael Kellmann<br />
zwei Faktoren, die für die Spaltung zwischen Forschung und Anwendung verantwortlich<br />
gemacht werden können: Zum einen werden Studien in angewandten<br />
Fel<strong>der</strong>n oftmals nur <strong>zu</strong> Forschungszwecken durchgeführt. Zum an<strong>der</strong>en<br />
weisen sportpsychologische Erkenntnisse, die in Labor- o<strong>der</strong> in Feldstudien<br />
gewonnen wurden, häufig Mängel auf, die beim Transfer in den Anwendungsbereich<br />
hin<strong>der</strong>lich sind, wie z. B. die fehlende Berücksichtigung spezifischer<br />
Umgebungsbedingungen, ein ungeeignetes Untersuchungsdesign, realitätsferne<br />
Untersuchungsaufgaben o<strong>der</strong> die Übertragung von Untersuchungsergebnissen<br />
von Nichtsportlern auf Athleten. Wenn Forschung und Anwendung sich jedoch<br />
gegenseitig austauschen und miteinan<strong>der</strong> kommunizieren, können sie<br />
sich in sinnvoller Weise ergänzen. Kurt Lewin (1946) entwickelte die Konzeption<br />
<strong>der</strong> Handlungsforschung (Action-Research-Ansatz), um die Lücke zwischen<br />
praktischer Intervention und Forschung <strong>zu</strong> schließen. Heute ist Action Research<br />
eines <strong>der</strong> wichtigsten Werkzeuge <strong>der</strong> Organisationsentwicklung. <strong>Von</strong> diesem<br />
Ansatz könnte auch die Sportpsychologie profitieren.<br />
Gerade diagnostische Verfahren sollten in <strong>der</strong> Sportpsychologie we<strong>der</strong> ohne<br />
theoretische Grundlage noch ohne Anbindung an Probleme aus <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> des<br />
Sports entwickelt werden. Die Geschichte <strong>der</strong> Forschung <strong>zu</strong>m Thema Sport<br />
und Persönlichkeit zeigt die ergebnislosen Versuche, Instrumente an<strong>zu</strong>wenden,<br />
die we<strong>der</strong> eine theoretische noch eine praktische Verbindung <strong>zu</strong>m Sport aufweisen<br />
(Bakker, Whiting & van <strong>der</strong> Brug, 1990). Das Bestreben <strong>der</strong> Sportpsychologie<br />
muss es sein, einen Prozess in Gang <strong>zu</strong> setzen, <strong>der</strong> Forschung und<br />
Anwendung integriert und in dem geeignete ebenso wie angemessene diagnostische<br />
Instrumente eingesetzt werden. Im Folgenden sollen die aktuelle Situation<br />
mit ihren Problemen sowie die oftmals getrennt voneinan<strong>der</strong> betrachteten<br />
und institutionalisierten Ansätze beschrieben werden, die in Forschung und<br />
Anwendung gewählt werden. Darüber hinaus werden Lösungsmöglichkeiten<br />
<strong>zu</strong>r Verbesserung <strong>der</strong> Akzeptanz und Durchführung <strong>der</strong> sportpsychologischen<br />
<strong>Diagnostik</strong> in angewandten Situationen vorgestellt.<br />
2.3.2 Wi<strong>der</strong>stände gegen den Einsatz von <strong>Diagnostik</strong><br />
Ein teilweise mit dem Forschungs-Anwendungsdilemma verbundenes Problem<br />
liegt in <strong>der</strong> Ablehnung psychologischer <strong>Diagnostik</strong>, insbeson<strong>der</strong>e einer Ablehnung<br />
von Fragebögen durch Sportler. Teilweise verwenden Sportpsychologen<br />
an<strong>der</strong>e Erhebungsinstrumente wie etwa Beobachtung und systematische Interviews<br />
(vgl. Halliwell, 1990). Ravizza (1990) argumentiert u. a. aus diesem<br />
Grunde dafür, gar keine <strong>Diagnostik</strong> ein<strong>zu</strong>setzen. Zweifellos ist die psychologische<br />
<strong>Diagnostik</strong> eines <strong>der</strong> am kontroversesten diskutierten Fel<strong>der</strong> <strong>der</strong> angewandten<br />
Sportpsychologie (vgl. Nideffer, 1981). Folgte man jedoch Ravizza, so<br />
würde man sich in <strong>der</strong> Forschung einer wesentlichen Datenquelle berauben.
<strong>Sportpsychologische</strong> <strong>Praxis</strong>: <strong>Diagnostik</strong>, Training und Intervention<br />
Auch aus einer Anwendungsperspektive muss seine Position befremden, fehlt<br />
doch bei einem Verzicht auf <strong>Diagnostik</strong> eine objektive und <strong>zu</strong>verlässige Grundlage<br />
für die Auswahl und Gestaltung von Interventionsmaßnahmen. Nach <strong>der</strong><br />
hier vertretenen Auffassung kann die psychologische <strong>Diagnostik</strong> erfolgreich in<br />
den Leistungssport integriert werden, wenn wichtige Aspekte beachtet werden.<br />
Laut Studienergebnissen von Vealey und Garner-Holmans (1998) verwenden<br />
75 % <strong>der</strong> Sportpsychologen psychologische Inventare o<strong>der</strong> Fragebögen in ihrer<br />
angewandten Arbeit mit Sportlern. Bei Gould, Tammen, Murphy und May<br />
(1989) waren es 63 % und bei O’Conner (2004) 66 % <strong>der</strong> befragten Sportpsychologen.<br />
In Deutschland haben Ziemainz et al. (2006) eine Bestandsaufnahme<br />
über Anwendung von und Bedarf an sportpsychologischer <strong>Diagnostik</strong> in <strong>der</strong><br />
<strong>Praxis</strong> des deutschen Spitzensports arbeitenden Sportpsychologen publiziert.<br />
Mittels computergestützter Telefoninterviews wurden die gelisteten Personen<br />
<strong>der</strong> Sportpsychologie-Expertendatenbank des Bundesinstituts für Sportwissenschaft<br />
(www.bisp-sportpsychologie.de) befragt. Fast 88 % <strong>der</strong> 46 interviewten<br />
Sportpsychologen setzen in ihrer Arbeit mit Athleten <strong>Diagnostik</strong> ein.<br />
<strong>Diagnostik</strong> und Intervention sollten als Phasen eines psychologischen Prozesses<br />
verstanden werden, eines Prozesses, bei dem sich die Intervention (treatment)<br />
aus <strong>der</strong> Diagnose ableitet. Diagnose bezieht sich auf den explorativen<br />
Teil und die Intervention auf den mo<strong>der</strong>ierenden Teil dieser integrierten Aktionssequenz<br />
(Fisseni, 2004). Wenn wir von sportpsychologischer <strong>Diagnostik</strong><br />
reden, meinen wir (sport)psychologische Interviews, systematische Beobachtung<br />
von Athleten, Trainern und Gruppenverhalten und (sport)psychologische<br />
Tests (Fragebögen als auch computergesteuerte Tests, wie z. B. <strong>zu</strong>r Aufmerksamkeit).<br />
Die psychologische <strong>Diagnostik</strong> hat vielfältige Funktionen im Sport,<br />
wie z. B. die Identifikation von Problemen. Weiterhin profitiert die Interventionsplanung<br />
vom Einsatz psychologischer Instrumente, wie z. B. <strong>der</strong> Test of<br />
Attentional and Interpersonal Style (Nideffer, 1976), das Competitive State Anxiety<br />
Inventory-2 (Martens, Burton, Vealey, Bump & Smith, 1990) o<strong>der</strong> das Psychological<br />
Skills Inventory (Mahoney, Gabriel & Perkins, 1987), um nur einige<br />
<strong>zu</strong> nennen.<br />
2.4 Überlegungen <strong>zu</strong>r Psychometrik<br />
Bei <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong> geeigneten diagnostischen Instrumente bedarf es im Vorfeld<br />
<strong>der</strong> Klärung einiger Fragen. Wie bereits erwähnt, bezieht sich eine dieser<br />
Fragen auf das Niveau <strong>der</strong> <strong>Diagnostik</strong>. Eine weitere Überlegung ist, ob ein<br />
psychologisches, ein bereichspezifisches o<strong>der</strong> sogar ein sportspezifisches Instrument<br />
Anwendung finden sollte. Welche Art von Daten können o<strong>der</strong> sollten erhoben<br />
werden? Die Datengewinnung mit Hilfe von Fragebögen ist in <strong>der</strong> Regel<br />
die einfachste und preiswerteste Methode, um an Informationen <strong>zu</strong> gelangen.<br />
9
10 Jürgen Beckmann und Michael Kellmann<br />
An<strong>der</strong>e Möglichkeiten in diesem Zusammenhang stellen Interviews, Beobachtungen<br />
und physiologische Messungen dar (O’Conner, 2004; Vealey & Garner-Holman,<br />
1998; Ziemainz et al., 2006). Die verschiedenen Erhebungsarten<br />
unterscheiden sich nicht nur in ihrer Durchführbarkeit und den entstehenden<br />
Kosten, son<strong>der</strong>n auch hinsichtlich ihrer Reliabilität und Validität. Oftmals werden<br />
Multitrait-multimethod-Ansätze gewählt, die Selbsteinschät<strong>zu</strong>ngen über<br />
Fragebögen und Verhaltensbeobachtungen sowie physiologische Daten miteinan<strong>der</strong><br />
verbinden (vgl. Ziemainz et al., 2006).<br />
Bei einem problemorientierten sportpsychologischen Interventionsprogramm<br />
ist es unerlässlich, dass die Intervention aus einer soliden Datenlage abgeleitet<br />
wird. Wenn Sportpsychologen anfangen, mit Athleten <strong>zu</strong> arbeiten und keine<br />
fundierten Kenntnisse über eine jeweilige Situation besitzen, werden sie meist<br />
weniger formale Ansätze wählen, wie z. B. Beobachtungen und Interviews.<br />
Wenn die Vertrautheit mit <strong>der</strong> Situation <strong>zu</strong>nimmt, können formalere Ansätze,<br />
wie z. B. Fragebögen, gewählt werden. Ist die Kommunikation zwischen Trainern<br />
und Athleten von Interesse, kann beispielsweise eine systematische Beobachtung<br />
des Kommunikationsverhaltens erfolgen, unter <strong>der</strong> Anwendung von<br />
Beobachtungsprotokollen, auf denen spezifische Kategorien <strong>der</strong> Kommunikation<br />
vorgegeben sind. Strukturierte Interviews können an dieser Stelle ebenfalls<br />
angewandt werden.<br />
Den höchsten Grad an Formalität weisen standardisierte Testverfahren auf. Je<br />
formaler und standardisierter die Erhebung durchgeführt wird, desto einfacher<br />
ist es, interindividuelle Unterschiede heraus<strong>zu</strong>kristallisieren und die jeweilige<br />
Situation auf eine generelle, theoretische sportpsychologische Ebene <strong>zu</strong> übertragen.<br />
Hieraus können geeignete Interventionen abgeleitet werden, die sich in<br />
vergleichbaren Situationen bereits als erfolgreich erwiesen haben. Formale Tests<br />
sind in <strong>der</strong> Regel sehr reliable und valide Instrumente (vgl. Standards für Erziehungswissenschaftliche<br />
und Psychologische Tests <strong>der</strong> American Psychological<br />
Association, 1999). In <strong>der</strong> Studie von Ziemainz et al. (2006) wurde deutlich,<br />
dass 71,9 % <strong>der</strong> befragten Sportpsychologen selbst entwickelte Testverfahren<br />
verwendet haben und/o<strong>der</strong> international publizierte Verfahren in einer eigenen<br />
Überset<strong>zu</strong>ng (28,1 %) einsetzten. Lei<strong>der</strong> wird bei den Eigenentwicklungen und<br />
Überset<strong>zu</strong>ngen nicht immer auf die Einhaltung <strong>der</strong> notwendigen psychometrischen<br />
Testgütekriterien und <strong>der</strong>en für Dritte <strong>zu</strong>gänglichen Dokumentation im<br />
Sinne eines Fragebogenmanuals geachtet, um vor allem auf den Einzelfall bezogene<br />
valide und reliable Aussagen treffen <strong>zu</strong> können (vgl. Amelang & Schmidt-<br />
Atzert, 2006; Kersting, 2006).<br />
Standardisierten Fragebögen liegen folgende Beurteilungskriterien <strong>zu</strong>grunde:<br />
Objektivität (Sind die Ergebnisse unabhängig von <strong>der</strong> Person, die den Test erhebt<br />
und auswertet?), Reliabilität (Wie genau misst <strong>der</strong> Test?) und Validität
<strong>Sportpsychologische</strong> <strong>Praxis</strong>: <strong>Diagnostik</strong>, Training und Intervention<br />
(Misst <strong>der</strong> Test, was er <strong>zu</strong> messen vorgibt?). Weitere wichtige Kriterien stellen<br />
Ökonomie (die Kosten bezüglich <strong>der</strong> Durchführung, Auswertung und die Handhabbarkeit<br />
des Tests sollten so niedrig wie möglich sein) und Normen (standardisierter<br />
Test für einen ökonomischen Vergleich <strong>der</strong> Testergebnisse) bei <strong>der</strong> Evaluation<br />
standardisierter Instrumente dar (Bortz & Döring, 2002; Duda, 1998;<br />
Ostrow, 1996). Oftmals sind Norminformationen vorhanden, die Aussagen<br />
über die individuelle Position in Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Verteilung in <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung<br />
ermöglichen. Lei<strong>der</strong> beziehen sich diese Normen meist auf Stichproben<br />
von Nichtsportlern. Weiterhin werden die Kriterien für Normen häufig überbewertet.<br />
Ein Test, für den Normwerte existieren, erhebt we<strong>der</strong> notwendigerweise<br />
etwas Bedeutsames, noch stehen die Kriterien <strong>der</strong> Normen zwangsläufig<br />
mit den an<strong>der</strong>en psychometrischen Eigenschaften in Beziehung. So können für<br />
einen Test, <strong>der</strong> hinsichtlich seiner Objektivität, Reliabilität und Validität als<br />
un<strong>zu</strong>reichend ein<strong>zu</strong>stufen ist, dennoch Normwerte vorliegen (Rost, 1996). Ein<br />
weiteres Problem tritt in <strong>der</strong> sportpsychologischen <strong>Praxis</strong> hin<strong>zu</strong>: Vergleiche mit<br />
Normwerten allgemeinpsychologischer Tests können hinsichtlich <strong>der</strong> Diagnose<br />
eines Leistungssportlers irreführend sein, da Athleten in vielen Fällen an<strong>der</strong>e<br />
und unter Umständen extremere Ergebnisse erzielen als Nichtsportler (vgl.<br />
Gabler, 1981). Ein unreflektierter Vergleich psychologischer und physiologischer<br />
Daten von Sportlern und Nichtsportlern kann daher leicht <strong>zu</strong> Fehlinterpretationen<br />
führen (vgl. Elbe, Wenhold & Müller, 2005).<br />
Generell mag es wünschenswert erscheinen, ausschließlich standardisierte Tests<br />
an<strong>zu</strong>wenden, die den oben aufgeführten Kriterien entsprechen. Die angewandte<br />
Arbeit stellt jedoch <strong>zu</strong>sätzliche Anfor<strong>der</strong>ungen an die eingesetzten Testverfahren.<br />
Hohe auf Gruppenebene ermittelte Reliabilitäten und Validitäten gelten keinesfalls<br />
notwendigerweise auch für den einzelnen Athleten (z. B. Wottawa, 1980).<br />
Tests mit niedrigen Reliabilitäts- und Validitätswerten müssen allerdings nicht<br />
prinzipiell als ungeeignet eingestuft werden. Es hängt immer von <strong>der</strong> Zielset<strong>zu</strong>ng<br />
<strong>der</strong> Erhebung ab. Oftmals existiert kein standardisierter Test für das jeweilige auftretende<br />
Problem, mit dem <strong>der</strong> Sportpsychologe gerade konfrontiert ist. Anstelle<br />
von standardisierten Tests setzen Sportpsychologen häufig Fragebögen ein, die<br />
we<strong>der</strong> eine nachgewiesene hohe Reliabilität noch Validität aufweisen. Bei niedrigen<br />
Reliabilitäten und Validitäten können die Testergebnisse jedoch lediglich als<br />
vage beurteilt werden und <strong>zu</strong> Fehlinterpretationen führen. Brickenkamp (1997)<br />
empfiehlt dem angewandten Sportpsychologen in diesem Kontext, <strong>zu</strong>sätzliche<br />
Daten <strong>zu</strong> erheben (multitrait-multimethod im Sinne eines Ansatzes), um die Ergebnisse<br />
<strong>der</strong> Fragebogenuntersuchung untermauern <strong>zu</strong> können.<br />
Bei <strong>der</strong> Auswahl eines Tests sollte <strong>der</strong> Sportpsychologe Folgendes beachten:<br />
(a) den spezifischen Zweck und (b) die psychometrischen Eigenschaften (vgl.<br />
Ostrow, 1996). Ein unsystematischer Einsatz von Tests, mit denen <strong>der</strong> Sportpsychologe<br />
vertraut ist, ist meist nicht sehr hilfreich (z. B. die identische Erhe-<br />
11
12 Jürgen Beckmann und Michael Kellmann<br />
bung in je<strong>der</strong> Situation). Bevor standardisierte Instrumente ausgewählt werden<br />
können, muss <strong>zu</strong>erst ein Verständnis für die Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> jeweiligen Sportart<br />
und <strong>der</strong> spezifischen Problemsituation erworben werden.<br />
2.5 Grundlagenforschung in Psychologie und Sportpsychologie<br />
als Basis für sportpsychologische Anwendungen<br />
Ein zentrales Problem <strong>der</strong> Sportpsychologie als wissenschaftlich begründete<br />
<strong>Praxis</strong> liegt darin, dass viele Theorien aus <strong>der</strong> Grundlagenforschung nicht praktisch<br />
genug sind, um die tatsächlichen Probleme von Trainern und Athleten <strong>zu</strong><br />
lösen. Daher muss die Entwicklung einer sportpsychologischen Technologie,<br />
gewissermaßen einer sportpsychologischen Ingenieurswissenschaft vorangetrieben<br />
werden. Dieser technologische Ansatz erfor<strong>der</strong>t Forschungsprogramme mit<br />
spezifischem Design, die nicht darauf abzielen, Einzelhypothesen <strong>zu</strong> überprüfen,<br />
welche aus einer Theorie <strong>der</strong> Sportpsychologie abgeleitet sind. Vielmehr<br />
erfor<strong>der</strong>t es die Entwicklung von Lösungen, die sich aus mehreren Theorien<br />
bezüglich des praktischen Problems ableiten. Nach Varela (1977) strebt die wissenschaftliche<br />
Forschung Präzision, Klarheit und objektive Fakten an. Demgegenüber<br />
dient ein technologischer Ansatz <strong>der</strong> Lösung eines spezifischen Problems.<br />
Hermann (1976) bezeichnet solch einen Ansatz als Typ-B-Forschungsprogramm.<br />
Er vergleicht es mit dem Typ-A-Programm, welches <strong>zu</strong>r empirischen<br />
Überprüfung einer einzelnen Theorie entwickelt wurde. Praktische Probleme<br />
benötigen anwendungsorientierte Forschungsprojekte vom Typ B, die einen<br />
immanenten <strong>Praxis</strong>be<strong>zu</strong>g aufweisen. Um den Vorrausset<strong>zu</strong>ngen angewandter<br />
Typ-B-Forschungsprogramme <strong>zu</strong> entsprechen, sind spezifische Implikationen<br />
und Untersuchungsdesigns erfor<strong>der</strong>lich. Varela (1977) postuliert (für die Sozialwissenschaften),<br />
dass <strong>zu</strong>r Lösung praktischer Probleme eine Technologie entwickelt<br />
werden muss, die Lösungssysteme kreiert, die für das jeweilige Problem<br />
geeignet sind. Solch ein System ist ein „ingenious combination of findings from<br />
different areas, that will make application work“ (Varela, 1977, S. 915). Dies<br />
bedeutet ebenfalls, dass Anwendungen insbeson<strong>der</strong>e im Sport interdisziplinärer<br />
Natur sein sollten. Dieser technologische Ansatz impliziert eine Interaktion<br />
zwischen interdisziplinärer Forschung und Anwendung. Im Gegensatz <strong>zu</strong>r<br />
Grundlagenforschung ist <strong>der</strong> Grundsatz wissenschaftlich basierter Anwendung<br />
nämlich: „Problems are solved around problem-centered synthesis rather than<br />
by further theory-oriented analysis“ (Varela, 1974, S. 469). Die Autoren dieses<br />
Beitrags wi<strong>der</strong>sprechen <strong>der</strong> Lewin <strong>zu</strong>geschriebenen Aussage, dass nichts praktischer<br />
sei als eine gute Theorie. Praktischer als eine gute Theorie ist ein angewandtes<br />
Forschungsprogramm, das auf <strong>der</strong> Synthese mehrerer guter Theorien<br />
basiert.