Geschlechtliche Subjektivierung – Ansätze im Anschluss an ...
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Essay zum Seminar Das Subjekt und die Macht <strong>–</strong> Subjektkonstitution bei Foucault und Lorenzer<br />
Dozentinnen: Dr. Sonja Buckel und Dipl. päd. Julia König<br />
SoSe 2008<br />
Verfasserin: Carmen Stef<strong>an</strong><br />
<strong>Geschlechtliche</strong> <strong>Subjektivierung</strong> <strong>–</strong><br />
<strong>Ansätze</strong> <strong>im</strong> <strong>Anschluss</strong> <strong>an</strong> Foucault und Lorenzer<br />
Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, wo queer/ feministische Arbeiten <strong>an</strong> Foucault<br />
<strong>an</strong>knüpfen, welchen Gewinn und welche Probleme sie mit sich bringen. D<strong>an</strong>ach wird <strong>im</strong> Lichte<br />
dieser Überlegungen nach möglichen <strong>Anschluss</strong>punkten bei Lorenzer gefragt.<br />
<strong>Ansätze</strong> <strong>im</strong> <strong>Anschluss</strong> <strong>an</strong> Foucault<br />
Auch wenn Foucault das Thema Geschlecht weitgehend (nicht aber gänzlich) aus dem Blick<br />
verloren hat, sind verschiedene von ihm entwickelte Ged<strong>an</strong>ken zum zentralen Anknüpfungspunkt<br />
neuerer Analysen rund um Geschlecht und Macht geworden. Antke Engel und Nina Schuster 1<br />
zeichnen nach, wie Foucaults Arbeiten für queer/ feministische Theoriebildungen <strong>–</strong> und, davon<br />
nicht zu trennen, für die politische Praxis <strong>–</strong> fruchtbar gemacht worden sind, was von ihm<br />
aufgegriffen und wo über ihn hinausgeg<strong>an</strong>gen wird. Dem Folgenden liegt unter <strong>an</strong>derem ihre<br />
Zusammenfassung zugrunde.<br />
Foucault fragt aus genealogischer Perspektive, wie best<strong>im</strong>mte (raum-zeitlich verortete) Diskurse<br />
und damit Macht-Wissen-Komplexe aus älteren hervorgeg<strong>an</strong>gen sind und wie die entsprechenden<br />
Machttechnologien funktionieren. Ihre Historizität verweist zugleich auf ihren kontingenten<br />
Charakter. In diesem Sinne setzen queer/ feministische <strong>Ansätze</strong> Geschlecht nicht mehr einfach als<br />
gegeben voraus, sondern fassen die starre Kategorie der Zweigeschlechtlichkeit als Gewordenes<br />
(und Veränderbares) auf. Hier kommt auch schon Foucaults Macht<strong>an</strong>alyse ins Spiel: Macht ist<br />
nicht repressiv, sondern produktiv, Macht als Verhältnis, das den Möglichkeitsraum von H<strong>an</strong>dlung<br />
verändert, wird nicht von oben nach unten ausgeübt, sondern kommt von überall und bildet ein<br />
komplexes Geflecht. Was gedacht, was als Wissen <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nt wird, worüber gesprochen und<br />
worüber nicht gesprochen wird, sind darin zentrale Momente. Mit Blick auf<br />
Geschlechterverhältnisse <strong>im</strong>pliziert ein solch komplexes Machtverständnis, sich von der<br />
1 Antke Engel/ Nina Schuster, Die Denaturalisierung von Geschlecht und Sexualität. Queer/ feministische<br />
Ausein<strong>an</strong>dersetzungen mit Foucault, in: Rol<strong>an</strong>d Anhorn/Fr<strong>an</strong>k Bettinger/Joh<strong>an</strong>nes Stehr (Hrsg.), Foucaults<br />
Macht<strong>an</strong>alytik und Soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Best<strong>an</strong>dsaufnahme, VS Verlag, Wiesbaden, 2007<br />
[<strong>im</strong> Folgenden: Engel/ Schuster]<br />
1
Vorstellung, die m<strong>an</strong>chen frühen feministischen <strong>Ansätze</strong>n zugrundeliegt, zu lösen, es gäbe einerseits<br />
Herrscher („die“ Männer), <strong>an</strong>dererseits bloß passiv Beherrschte („die“ Frauen).<br />
Geschlechterhierarchie ist nach wie vor Forschungsgegenst<strong>an</strong>d, wird aber <strong>im</strong> Rahmen queer/<br />
feministischer Theorien eher in Zusammenh<strong>an</strong>g mit Normativität untersucht.<br />
Dass geschlechtliche Differenz binär gedacht und ben<strong>an</strong>nt wird, hat Folgen, entfaltet Macht. Binäre<br />
Kategorien und ihre Definition (das machen Engel/ Schuster <strong>im</strong> zugrundeliegenden Text nicht<br />
explizit) spielen auch nach Foucault eine zentrale Rolle für Machtausübung mittels Normalisierung,<br />
er hat dabei vor allem als Gegensätze gedachte Kategorien <strong>im</strong> Blick: psychische Gesundheit <strong>–</strong><br />
Wahnsinn, körperliche Gesundheit <strong>–</strong> Kr<strong>an</strong>kheit, rechtskonformes Verhalten <strong>–</strong> Kr<strong>im</strong>inalität. 2 Doch<br />
weisen Engel/ Schuster auf eine eher unbek<strong>an</strong>nte Publikation hin, in der sogar die<br />
Zweigeschlechtlichkeit problematisiert wird: Foucault hat die Lebenserinnerungen des<br />
intersexuellen 3 Menschen Herculine Barbin herausgegeben und als Einführung den Text „Das<br />
wahre Geschlecht“ verfasst. Herculine wuchs <strong>im</strong> Fr<strong>an</strong>kreich des 19. Jahrhunderts zunächst<br />
unbehelligt auf, wurde d<strong>an</strong>n aber den üblichen medizinischen, psychologischen und juridischen<br />
Dr<strong>an</strong>gsalierungen ausgesetzt, zum M<strong>an</strong>n erklärt und beg<strong>an</strong>g schließlich Suizid. Foucault sieht nun<br />
Ende des 19. Jahrhunderts die Idee des „wahren Geschlechts“ entstehen, die er als Macht-Wissen-<br />
Komplex deutet. Damit beh<strong>an</strong>delt er, wenn auch sehr knapp, das zentrale Thema der späteren Queer<br />
Theory: Vereindeutigung von Geschlecht als sozialer Prozess, der sich auch in institutionellen<br />
Arr<strong>an</strong>gements verdichtet, von dort aus org<strong>an</strong>isiert und verfestigt wird, dessen Ergebnis als <strong>im</strong>mer<br />
schon gegeben und selbstverstädlich gedacht wird. Tatsächlich muss er aus queerer Perspektive<br />
<strong>im</strong>mer wieder neu hergestellt werden, und zwar durch die Subjekte selbst. Er vollzieht sich auf<br />
subtilste Weise, so dass sein Machtcharakter verschleiert wird, durchdringt den Körper und seine<br />
Bewegungen bis in kleinste Details hinein. Deutlich tritt hervor, dass hier <strong>an</strong> Foucaults<br />
Überlegungen zu Macht, zu den „Technologien des Selbst“ sowie zur Thematik des individuellen<br />
Körpers <strong>an</strong>geknüpft wird. Die bek<strong>an</strong>ntesten Arbeiten zu Vergeschlechtlichung und Vereindeutigung<br />
sind die von Judith Butler. Aus dieser Perspektive erscheint auch die traditionelle feministische<br />
Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“ nicht mehr sinnvoll.<br />
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist jedoch in den bisherigen Ausführungen ausgeklammert geblieben:<br />
2 Vgl. zu der Problematik binärer Gegensätze bei Foucault z. B. Hutton, der seinerseits Geschlecht nicht thematisiert,<br />
in: Patrick H. Hutton, Foucault, Freud und die Technologien des Selbst, in: Martin, Gutm<strong>an</strong>, Hutton (Hrsg.),<br />
Technologien des Selbst, Fischer Verlag, Fr<strong>an</strong>kfurt am Main, 1993, S. 149<br />
3 Ich verwende den Begriff der Intersexualität trotz der Problematik, dass das „inter“ („zwischen“) der binären<br />
Denkweise verhaftet bleibt, weil er meines Wissens nach in gegenwärtigen em<strong>an</strong>zipativen Kontexten üblich und<br />
auch über diese hinaus relativ bek<strong>an</strong>nt ist.<br />
2
In queer/ feministischen Ausein<strong>an</strong>dersetzungen wird Geschlecht <strong>im</strong>mer in seinem Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
mit Sexualität untersucht. Dabei ist Foucaults Werk „Sexualität und Wahrheit“ ein wichtiger<br />
Bezugspunkt. Dort „diagnostiziert er bezüglich der Moderne [...] einen Zusammenh<strong>an</strong>g zwischen<br />
der Herausbildung des modernen Subjekts und einem Sexualitätsdispositiv“ 4 , vermittels dessen<br />
Macht nicht mit den Mitteln von Repression und Tabu, sondern gerade über das Sprechen über Sex,<br />
das als befreiend empfunden wird, funktioniert, so dass zum einen der Wunsch entsteht, „die<br />
Wahrheit“ über sich selbst herauszufinden, zum <strong>an</strong>deren Vorstellungen von Normalität sich<br />
herausbilden. <strong>Subjektivierung</strong>, Macht, Wissen und Normativität sind auch hier mitein<strong>an</strong>der<br />
verstrickt, und gerade das macht das Werk für die queer studies interess<strong>an</strong>t. Wie das alles mit<br />
Geschlecht zusammenhängt, hat Foucault jedoch nur <strong>im</strong>plizit beh<strong>an</strong>delt und ist erst <strong>im</strong> <strong>Anschluss</strong> <strong>an</strong><br />
ihn ins Forschungszentrum grückt. 5 Vor allem dass die Norm der Heterosexualität die rigide<br />
Zweigeschlechtlichkeit als Bedingung erfordert, ist Ausg<strong>an</strong>gspunkt vieler Untersuchungen<br />
geworden. Darüber hinaus wird Foucault häufig dafür kritisiert, dass er sich letztlich nur die weiße<br />
bürgerliche Mittelschicht in Westeuropa <strong>an</strong>geschaut und seine Analyse des Rassismus nicht<br />
systematisch mit seinen Ged<strong>an</strong>ken zu Sexualität verknüpft hat. Dagegen wird in neueren <strong>Ansätze</strong>n<br />
versucht, diese komplexen Zusammenhänge (auch zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung, der<br />
Nord-Süd-Problematik, zu Migrationspolitik etc.) zu erfassen.<br />
Es ist klar, dass <strong>im</strong> <strong>Anschluss</strong> <strong>an</strong> Foucault das Formulieren von alternativem als dem hegemonialen<br />
Wissen schon ein politischer Widerst<strong>an</strong>dsakt ist. Die Zweigeschlechtlichkeit infrage zu stellen,<br />
eröffnet neue Möglichkeiten für die eigene Lebenspraxis und zielt auch auf das gesellschaftliche<br />
„G<strong>an</strong>ze“. Engel/ Schuster betonen in diesem Zusammenh<strong>an</strong>g, dass es dabei nicht um den Anspruch<br />
geht, selbst eine „Wahrheit“ zu verkünden, sondern um „strategische Einsätze in einem diskursiven<br />
Machtfeld“ 6 , insofern, konkreter gewendet, dieses „nicht-objektive Wissen für Menschen<br />
h<strong>an</strong>dlungsleitend wird“ 7 . Die Kritik bedarf „weder eines universellen Wertehorizonts noch einer<br />
definitiven Zielformulierung“ 8 . Queere Bewegungen problematisieren dabei auch (feministische,<br />
homosexuelle etc.) Identitätspolitiken und ihre Ausschlüsse, richten sich vor allem gegen die<br />
Normen und probieren neue Formen von Praxis aus.<br />
Foucault hat also wichtige Aspekte aus dem Blick verloren, aber wertvolle Analyseinstrumente für<br />
die weiterführende Theoriebildung bereitgestellt. Die queer/ feministischen Arbeiten <strong>im</strong> <strong>Anschluss</strong><br />
4 Engel/ Schuster, S. 136<br />
5 Vgl. ebd., S. 137<br />
6 Ebd., S. 145<br />
7 Ebd.<br />
8 Ebd., S. 146<br />
3
<strong>an</strong> ihn sind meines Erachtens sehr bereichernd und eröffnen neue Perspektiven. Konsequent sind sie<br />
auch in ihrer Selbstrefexion, sei es, was den Sprachgebrauch, sei es, was die darüber hinausgehende<br />
politische Praxis <strong>an</strong>geht. Durch ihre Radikalität verfallen sie nicht in Fehler m<strong>an</strong>cher älterer<br />
feministischer <strong>Ansätze</strong> (die sich etwa darin zuspitzen, dass zum Teil sogar „die Frau“ aufgrund ihrer<br />
<strong>an</strong>deren „Natur“ zum „besseren“ Geschlecht erklärt wurde), was sowohl einen theoretisch-<br />
<strong>an</strong>alytischen als auch einen praktisch-em<strong>an</strong>zipativen Gewinn bedeutet. Allerdings werden gerade<br />
durch das veränderte Verständnis von politischer Praxis auch neue Probleme aufgeworfen:<br />
Selbst nicht „die Wahrheit“ verkünden zu wollen, ist zwar eine attraktive Haltung, doch ist nicht ein<br />
Strukturmerkmal einer Aussage ihr Geltungs<strong>an</strong>spruch, um den sie zumindest, einmal<br />
ausgesprochen, nicht umher kommt? Etwas über Aussagen (oder gar diskursive Spielregeln)<br />
schlechthin zu sagen, erscheint zwar <strong>im</strong> <strong>Anschluss</strong> <strong>an</strong> Foucault überaus fragwürdig. Doch wie soll<br />
der strategische Einsatz <strong>im</strong> Machtfeld seine h<strong>an</strong>dlungsrelev<strong>an</strong>te Wirkung entfalten, wenn nicht<br />
darüber, dass eine These (etwa die, dass Zweigeschlechtlichkeit gesellschaftlich hervorgebracht ist)<br />
Geltung be<strong>an</strong>sprucht und darin ernstgenommen wird? Darüber, dass sie H<strong>an</strong>dlungen ermöglicht,<br />
könnte m<strong>an</strong> aus pragmatistischer Perspektive entgegnen. War aber d<strong>an</strong>n alles quasi gar nicht so<br />
ernst gemeint, sondern ist nur aus zweckrationalen Erwägungen heraus formuliert worden? Dem<br />
k<strong>an</strong>n hier nicht weiter nachgeg<strong>an</strong>gen werden, jedenfalls aber tut sich hier eine Reihe nicht g<strong>an</strong>z<br />
einfach zu lösender Probleme auf. Ähnlich steht es um die Frage, inwiefern die Kritik, wie sie <strong>im</strong><br />
<strong>Anschluss</strong> <strong>an</strong> Foucault aus queerer Perspektive formuliert und verst<strong>an</strong>den wird, keines „universellen<br />
Wertehorizonts“ bedarf. Das ist einerseits sowohl theoretisch konsequent (aufgrund des<br />
genealogischen Ausg<strong>an</strong>gspunkts) als auch praktisch von gewisser Attraktivität (es ermöglicht neue<br />
Bündnisse und ist weniger ausschließend). Allerdings verstehen sich queere Bewegungen als<br />
em<strong>an</strong>zipativ, sie leisten Widerst<strong>an</strong>d gegen Normen, die Menschen ein selbstbest<strong>im</strong>mtes Leben<br />
erschweren, und selbstverstädlich lehnen sie z. B. Rassismus ab. Impliziert das nicht, dass sie doch<br />
gewisse Werte mitein<strong>an</strong>der teilen und sogar universell z. B. Rassismus als „schlecht“ sehen? Wie<br />
gesagt ist die Problematik von ähnlicher Struktur wie die zuvor aufgeworfene und k<strong>an</strong>n hier<br />
ebenfalls nur <strong>an</strong>geschnitten werden.<br />
Mögliche <strong>Ansätze</strong> <strong>im</strong> <strong>Anschluss</strong> <strong>an</strong> Lorenzer <strong>–</strong> mit Blick auf queer/ feministische Arbeiten<br />
nach Foucault<br />
Wo bei Lorenzer mögliche Anknüpfungspunkte mit Blick auf theoretische Entwicklungen zum<br />
Thema Geschlecht und geschlechtliche <strong>Subjektivierung</strong> sind, wurde bisher, soweit ich sehe, wenig<br />
4
erforscht. Wie Foucault hat auch Lorenzer sich mit dem Körper und mit Sexualität mit Blick auf<br />
<strong>Subjektivierung</strong>prozesse beschäftigt, Geschlecht aber weitgehend (nicht jedoch völlig) außer Acht<br />
gelassen. Im Folgenden soll der Frage nachgeg<strong>an</strong>gen werden, inwieweit seine Konzepte trotzdem<br />
für eine Analyse der Problematik von Geschlecht genutzt werden könnten, insbesondere inwieweit<br />
seine Überlegungen mit queer/ feministischen Perspektiven vereinbar sind. Schließlich soll Ulrike<br />
Prokops Analyse der geschlechtsspezifischen Inszenierung in der Sendung Big Brother 9 , in der sie<br />
auf Lorenzer zurückgreift, in Hinblick auf diese Fragen in knapper Form dargestellt und diskutiert<br />
werden.<br />
Nach Lorenzers kritisch-psycho<strong>an</strong>alytischer Auffassung ist <strong>im</strong> Subjekt <strong>im</strong>mer „Einheit von<br />
Natürlichkeit und Sozialität“ 10 , vom Erbgut sagt er etwa, es sei „nur ein Set von<br />
gattungsgeschichtlich gewordenen Natur-Möglichkeiten, die durch die menschliche Praxis der<br />
Mutter-Kind-Einheit in einer sozial best<strong>im</strong>mten Form verwirklicht werden.“ 11 Demnach gibt es<br />
nichts am Menschen und seinem Körper, das bloß biologisch ist und zu dem das Soziale<br />
nachträglich hinzutritt. Vielmehr untersucht Lorenzer bis in kleinste Details das Werden des<br />
Subjekts von den psycho-physischen Prozessen her. All dies ist hervorragend dazu geeignet, aus<br />
queer/ feministischer Perspektive in Hinblick auf geschlechtliche <strong>Subjektivierung</strong> weitergedacht zu<br />
werden. Auch mit Lorenzer erscheint die Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“ fraglich,<br />
auch er fragt, wie Gesellschaft auf subtile Weise den Körper durchdringt und mitkonstituiert.<br />
Offenbar ist es sogar so, dass er das Thema Geschlecht nicht völlig vergessen hat <strong>–</strong> <strong>im</strong> Gespräch mit<br />
Görlich sagt er in Zusammenh<strong>an</strong>g mit dem Ödipuskomplex: „Die Sprache selbst entpuppt sich in<br />
ihrem Anspruch, alle Lebensäußerungen zu reglementieren, indem sie das sinnliche Verhältnis des<br />
Individuums zur Welt geschlechtsspezifisch definiert: Der Vater wird als M<strong>an</strong>n und die Mutter wird<br />
als Frau >>bewusst
vermittels dessen diese Herstellung sich vollzieht, und er ausdrücklich von der Ebene des<br />
Bewussten spricht. Zwar spielt auch nach Foucault und nach queer/ feministischen <strong>Ansätze</strong>n<br />
Sprache eine wichtige Rolle <strong>im</strong> Wissen-Macht-Geflecht, so dass hier ein möglicher<br />
Anknüpfungspunkt vorliegt und m<strong>an</strong> etwa mit psycho-<strong>an</strong>alytischen Begriffen untersuchen könnte,<br />
was in Hinblick auf den Macht-Diskurs rund um Geschlecht <strong>im</strong> Subjekt passiert. Allerdings sieht<br />
Lorenzer hier nicht, dass sich geschlechtliche <strong>Subjektivierung</strong> gerade auch vor-sprachlich, viel<br />
subtiler und noch verborgener als durch Sprache, psycho<strong>an</strong>alytisch gesprochen: auf der Ebene des<br />
Unbewussten vollzieht. Schon nach Foucault umfasst der Diskurs auch das Ungesagte, „Gesten und<br />
Haltungen, [...] Raumgestaltungen“ 13 usw.. Wie eing<strong>an</strong>gs skizziert, liefert Lorenzer aber auch für die<br />
Analyse dieser Bereiche durchaus geeignete Konzepte, die er selbst jedoch nicht auf Geschlecht<br />
bezieht. In Bezug auf den Körper dürfte das deutlich geworden sein, ein weiteres Beispiel ist seine<br />
Analyse von Gegenständen (i. e. S.). In diesen tritt Gesellschaft g<strong>an</strong>z direkt und ungebrochen <strong>an</strong> das<br />
Individuum her<strong>an</strong>, sie geben einerseits die Form vor, <strong>an</strong>dererseits entwickelt das Kind gerade <strong>im</strong><br />
Umg<strong>an</strong>g mit ihnen ein aktives Aneignen, und die daraus entstehenden sinnlich-symbolischen<br />
Interaktionsformen „sind die Basisschicht der Subjektivität, die Grundlage von Identität und<br />
Autonomie“ 14 . Es entwickelt sich auch die Möglichkeit von widerständigem H<strong>an</strong>deln. Sehr<br />
vereinfacht und konkret dargestellt, k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> sich das auf Geschlecht <strong>an</strong>gewendet etwa so<br />
verbildlichen: Der kleine Junge H<strong>an</strong>s bekommt <strong>im</strong>mer blaue Kleidungsstücke, während das<br />
Schwesterchen Fatma rosa Röcke und Oberteile trägt. H<strong>an</strong>s und Fatma beschließen aber eines<br />
Tages, ihre Kleidung zu tauschen... Doch kommen wir zurück zu Lorenzers Aussage zum<br />
geschlechtspezifischen Denken. Interess<strong>an</strong>t ist noch, dass er das Thema in Zusammenh<strong>an</strong>g mit dem<br />
Ödipuskomplex, also mit Begehren und Sexualität <strong>an</strong>spricht. Mehr noch, die<br />
Zweigeschlechtlichkeit macht den Ödipuskomplex erst möglich. Damit verweist er auf den<br />
Zusammenh<strong>an</strong>g zwischen Geschlecht und Sexualität, den Foucault nicht thematisiert hat, und der<br />
aus queer/ feministischer Perspektive zentral ist. Kurz davor spricht er sogar von „Normen“ 15 , die<br />
der individuellen Sinnlichkeit auferlegt werden. Jedoch problematisiert er weder Heteronormativität<br />
noch die Normen, wie ein Körper auszusehen hat, damit die Vereindeutigung halbwegs still und<br />
leise stattfinden k<strong>an</strong>n. Auch geschlechtliche Hierarchisierung wird nicht thematisiert.<br />
Schauen wir uns noch kurz Ulrike Prokops Analyse zu Big Brother <strong>an</strong>. Sie fragt <strong>an</strong>h<strong>an</strong>d<br />
empirischen Materials, ob sich geschlechtspezifische Unterschiede in der Inszenierungs-Strategie<br />
zeigen, und wie die Sendung auf das Publikum wirkt. Ihr zufolge setzen tatsächlich einige Frauen in<br />
13 Engel/ Schuster, S. 136<br />
14 Alfred Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter, Fischer Taschenbuch Verlag, Fr<strong>an</strong>kfurt am Main, 1992, S. 163<br />
15 Lorenzer, Gespräch, S. 318<br />
6
der Spielsituation des mitein<strong>an</strong>der gegenein<strong>an</strong>der eine Strategie ein, die keiner von den Männern<br />
einsetzt, und umgekehrt. Prokop weist darauf hin, dass auch Kamera, Schnitt und Regie nicht<br />
geschlechtsneutral eingesetzt wurden: „M<strong>an</strong> denke nur <strong>an</strong> die regelmäßigen Zusammenschnitte:<br />
Frauen <strong>im</strong> Bad, endlos mit ihrem Outfit beschäftigt/ Männer längst <strong>im</strong> Hof bei der Arbeit <strong>an</strong> der<br />
Gruppenaufgabe.“ 16 Prokop konstatiert darüber hinaus, dass sich die Gruppe schnell<br />
(stillschweigend) darauf geeinigt hat, <strong>im</strong> Rahmen des Konventionellen, des Konformen zu<br />
verbleiben. Besonders hinsichtlich der Frage, welche Art der von Frauen ausgehenden Annäherung<br />
<strong>an</strong> Männer als legit<strong>im</strong> gilt, hat sich gezeigt, dass ein Verstoß gegen die Norm große Empörung und<br />
den raschen Ausschluss der Abweichlerin aus der Gruppe nach sich zieht. Versuche der Paarbildung<br />
und das starke Moralisieren deutet Prokop als Strategien, die vor allem ein wichtiges<br />
Erfolgskriterium erfüllen: Sie können vom Publikum leicht verst<strong>an</strong>den werden. Ein hohes Maß <strong>an</strong><br />
Moralisierung war auch ein zentrales Diskussionsthema in Publikumsgruppen. D<strong>an</strong>eben war die<br />
Frage nach dem Authentischen der SpielteilnehmerInnen häufiger Diskussionspunkt. Prokop<br />
interessiert sich aber auch für den non-verbalen Teil der Inszenierung und für die Wirkung auf das<br />
Publikum, über die nicht gesprochen wird. Sie vermutet, dass es eigentlich um gerade diesen Teil<br />
geht, um „die faszinierende Betrachtung von Mustern der Selbstdarstellung, [...] um eine reine<br />
Wirkungsästhetik körperlicher Präsentation“ 17 . Die „Inszenierung von fragmentierten<br />
Körperbildern“ 18 liefert dem Publikum „den Code für den Typus, der <strong>im</strong> Sehen entschlüsselt und<br />
interpretiert wird“ 19 . Hier greift sie nun explizit auf psycho<strong>an</strong>alytische Konzepte zurück und sagt,<br />
dass der Typus ein Ideal des „schönen“ Körpers repräsentiert, der fürs Publikum Gegenst<strong>an</strong>d von<br />
Fetischisierung und Identifikation bzw., wenn Unvollkommenheit offenbar wird, von emotionaler<br />
Ablehnung wird. Für die DarstellerInnen <strong>im</strong> Container ebenso wie fürs Publikum geht es „um das<br />
kollektive Thema des Narzissmus und der Körperscham“ 20 .<br />
Prokop macht <strong>an</strong> <strong>an</strong>derer Stelle explizit, dass sie sich bei ihren tiefenhermeneutischen<br />
Medien<strong>an</strong>alysen der kultur<strong>an</strong>alytischen Methode Lorenzers bedient und etwa die Sp<strong>an</strong>nung<br />
zwischen M<strong>an</strong>ifestem und Latentem und entsprechende (kollektive) Abwehrmech<strong>an</strong>ismen <strong>im</strong> Sinne<br />
des szenischen Verstehens erforscht. 21 Damit gel<strong>an</strong>gt sie <strong>im</strong> Hinblick auf die nichtsprachliche<br />
Darstellungs- und Wirkungsd<strong>im</strong>ension von Big Brother zu interess<strong>an</strong>ten Thesen. Das ist eine eher<br />
16 Prokop, S. 245<br />
17 Ebd., S. 270<br />
18 Ebd.<br />
19 Ebd.<br />
20 Ebd., S. 273<br />
21 Vgl. Ulrike Prokop, Einleitung. Der tiefenhermeneutische Ansatz in der Medienforschung, in: Ulrike Prokop,<br />
Mechtild M. J<strong>an</strong>sen (Hrsg.), Doku-Soap, Reality-TV, Affekt-Talkshow, F<strong>an</strong>tasy-Rollenspiele. Neue<br />
Sozialisationsagenturen <strong>im</strong> Jugendalter, Tectum - Der Wissenschaftsverlag, Marburg, 2006, S. 17-21<br />
7
ungewöhnliche Her<strong>an</strong>gehensweise, aber gerade deshalb ein gutes Beispiel dafür, dass <strong>im</strong> <strong>Anschluss</strong><br />
<strong>an</strong> Lorenzer vielfältige <strong>Ansätze</strong> zur Erforschung von Geschlecht und Normativität möglich sind.<br />
Auffallend ist, dass viele Punkte, die Prokop <strong>an</strong>spricht, zugleich <strong>im</strong> Rahmen queer/ feministischer<br />
<strong>Ansätze</strong> <strong>im</strong> <strong>Anschluss</strong> <strong>an</strong> Foucault auftauchen. Die Inszenierung, die perform<strong>an</strong>ce ist für Butler<br />
zentral, ebenfalls die Frage nach dem (vermeintlich) „Authentischen“ sowie der Zw<strong>an</strong>g fürs<br />
Subjekt, sich verstehbar, entzifferbar (nach Maßgabe der Normen und der Vereindeutigung)<br />
darzustellen. Hervorzuheben ist auch, das Prokop das für die queer studies so wichtige Thema der<br />
Normativität sowohl in Bezug auf Geschlecht als auch auf Paarbildung als auch auf Schönheit von<br />
Körpern thematisiert. 22<br />
Insgesamt bietet Lorenzer meiner Auffassung nach fruchtbare <strong>Anschluss</strong>punkte für die Frage nach<br />
Prozessen geschlechtlicher <strong>Subjektivierung</strong>. Sie mit Ged<strong>an</strong>ken zu vernüpfen, die aus queer/<br />
feministischer Perspektive in Ausein<strong>an</strong>dersetzung mit Foucault formuliert werden, ist eine<br />
sp<strong>an</strong>nende Forschungsidee.<br />
22Kritikwürdig ist meines Erachtens aber, dass m<strong>an</strong>che ihrer Formulierungen die Normativität in Bezug auf Schönheit<br />
von Körpern mitreproduzieren <strong>–</strong> zumindest in einem Text, der gerade diese Normativität problematisiert, wäre es<br />
konsequent, etwa die Beine einer best<strong>im</strong>mten Frau nicht einfach als „hübsche Beine“ (Prokop, S. 249) zu bezeichnen,<br />
sondern z. B. „dem gegenwärtigen Schönheitsideal zufolge hübsche Beine“ zu sagen.<br />
8