Clancy, Tom - Jack Ryan 05 - Das Echo aller

Clancy, Tom - Jack Ryan 05 - Das Echo aller Clancy, Tom - Jack Ryan 05 - Das Echo aller

schulte.josefine23
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23.01.2013 Aufrufe

Der Beamte fuhr im Plauderton fort. "Günther haben wir übrigens aus den Augen verloren. In Bulgarien verpaßten wir ihn nur um dreißig Stunden. Wir haben von den Russen Akten über Sie und Ihre Freunde bekommen und wissen Bescheid - auch über die Monate, die Sie in Ausbildungslagern verbrachten. Günther ist jedenfalls immer noch flüchtig. Wir vermuten, daß er sich im Libanon bei Ihren alten Freunden versteckt. Und dieser Verein kommt als nächster dran. Wissen Sie, daß Amerikaner, Russen und Israelis nun zusammenarbeiten? Das ist ein Punkt des Abkommens. Toll, nicht wahr? Ich nehme an, daß wir Günther dort erwischen... wenn wir Glück haben, leistet er Widerstand. Dann bringen wir Ihnen ein Bild von seiner Leiche... Ach ja, wenn wir schon von Bildern reden... das hätte ich ja fast vergessen! Ich möchte Ihnen etwas zeigen", sagte der Beamte, schob eine Videokassette in ein Abspielgerät und stellte den Fernseher an. Es dauerte eine Weile, bis das Bild ruhig und scharf wurde; die Aufnahmen waren offensichtlich von einem Amateur mit der Handkamera gemacht worden. Petra sah zwei kleine Mädchen in rosa Kleidern in einem typisch deutschen Wohnzimmer auf dem Teppich sitzen. Alles war sauber und ordentlich; selbst die Illustrierten lagen parallel zur Tischkante. "Erika, Ursel, kommt mal her", sagte eine Frauenstimme, und die beiden Kleinkinder zogen sich am Couchtisch hoch und gingen mit unsicheren Schritten auf die Frau zu, die sie in die Arme nahm. "Mutti", sagten beide. Der Beamte schaltete den Fernseher aus. "So, die beiden können laufen und sprechen. Ist das nicht wunderbar? Ihre neue Mutter hat sie sehr lieb. Ich dachte mir, daß Sie das gerne sehen würden. So, das wäre alles für heute." Der BKA-Mann drückte auf einen verborgenen Knopf, und ein Wärter erschien, um die gefesselte Gefangene zurück in ihre Zelle zu führen. Die kahle Zelle war quadratisch und hatte weiß gestrichene Backsteinwände. Ein Fenster gab es nicht, und die Stahltür hatte nur einen Spion und einen Schlitz für die Tabletts mit den Mahlzeiten. Petra wußte nicht, daß knapp unter der Decke eine infrarotdurchlässige Backsteinattrappe angebracht war, die eine Überwachungskamera verbarg. Auf dem Weg zur Zelle wahrte Petra Hassler-Bock die Fassung. Doch kaum war die Tür zugefallen, brach sie zusammen. Petras hohle Augen starrten auf den Fußboden, der ebenfalls weiß war. Weinen konnte sie noch nicht, als sie über den Alptraum nachdachte, zu dem ihr Leben geworden war. Das ist alles nicht wahr, redete sie sich mit einem Optimismus, der schon an Wahnsinn grenzte, ein. Sie konnte doch nicht alles, woran sie geglaubt, wofür sie gearbeitet hatte, verloren haben! Günther, die Kinder, die revolutionäre Sache, ihr Leben. Daß man sie nur verhörte, um sie zu quälen, war ihr klar. Man hatte sie nie ernsthaft nach Informationen ausgehorcht, aber das hatte seinen Grund. Sie hatte keine nützlichen Hinweise zu geben. Man hatte ihr Fotokopien der Stasi- Akten gezeigt. Alles, was der Arbeiter- und Bauernstaat über sie gewußt hatte, 208

und das war überraschend viel, war nun in den Händen der westdeutschen Behörden. Namen, Adressen, Telefonnummern, Fakten über sie, die zwanzig Jahre zurückreichten und die sie teils schon vergessen, und Fakten über Günther, die sie nie gewußt hatte. Das alles lag nun beim BKA. Es war aus. Verloren. Petra würgte und begann zu weinen. Selbst Erika und Ursel, ihre Zwillinge, ihr Vertrauen in die Zukunft, das Symbol ihrer Liebe zu Günther. Sie taten nun ihre ersten Schritte in einer fremden Wohnung und sagten "Mutti" zu einer Fremden - der Frau eines Polizeihauptmanns, wie man ihr gesagt hatte. Petra weinte eine halbe Stunde lang - aber stumm, weil sie wußte, daß es in diesem verfluchten weißen Kabuff, in dem sie keinen richtigen Schlaf fand, ein Mikrofon geben mußte. Alles verloren. Was war das hier für ein Leben? Als sie zum ersten und einzigen Mal mit anderen Häftlingen auf den Hof gelassen worden war, hatte man zwei von ihr wegzerren müssen. Noch heute klangen ihr die Schreie in den Ohren: Mörderin, Hure, Sau... Sollte sie hier vielleicht über vierzig Jahre so dahinvegetieren, immer allein, auf den Wahnsinn warten, auf den körperlichen Verfall. Daß "lebenslang" in ihrem Falle Haft bis zum Tode bedeutete, war ihr klar. Eine Begnadigung kam nicht in Frage, das hatte ihr der Beamte deutlich gesagt. Kein Mitleid also, keine Freunde. Verloren und vergessen... nichts war ihr geblieben außer dem Haß. Sie gelangte ruhig und gefaßt zu ihrem Entschluß. Wie Häftlinge überall auf der Welt kam auch sie an ein scharfes Stück Metall heran, in ihrem Fall die Klinge eines Rasierers, den sie alle vier Wochen zur Enthaarung ihrer Beine erhielt. Sie holte die Schneide aus ihrem Versteck und zog dann das weiße Laken von der zehn Zentimeter dicken, mit Drell bezogenen und am Rand mit einer Schnur eingefaßten Matratze. Nun machte sie sich daran, diese Einfassung mit der Rasierklinge abzutrennen. Nach drei Stunden und mehreren Verletzungen - die Klinge war so schmal, daß sie sich immer wieder in die Finger schnitt - hatte sie ein zwei Meter langes Seil. An einem Ende knotete sie eine Schlinge, und das andere befestigte sie an der Lampe über der Tür. Dazu mußte sie sich auf ihren Stuhl stellen, aber das war später ohnehin erforderlich. Beim dritten Versuch saß der Knoten richtig. Das Seil durfte nicht zu lang sein. Als sie mit ihrer Arbeit zufrieden war, machte sie sich ohne Pause ans Werk. Petra Hassler-Bock zog Kleid und Büstenhalter aus, kniete sich mit dem Rücken zur Tür auf den Stuhl, legte sich die Schlinge um den Hals und zog sie zu. Dann zog sie die Beine hoch und band sie mit dem BH an der Tür fest. Sie wollte ihre Entschlossenheit, ihren Mut demonstrieren. Ohne ein Gebet oder eine Klage stieß sie den Stuhl mit den Händen um. Sie fiel vielleicht fünf Zentimeter, bis das Seil sich straffte, und an diesem Punkt begehrte ihr Körper auf. Ihre hochgezogenen Beine stemmten sich gegen die Fessel, doch dadurch wurde der Strangulierungseffekt nur noch stärker. 209

und das war überraschend viel, war nun in den Händen der westdeutschen<br />

Behörden. Namen, Adressen, Telefonnummern, Fakten über sie, die zwanzig<br />

Jahre zurückreichten und die sie teils schon vergessen, und Fakten über Günther,<br />

die sie nie gewußt hatte. <strong>Das</strong> alles lag nun beim BKA.<br />

Es war aus. Verloren.<br />

Petra würgte und begann zu weinen. Selbst Erika und Ursel, ihre Zwillinge,<br />

ihr Vertrauen in die Zukunft, das Symbol ihrer Liebe zu Günther. Sie taten<br />

nun ihre ersten Schritte in einer fremden Wohnung und sagten "Mutti" zu<br />

einer Fremden - der Frau eines Polizeihauptmanns, wie man ihr gesagt hatte.<br />

Petra weinte eine halbe Stunde lang - aber stumm, weil sie wußte, daß es in<br />

diesem verfluchten weißen Kabuff, in dem sie keinen richtigen Schlaf fand,<br />

ein Mikrofon geben mußte.<br />

Alles verloren.<br />

Was war das hier für ein Leben? Als sie zum ersten und einzigen Mal mit<br />

anderen Häftlingen auf den Hof gelassen worden war, hatte man zwei von ihr<br />

wegzerren müssen. Noch heute klangen ihr die Schreie in den Ohren: Mörderin,<br />

Hure, Sau... Sollte sie hier vielleicht über vierzig Jahre so dahinvegetieren,<br />

immer allein, auf den Wahnsinn warten, auf den körperlichen Verfall.<br />

Daß "lebenslang" in ihrem Falle Haft bis zum Tode bedeutete, war ihr klar.<br />

Eine Begnadigung kam nicht in Frage, das hatte ihr der Beamte deutlich<br />

gesagt. Kein Mitleid also, keine Freunde. Verloren und vergessen... nichts<br />

war ihr geblieben außer dem Haß.<br />

Sie gelangte ruhig und gefaßt zu ihrem Entschluß. Wie Häftlinge überall<br />

auf der Welt kam auch sie an ein scharfes Stück Metall heran, in ihrem Fall<br />

die Klinge eines Rasierers, den sie alle vier Wochen zur Enthaarung ihrer<br />

Beine erhielt. Sie holte die Schneide aus ihrem Versteck und zog dann das<br />

weiße Laken von der zehn Zentimeter dicken, mit Drell bezogenen und am<br />

Rand mit einer Schnur eingefaßten Matratze. Nun machte sie sich daran,<br />

diese Einfassung mit der Rasierklinge abzutrennen. Nach drei Stunden und<br />

mehreren Verletzungen - die Klinge war so schmal, daß sie sich immer wieder<br />

in die Finger schnitt - hatte sie ein zwei Meter langes Seil. An einem Ende<br />

knotete sie eine Schlinge, und das andere befestigte sie an der Lampe über der<br />

Tür. Dazu mußte sie sich auf ihren Stuhl stellen, aber das war später ohnehin<br />

erforderlich. Beim dritten Versuch saß der Knoten richtig. <strong>Das</strong> Seil durfte<br />

nicht zu lang sein.<br />

Als sie mit ihrer Arbeit zufrieden war, machte sie sich ohne Pause ans<br />

Werk. Petra Hassler-Bock zog Kleid und Büstenhalter aus, kniete sich mit<br />

dem Rücken zur Tür auf den Stuhl, legte sich die Schlinge um den Hals und<br />

zog sie zu. Dann zog sie die Beine hoch und band sie mit dem BH an der Tür<br />

fest. Sie wollte ihre Entschlossenheit, ihren Mut demonstrieren. Ohne ein<br />

Gebet oder eine Klage stieß sie den Stuhl mit den Händen um. Sie fiel<br />

vielleicht fünf Zentimeter, bis das Seil sich straffte, und an diesem Punkt<br />

begehrte ihr Körper auf. Ihre hochgezogenen Beine stemmten sich gegen die<br />

Fessel, doch dadurch wurde der Strangulierungseffekt nur noch stärker.<br />

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