Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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76 B. Systematische und strukturelle Einordnung der Vetorechte Preußen auf das Deutsche Reich kam und mit ihm wesentliche Teile der Tradition Preußens inkludiert wurden. Es muss letztlich auch an dieser Stelle die oft unterschätzte Erkenntnis Raum greifen, dass verfassungsrechtliche Vorgänge nur dann richtig beurteilt werden können, wenn sie in ihrem größeren politischen Zusammenhang gesehen werden. Ohne die Einbeziehung der damaligen innenpolitischen Verhältnisse und außenpolitischen Realitäten ist eine verfassungsrechtliche Entwicklung nicht verständlich. 297 Eine in diesem Sinne analytisch präzise und gleichsam für die hier gestellte Vetofrage wegweisende Antwort bietet Hintze 298 , der damit für Preußen und infol- 297 Vgl. Maurer, Entstehung und Grundlagen der Reichsverfassung von 1871, in FS Stern, Verfassungsstaatlichkeit, S. 31. 298 Hintze, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung (1911), in: Hintze, Staat und Verfassung, S.364/365, 377-379 – Hintze stellt gerade durch den Verfassungsvergleich zwischen England und Preußen den Gegensatz heraus, der die Konstitution auf Reichsebene prägen wird: „… Will man so etwas wie monarchisch – konstitutionelle Regierung in England finden, so muß man schon in die Zeiten der Tudors und Stuarts zurückgreifen, die doch mehr den Stempel einer ständischen Verfassung tragen. Dazwischen liegen die beiden großen Revolutionen des 17. Jahrhunderts, die die Krongewalt in England für alle Zukunft gebrochen haben. Der moderne Staat beruht in England auf den herrschenden Gesellschaftsklassen, den agrarischen und den industriellen, nicht auf der Krone. Die Gesellschaft hat hier gleichsam den alten monarchischen Staat in sich verschlungen; sie hat sich selbst politisiert – sozusagen –sie ist zur ‚political society‚ geworden, mit der Krone als dekorativem Emblem. Die historischen Säulen, auf denen der kontinentale monarchische Konstitutionalismus beruht, Absolutismus, Militarismus, Bürokratie, sind in England niemals zu Stand und Wesen gekommen, weil kein politisches Bedürfnis den militärisch relativ gesicherten und politisch früh zentralisierten Inselstaat dazu gezwungen hat. Darum wird man sagen dürfen, daß England den monarchischen Konstitutionalismus, wie wir ihn kennen, überhaupt nicht gekannt hat. Der monarchische Konstitutionalismus ist vielmehr eine Metamorphose des alten aufgeklärten Absolutismus. […] Das parlamentarische System entspricht der Tendenz zur Ausbildung jenes industriellen Staatstypus, den Herbert Spencer als die Blüte der Zivilisation gepriesen hat; das monarchischkonstitutionelle System dagegen beruht auf der Eigenart des kriegerischen Staatstypus, der auf dem Kontinent vorherrscht. Die insulare Sicherheit auf der Seite, der Zwang zu militärischer Bereitschaft auf der anderen Seite kennzeichnen die verschiedenartigen Lebensbedingungen, denen sich die Regierungsform hüben und drüben angepasst hat. In England haben die gesellschaftlich mächtigen Klassen, erst die agrarischen, dann auch die industriellen, die Führung übernommen und den Staat nach ihren Interessen und Bedürfnissen eingerichtet, um dann Schritt für Schritt die notwendigen Konzessionen zu machen, zu denen die stärkere Entwicklung der unteren Schichten zwang. Bei uns hat der alte obrigkeitliche Staat, der mit und aus dem Kriegswesen entsprungen ist, die Führung behalten und ist nun bestrebt, die sozialen Klassengegensätze dem Staatsinteresse unterzuordnen. Bei uns hat der Wohlfahrtszweck oft hinter dem Machtzweck zurücktreten müssen; in England konnte er meist an erster Stelle stehen. Staat und Gesellschaft haben ein anderes Verhältnis bei uns und in England. […] Es muss mit Nachdruck betont werden, daß das stärkste Argument für die Beibehaltung des monarchischen Regierungssystems in derselben Tatsache liegt, die zugleich das historische Fundament seines Bestandes gewesen ist: nämlich in der Tatsache, daß Preußen ein im eminenten Sinne militärischer Staat ist und daß es ebenso wie das von ihm begründete Reich durch sie allgemeine politische Lage gezwungen ist auf absehbare Zeit zu bleiben. […] Das Volk in Waffen ist rein monarchisch organisiert... […] In seinem Verhältnis zum Heer ist der Monarch durch keine konstitutionellen Rücksichten gebunden. Die konstitutionelle Verfassung bezieht sich eigentlich nur auf das Volk in seiner Eigenschaft als bürgerliche Gesellschaft. Da aber die Kriegsverfassung doch das Rückgrat der staatlichen Organisation ausmacht, so kann die Vertretung der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. der Landtag, niemals zum beherrschenden Einflusse im Staate gelangen. Es kommt hinzu, daß es ihm durchaus an der nötigen inneren Einheit und Geschlossenheit fehlt, die unter allen Umständen die Vorbedingung für eine politische Machtrolle sein würde. […] Die Voraussetzung für die Ausbildung des parlamentarischen Regierungssystems in England war eine Einheit und Geschlossenheit der politischen Gesellschaft… […] Vielleicht ist die allmähliche Demokratisierung des Staatslebens ein unabwendbares Geschick der modernen Welt, aber Glück und ein zu erstrebendes Ziel ist sie nicht, und vor allem dann nicht, wenn sie sich in einem zu schnellen Tempo vollzieht. Hier gilt es, wenn die Tendenz im ganzen auch nicht aufzuhalten ist, mehr retardierend als stimulierend zu wirken. Nur ein langsamer Fortschritt auf dieser Bahn kann ersprießlich sein; wie aber bei uns die Dinge liegen, würde bei Einführung des parlamentarischen Regiments die Bremse am Staatswagen bald unbrauchbar sein. […] Die komplizierte Struktur eines Bundesstaates und seiner Regierungsorgane steht überhaupt nicht im Einklang mit jener inneren Einheit und Geschlossenheit, ohne die parlamentarische Regierung noch niemals möglich gewesen ist. […] Das monarchische Prinzip ist also mit der ganzen Struktur des Staatswesens in Preußen wie im Reiche derart verwachsen, daß ohne eine völlige Umwandlung derselben, wie sie wohl nur durch eine Revolution bewirkt werden könnte, nicht mit dem Prinzip der parlamentarischen Regierung ersetzt werden kann. …“.

I. Ursprünge und Entwicklungslinien 77 ge dessen hegemonialer Führerschaft auch für die Reichsebene eine eminent wichtige staatspolitische Motiveinordnung vornimmt. Insbesondere wird als deren Quintessenz deutlich, dass die Welt des Parlamentarismus und die des monarchischen Prinzips aus jeweils diametral unterschiedlichen historischen Determinierungen stammen. Egal, ob wir aus der heutigen Sicht, die einen fortschrittlicheren Demokratieansatz für sich gepachtet zu haben glaubt, jene Einstellung, die das preußischmonarchische Prinzip prägte, goutieren oder nicht, für die hier zu eruierenden deutschen Vetoansätze, wie sie sich nach dem Paulskirchenentwurf andeuteten, bietet jene Sichtweise eine probate Reflektionsfläche und hilft die tragenden Motive zu verstehen. Es lässt sich daher zuvorderst feststellen, dass sich das Gewicht im dualistischen Spannungsfeld zwischen Parlamentarismus und Monarchie in der preußischen Mixtur des Konstitutionalismus zugunsten der Letzteren verschob. Da die Deutsche Reichsverfassung von 1871 als das staatsphilosophische Spiegelbild zu der preußischen Verfassung zu sehen ist, ist es systemlogisch nicht verwunderlich, dass sich das monarchische Prinzip auch auf Reichsebene gegenüber der Tendenz zum Parlamentarismus durchsetzte. Es mag zwar sein, dass, wie die Autoren 299 E. R. Huber oder auch Maurer es andeuten, die Verfassungsentwicklung von 1871 zumindest auch von demokratischen Säulen getragen wurde, da am Verfassungswerk neben der obrigkeitlichen Exekutive auch die Nation als gleichberechtigter Partner (ob es sich um wirkliche Gleichberechtigung handelte, kann an dieser Stelle dahinstehen) teil hatte. Unbestreitbarer Weise entschieden mittels der notwendigen Ratifikationen der völkerrechtlichen Beitrittsverträge, neben den Landesobrigkeiten, auch die Ländervolksvertretungen über die Herstellung der deutschen Einheit, manifestiert in der Bundesverfassung. Diese Beteiligung der Vertreter des Volkes als „pouvoir constituant“ stellte zwar eine demokratische Komponente in dem Akt der Verfassunggebung dar, kann wohl aber nicht gleichsam als Durchsetzung des vom demokratischen Gedanken getragenen Parlamentarismus gegenüber dem monarchischen Prinzip gewertet werden. Eine Sichtweise, die den oftmals nur formalen Akt der Ratifikationsbeteiligung der Länderparlamente zu einem durchschlagenden Demokratieeinbruch stilisiert, würde einem historisch falschen Zirkelschluss unterliegen und verbietet sich daher. Diese Erkenntnis gilt umso mehr, wenn Autoren wie E. R. Huber 300 ganz unverblümt von einer prosperierenden Nationalrepräsentation mit erheblicher Kraft berichten. Zweifelsohne mag es sein, dass der Reichstag als Volksvertretung de facto mit für die damalige Zeit, insbesondere im Verhältnis zu den Länderparlamenten gesehen, außerordentlichen Beteiligungsrechten auch und gerade in Fragen der Gesetzgebung ausgestattet war. Aus der geleisteten, zweifellos beachtli- 299 Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsstaatlicher Entwicklung (§2), in: Isensee/Kirchhof HStR Bd. I, Rn 10 & 19; Maurer, Entstehung und Grundlagen der Reichsverfassung von 1871, in FS Stern, Verfassungsstaatlichkeit, S. 39. 300 Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsstaatlicher Entwicklung (§2), in: Isensee/Kirchhof HStR Bd. I, Rn 43 ff.

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B. Systematische und strukturelle Einordnung der <strong>Vetorechte</strong><br />

Preußen auf das Deutsche Reich kam und mit ihm wesentliche Teile der Tradition<br />

Preußens inkludiert wurden.<br />

Es muss letztlich auch an dieser Stelle die oft unterschätzte Erkenntnis Raum<br />

greifen, dass verfassungsrechtliche Vorgänge nur dann richtig beurteilt werden<br />

können, wenn sie in ihrem größeren politischen Zusammenhang gesehen werden.<br />

Ohne die Einbeziehung der damaligen innenpolitischen Verhältnisse und außenpolitischen<br />

Realitäten ist eine verfassungsrechtliche Entwicklung nicht verständlich.<br />

297 Eine in diesem Sinne analytisch präzise und gleichsam für die hier gestellte<br />

Vetofrage wegweisende Antwort bietet Hintze 298 , der damit für Preußen und infol-<br />

297 Vgl. Maurer, Entstehung und Grundlagen der Reichsverfassung von 1871, in FS Stern, Verfassungsstaatlichkeit,<br />

S. 31.<br />

298 Hintze, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung (1911), in: Hintze, Staat und Verfassung,<br />

S.364/365, 377-379 – Hintze stellt gerade durch den Verfassungsvergleich zwischen England und Preußen<br />

den Gegensatz heraus, der die Konstitution auf Reichsebene prägen wird: „… Will man so etwas wie monarchisch –<br />

konstitutionelle Regierung in England finden, so muß man schon in die Zeiten der Tudors und Stuarts zurückgreifen, die doch mehr<br />

den Stempel einer ständischen Verfassung tragen. Dazwischen liegen die beiden großen Revolutionen des 17. Jahrhunderts, die die<br />

Krongewalt in England für alle Zukunft gebrochen haben. Der moderne Staat beruht in England auf den herrschenden Gesellschaftsklassen,<br />

den agrarischen und den industriellen, nicht auf der Krone. Die Gesellschaft hat hier gleichsam den alten monarchischen<br />

Staat in sich verschlungen; sie hat sich selbst politisiert – sozusagen –sie ist zur ‚political society‚ geworden, mit der Krone als<br />

dekorativem Emblem. Die historischen Säulen, auf denen der kontinentale monarchische Konstitutionalismus beruht, Absolutismus,<br />

Militarismus, Bürokratie, sind in England niemals zu Stand und Wesen gekommen, weil kein politisches Bedürfnis den militärisch<br />

relativ gesicherten und politisch früh zentralisierten Inselstaat dazu gezwungen hat. Darum wird man sagen dürfen, daß England den<br />

monarchischen Konstitutionalismus, wie wir ihn kennen, überhaupt nicht gekannt hat. Der monarchische Konstitutionalismus ist<br />

vielmehr eine Metamorphose des alten aufgeklärten Absolutismus. […] Das parlamentarische System entspricht der Tendenz zur<br />

Ausbildung jenes industriellen Staatstypus, den Herbert Spencer als die Blüte der Zivilisation gepriesen hat; das monarchischkonstitutionelle<br />

System dagegen beruht auf der Eigenart des kriegerischen Staatstypus, der auf dem Kontinent vorherrscht. Die<br />

insulare Sicherheit auf der Seite, der Zwang zu militärischer Bereitschaft auf der anderen Seite kennzeichnen die verschiedenartigen<br />

Lebensbedingungen, denen sich die Regierungsform hüben und drüben angepasst hat. In England haben die gesellschaftlich mächtigen<br />

Klassen, erst die agrarischen, dann auch die industriellen, die Führung übernommen und den Staat nach ihren Interessen und<br />

Bedürfnissen eingerichtet, um dann Schritt für Schritt die notwendigen Konzessionen zu machen, zu denen die stärkere Entwicklung<br />

der unteren Schichten zwang. Bei uns hat der alte obrigkeitliche Staat, der mit und aus dem Kriegswesen entsprungen ist, die Führung<br />

behalten und ist nun bestrebt, die sozialen Klassengegensätze dem Staatsinteresse unterzuordnen. Bei uns hat der Wohlfahrtszweck<br />

oft hinter dem Machtzweck zurücktreten müssen; in England konnte er meist an erster Stelle stehen. Staat und Gesellschaft<br />

haben ein anderes Verhältnis bei uns und in England. […]<br />

Es muss mit Nachdruck betont werden, daß das stärkste Argument für die Beibehaltung des monarchischen Regierungssystems in<br />

derselben Tatsache liegt, die zugleich das historische Fundament seines Bestandes gewesen ist: nämlich in der Tatsache, daß Preußen<br />

ein <strong>im</strong> eminenten Sinne militärischer Staat ist und daß es ebenso wie das von ihm begründete Reich durch sie allgemeine politische<br />

Lage gezwungen ist auf absehbare Zeit zu bleiben. […] Das Volk in Waffen ist rein monarchisch organisiert... […] In seinem<br />

Verhältnis zum Heer ist der Monarch durch keine konstitutionellen Rücksichten gebunden. Die konstitutionelle Verfassung bezieht<br />

sich eigentlich nur auf das Volk in seiner Eigenschaft als bürgerliche Gesellschaft. Da aber die Kriegsverfassung doch das Rückgrat<br />

der staatlichen Organisation ausmacht, so kann die Vertretung der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. der Landtag, niemals zum<br />

beherrschenden Einflusse <strong>im</strong> Staate gelangen. Es kommt hinzu, daß es ihm durchaus an der nötigen inneren Einheit und Geschlossenheit<br />

fehlt, die unter allen Umständen die Vorbedingung für eine politische Machtrolle sein würde. […] Die Voraussetzung für die<br />

Ausbildung des parlamentarischen Regierungssystems in England war eine Einheit und Geschlossenheit der politischen Gesellschaft…<br />

[…]<br />

Vielleicht ist die allmähliche Demokratisierung des Staatslebens ein unabwendbares Geschick der modernen Welt, aber Glück und<br />

ein zu erstrebendes Ziel ist sie nicht, und vor allem dann nicht, wenn sie sich in einem zu schnellen Tempo vollzieht. Hier gilt es,<br />

wenn die Tendenz <strong>im</strong> ganzen auch nicht aufzuhalten ist, mehr retardierend als st<strong>im</strong>ulierend zu wirken. Nur ein langsamer Fortschritt<br />

auf dieser Bahn kann ersprießlich sein; wie aber bei uns die Dinge liegen, würde bei Einführung des parlamentarischen<br />

Reg<strong>im</strong>ents die Bremse am Staatswagen bald unbrauchbar sein. […] Die komplizierte Struktur eines Bundesstaates und seiner<br />

Regierungsorgane steht überhaupt nicht <strong>im</strong> Einklang mit jener inneren Einheit und Geschlossenheit, ohne die parlamentarische<br />

Regierung noch niemals möglich gewesen ist. […] Das monarchische Prinzip ist also mit der ganzen Struktur des Staatswesens in<br />

Preußen wie <strong>im</strong> Reiche derart verwachsen, daß ohne eine völlige Umwandlung derselben, wie sie wohl nur durch eine Revolution<br />

bewirkt werden könnte, nicht mit dem Prinzip der parlamentarischen Regierung ersetzt werden kann. …“.

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