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910 - Philipp Schuster

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Ob ich früher nur für ein paar Tage oder<br />

jetzt eben für ein paar Monate in Lyon<br />

war: der unbeschreibliche Charme dieser<br />

Stadt hat mich jedes Mal aufs Neue fasziniert.<br />

Ich habe mich selten in einer fremden Stadt<br />

so wohl gefühlt wie hier: Angefangen von der<br />

Mentalität der Menschen über das entzückende<br />

Stadtbild bis hin zu den reichen kulinarischen<br />

Angeboten - hier werden alle Erwartungen an<br />

eine unverfälschte französische Atmosphäre<br />

restlos erfüllt.<br />

Das Vorurteil vom arroganten und unfreundlichen<br />

Franzosen hat in Lyon keine Gültigkeit.<br />

Man sagt, dass das eher für Paris typische<br />

Eigenschaften sind - in Lyon trifft man an allen<br />

Ecken nette und zuvorkommende Menschen.<br />

Ich habe mit vielen Franzosen gesprochen, die<br />

aus genau diesem Grund der Hauptstadt den<br />

Rücken gekehrt haben, um ein „französischeres“<br />

Leben in Lyon zu beginnen - weg von der<br />

hektischen Metropole, um in diese überaus<br />

40<br />

Sebi BINDER pupeckigrind pop out<br />

kultivierte Umgebung einzutauchen. Tatsächlich<br />

empfindet man das als Ausländer genauso: die<br />

überschaubare Größe und der bodenständige<br />

„esprit“ machen Lyon besonders liebenswert.<br />

Die Menschen hier kennen weder Eile noch<br />

Grant. Es scheint, als würden überall zu allererst<br />

die Regeln der Vernunft gelten. Beim Autofahren<br />

beispielsweise würde man nie in die Situation<br />

kommen, dass ein Lenker stur auf seinem<br />

Vorrang beharrt, obwohl er dadurch einen Stau<br />

im Querverkehr verursacht. Geparkt wird dort,<br />

wo Platz ist und gefahren wird dann, wenn man<br />

niemanden behindert. Auch wenn die Schlange in<br />

der Boulangerie schon bis auf die Straße reicht,<br />

nimmt sich die Bäckerin immer noch etwas Zeit,<br />

um ein paar Worte mit dem Kunden zu wechseln,<br />

bevor sie das nächste Croissant einpackt. Jeder<br />

hat Verständnis dafür und freut sich, auch selbst<br />

ein bisschen plaudern zu können. Das ist eine<br />

Lebensweise, an die man sich als gelernter<br />

Österreicher erst gewöhnen muss. Sie ist aber<br />

keinesfalls mit südländischer zu verwechseln:<br />

Pünktlichkeit und Sauberkeit haben durchaus<br />

einen hohen Stellenwert. Es ist also eine<br />

gesunde Mischung, die eine sympathische<br />

Lockerheit mit einer gewissen Disziplin überaus<br />

charmant vereinigt.<br />

Um eine fremde Kultur wirklich kennenzulernen,<br />

muss man das fremde Leben auch selbst leben.<br />

Obwohl ich immer noch ein Gast war, begann<br />

ich die Stadt als mein bekanntes Territorium zu<br />

betrachten und lernte sie nach und nach lieben.<br />

Es waren die beiläufigen Gespräche mit der Frau<br />

in der Bäckerei, es war der Markt, durch den<br />

ich jeden Tag auf dem Weg zu einem Spot fuhr,<br />

der Nachbar, der jeden Morgen pünktlich um<br />

dreiviertel Neun vor die Türe trat, um sich eine<br />

„Gauloises“ anzuzünden und es war natürlich vor<br />

allem auch der Wechsel der Jahreszeiten, den<br />

ich im Lauf der Monate miterleben konnte - all die<br />

kleinen Dinge, denen man unter normalen<br />

Reisebedingungen gar keine Beachtung schenkt:<br />

die Dinge des Alltags. Erst wenn man die Zeit<br />

hat, diese Dinge ganz bewusst wahrzunehmen,<br />

bekommt man die Möglichkeit, auch tiefer in das<br />

Geschehen einzutauchen und schließlich ein Teil<br />

dieser Gesellschaft zu werden. Man erlebt dann<br />

altbekannte Straßenszenen auf immer neue<br />

Weisen, beobachtet sie interessiert, studiert<br />

sie aufmerksam, erkennt Zusammenhänge und<br />

nimmt dabei beinahe unmerklich eine ganz neue<br />

Lebensart an.<br />

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