Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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72 B. Systematische und strukturelle Einordnung der Vetorechte Preußen im Rahmen der Reichsgesetzgebung eine Art ‚Goldene Stimme‛ für bestimmte legislative Bereiche verlieh. Es wurde in diesem Zusammenhang der Umkehrschluss als Frage formuliert, dass wenn der König von Preußen als Kaiser ein freies Gesetzesverkündungsrecht hätte, wozu er dann als Bundesratsmitglied ein Veto gegen die im Art. 5 Abs. 2 beschriebenen Gesetzesmaterien haben sollte. Das Vorhandensein des letzteren Rechts sollte das Fehlen des ersteren beweisen. Diese sog. „unius positio alterius exclusio“ – Argumentation war in der damaligen Staatsrechtsliteratur bezüglich des Wortlautes der Verfassung die herrschende. Maßgeblich gestützt auf Art. 5 Abs. 2 RV 1871 wurde dahingehend argumentiert, dass es sich bei der ausschlaggebenden Stimme um die des Präsidiums, also letztlich faktisch um die des Kaisers handelte. In diese ausnahmsweise anzuwendenden Präsidiumsstimme wurde dann, unter Ablehnung eines allgemeinen Vetos, eine Art Spezialveto in Ausübung der preußischen Präsidiumsrechte gelesen. Untermauert wurde jene Argumentation durch die noch weitergehenden Möglichkeiten des Deutschen Kaisers, auf den Gesetzgebungsprozess mittels seiner föderalen Rechte als König von Preußen im Bundesrat Einfluss zu nehmen, die ihm über Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 3 RV 1871 287 zuteilwurden. Der Kaiser konnte die sog. preußischen Reservatrechte nutzen und über seinen Ministerpräsidenten und Außenminister die 17 preußischen Stimmen im Bundesrat führen. Mit der „Präsidialstimme“ Preußens, gemeint sind die 17 preußischen Mitgliedschaftsstimmen, die einheitlich vom stimmführenden preußischen Bundesratsbevollmächtigten abzugeben waren, verfügte der Kaiser schon in allgemeinen Gesetzgebungsfragen über ein unübersehbares Partizipationsrecht an Legislative des Reiches. Dieses konnte sich, bei ihm missliebigen Verfassungsänderungen, über Art. 78 Abs. 1 RV 1871 288 sogar zu einem manifesten Veto entwickeln, da die 17 Stimmen Preußens eine unüberwindliche Hürde für Verfassungsänderungen ohne preußische Zustimmung darstellten. Der deutsche Kaiser hatte also, trotz eines fehlenden formellen Vetorechtes in der Gesetzgebung, eine Fülle von De-facto-Vetomöglichkeiten. 289 Als Haupteinfallstor für diese von der Reichsverfassung nicht als manifeste Vetorechte des Reichsorgans Kaiser vorgesehenen exekutiven Einflussvariationen auf die Reichsgesetzgebung muss die Personalunion zwischen Kaiser und König von Preußen angesehen werden. Es konnte niemals eine physische Verschiedenheit zwischen denheit stattfindet, die Stimme des Präsidiums den Ausschlag, wenn sie sich für die Aufrechterhaltung der bestehenden Einrichtungen ausspricht“. 287 Art. 6 Abs. 1 Verfassung des Deutschen Reiches von 1871: „Der Bundesrath besteht aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes, unter welchen die Stimmführung sich in der Weise vertheilt, daß Preußen mit den ehemaligen Stimmen von […]17 Stimmen führt. …“. Art. 7 Abs. 3 Verfassung des Deutschen Reiches von 1871: „Die Beschlußfassung erfolgt, vorbehaltlich der Bestimmungen in den Artikeln 5, 37 und 78, mit einfacher Mehrheit. Nicht vertretene oder nicht instruirte Stimmen werden nicht gezählt. Bei Stimmengleichheit giebt die Präsidialstimme den Ausschlag. …“. 288 Art. 78 Abs. 1 Verfassung des Deutschen Reiches von 1871: „Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrathe 14 Stimmen gegen sich haben.“ 289 Vgl. Thoma, Das Staatsrecht des Reiches (§7), in: Anschütz/Thoma (Hrsg.): Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. I, S. 75.

I. Ursprünge und Entwicklungslinien 73 dem König von Preußen und dem Kaiser und damit auch nicht zwischen dem Kaiser und dem Präsidium geben. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Reichsverfassung war ihrem Grundansatz nach vetofeindlich konzipiert. Dies erkannte man schon an dem Umstand, dass, würde dem Kaiser ein freies Verkündungsrecht zugestanden worden sein, die staatspolitische Unsinnigkeit denkbar gewesen wäre, dass der Kaiser laut Art. 17 RV 1871 sein dann unbedingtes Veto aussprechen konnte, obwohl er als König von Preußen dem gleichen Gesetz, bei welchem er über ein Spezialveto verfügte, zugestimmt hatte. Daraus folgt, mittels Art. 5 Abs. 2 RV 1871 wurde nicht für den Kaiser als Staatsoberhaupt, sondern dem König von Preußen ein spezielles Veto kreiert, das zudem flankiert war durch die preußischen Reservatstimmen im Bundesrat. Jedoch allein der Umstand, dass über Art. 11 RV 1871 das Bundespräsidium dem König von Preußen übertragen wurde, der den Namen „Deutscher Kaiser“ führen sollte, macht die föderalen Vetorechte Preußens noch nicht zu denen des Kaisers, auch wenn dies faktisch und staatspolitisch nicht auseinander zu rechnen war. Dem Kaiser stand über Art. 17 RV 1871 nur ein verfassungsrechtlich begründbarer Ausfertigungsvorbehalt zu. Die Notwendigkeit eines solches Rechtes wird verständlich, wenn man zugrunde legt, dass, anders als im heutigen Grundgesetz, eine Instanz der Verfassungsgerichtsbarkeit, an welche sich in Form von Organklagen oder abstrakter Normenkontrolle in formellen Verfassungsstreitigkeiten hätte gewandt werden können, der Bismarckschen Reichsverfassung fremd war. Es stellt sich so dar, dass der damaligen Staatsrechtswissenschaft die Verortung einer Endkontrolle der Verfassungsmäßigkeit beim Kaiser als äußerst gewinnbringend erschien, weil dieser als einziger mit einer gewissen historischen Autorität, erwachsen aus der noch nicht allzu weit entfernten Annahme eines göttlichen Regiments, ausgestattet erschien. Hingegen aus der Exegese des Verfassungswortlauts musste ein solches quasi Veto nicht zwingend gelesen werden. Die Bezeichnung als verfassungsrechtlich bedingtes Veto erscheint zwar als zulässig, aber nicht zwingend notwendig. Dass der Kaiser von jenem Recht zum verfassungsrechtlichen Einspruch gegen ein Gesetz nie Gebrauch machte, könnte als Menetekel für die in monarchischen Augen unrühmliche Aufgabenzuweisung angesehen werden. ccc. Der Vetoverlust in der Reichsverfassung im Spiegel des monarchischen Prinzips – Eine Motivsuche Es lässt sich somit feststellen, dass die gesamte in der Frankfurter Paulskirchenversammlung um die Reichweite der Einspruchsrechte des Staatsoberhauptes in Gesetzesfragen geführte Vetodebatte, die letztlich nach zähem Ringen in den suspendierenden Einspruch nach § 101 Paulskirchenverfassung mündete, keinen Niederschlag in der Bismarckschen Reichsverfassung fand. Das Staatsoberhaupt in der Frankfurter Konzeption sollte ein exekutiver Landesvorsteher sein, der in

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B. Systematische und strukturelle Einordnung der <strong>Vetorechte</strong><br />

Preußen <strong>im</strong> Rahmen der Reichsgesetzgebung eine Art ‚Goldene St<strong>im</strong>me‛ für best<strong>im</strong>mte<br />

legislative Bereiche verlieh. Es wurde in diesem Zusammenhang der Umkehrschluss<br />

als Frage formuliert, dass wenn der König von Preußen als Kaiser ein<br />

freies Gesetzesverkündungsrecht hätte, wozu er dann als Bundesratsmitglied ein<br />

Veto gegen die <strong>im</strong> Art. 5 Abs. 2 beschriebenen Gesetzesmaterien haben sollte.<br />

Das Vorhandensein des letzteren Rechts sollte das Fehlen des ersteren beweisen.<br />

Diese sog. „unius positio alterius exclusio“ – Argumentation war in der damaligen<br />

Staatsrechtsliteratur bezüglich des Wortlautes der Verfassung die herrschende.<br />

Maßgeblich gestützt auf Art. 5 Abs. 2 RV 1871 wurde dahingehend argumentiert,<br />

dass es sich bei der ausschlaggebenden St<strong>im</strong>me um die des Präsidiums, also letztlich<br />

faktisch um die des Kaisers handelte. In diese ausnahmsweise anzuwendenden<br />

Präsidiumsst<strong>im</strong>me wurde dann, unter Ablehnung eines allgemeinen Vetos, eine<br />

Art Spezialveto in Ausübung der preußischen Präsidiumsrechte gelesen.<br />

Untermauert wurde jene Argumentation durch die noch weitergehenden Möglichkeiten<br />

des Deutschen Kaisers, auf den Gesetzgebungsprozess mittels seiner<br />

föderalen Rechte als König von Preußen <strong>im</strong> Bundesrat Einfluss zu nehmen, die<br />

ihm über Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 3 RV 1871 287 zuteilwurden. Der Kaiser<br />

konnte die sog. preußischen Reservatrechte nutzen und über seinen Ministerpräsidenten<br />

und Außenminister die 17 preußischen St<strong>im</strong>men <strong>im</strong> Bundesrat führen. Mit<br />

der „Präsidialst<strong>im</strong>me“ Preußens, gemeint sind die 17 preußischen Mitgliedschaftsst<strong>im</strong>men,<br />

die einheitlich vom st<strong>im</strong>mführenden preußischen Bundesratsbevollmächtigten<br />

abzugeben waren, verfügte der Kaiser schon in allgemeinen Gesetzgebungsfragen<br />

über ein unübersehbares Partizipationsrecht an Legislative des Reiches.<br />

Dieses konnte sich, bei ihm missliebigen Verfassungsänderungen, über Art.<br />

78 Abs. 1 RV 1871 288 sogar zu einem manifesten Veto entwickeln, da die 17<br />

St<strong>im</strong>men Preußens eine unüberwindliche Hürde für Verfassungsänderungen ohne<br />

preußische Zust<strong>im</strong>mung darstellten.<br />

Der deutsche Kaiser hatte also, trotz eines fehlenden formellen <strong>Vetorechte</strong>s in<br />

der Gesetzgebung, eine Fülle von De-facto-Vetomöglichkeiten. 289 Als Haupteinfallstor<br />

für diese von der Reichsverfassung nicht als manifeste <strong>Vetorechte</strong> des<br />

Reichsorgans Kaiser vorgesehenen exekutiven Einflussvariationen auf die Reichsgesetzgebung<br />

muss die Personalunion zwischen Kaiser und König von Preußen<br />

angesehen werden. Es konnte niemals eine physische Verschiedenheit zwischen<br />

denheit stattfindet, die St<strong>im</strong>me des Präsidiums den Ausschlag, wenn sie sich für die Aufrechterhaltung der bestehenden<br />

Einrichtungen ausspricht“.<br />

287 Art. 6 Abs. 1 Verfassung des Deutschen Reiches von 1871: „Der Bundesrath besteht aus den Vertretern der<br />

Mitglieder des Bundes, unter welchen die St<strong>im</strong>mführung sich in der Weise vertheilt, daß Preußen mit den ehemaligen<br />

St<strong>im</strong>men von […]17 St<strong>im</strong>men führt. …“.<br />

Art. 7 Abs. 3 Verfassung des Deutschen Reiches von 1871: „Die Beschlußfassung erfolgt, vorbehaltlich der<br />

Best<strong>im</strong>mungen in den Artikeln 5, 37 und 78, mit einfacher Mehrheit. Nicht vertretene oder nicht instruirte<br />

St<strong>im</strong>men werden nicht gezählt. Bei St<strong>im</strong>mengleichheit giebt die Präsidialst<strong>im</strong>me den Ausschlag. …“.<br />

288 Art. 78 Abs. 1 Verfassung des Deutschen Reiches von 1871: „Veränderungen der Verfassung erfolgen <strong>im</strong><br />

Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie <strong>im</strong> Bundesrathe 14 St<strong>im</strong>men gegen sich haben.“<br />

289 Vgl. Thoma, Das Staatsrecht des Reiches (§7), in: Anschütz/Thoma (Hrsg.): Handbuch des <strong>deutschen</strong> Staatsrechts,<br />

Bd. I, S. 75.

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