Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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64 aaa. Die staatsrechtliche Stellung des Kaisers B. Systematische und strukturelle Einordnung der Vetorechte „…Die Annahme des Kaisertitels war ein politisches Bedürfnis, weil er in den Erinnerungen aus Zeiten, da er rechtlich mehr, faktisch weniger zu bedeuten hatte, ein werbendes Element für Einheit und Zentralisation bildete; der Glanz der alten Kaiserkrone, der Erinnerungswert dieses ehrwürdigen, tausendjährigen Symbols deutscher Einheit sollte unverloren bleiben, sollte für das neue Reich nutzbar gemacht werden. …“ 247 Jene Darstellungen der Motivlage des Reichskanzlers Otto von Bismarck, der als preußischer Minister wesentlich an der Kreation der Reichsverfassung mitwirkte und dieser seinen inhaltlichen Stempel aufzusetzen verstand, sollen der Ausgangspunkt für die Betrachtung der Stellung des Kaisers in der ersten Reichsverfassung sein. Zunächst gilt es für die Position des ersten Reichsstaatsoberhauptes festzustellen, dass seine Kreationsschmiede, die Frankfurter Paulskirchenversammlung, hin und her gerissen war zwischen der revolutionären Gedankenwelt weiter Teile der Abgeordneten, die einem demokratischen Unitarismus huldigten, und der derjenigen, die für eine gemäßigt konstitutionelle Richtung standen. Es wurde schon aufgezeigt, dass sich im Frankfurter Paulskirchenentwurf nicht die radikalen Kräfte durchsetzen konnten. Dem Reichstag wurde gerade nicht als Ausdruck des souveränen Volkes die zentrale Stellung zugewiesen. Auch gelang es den revolutionären Geistern nicht, sowohl die partikularen Monarchien als auch das monarchische Prinzip schlechthin über Bord zu werfen. Vielmehr entschied sich die Nationalversammlung zugunsten eines Erbkaisertums, das an das Amt des regierenden preußischen Königs gebunden war und unter dem Titel „Kaiser der Deutschen“ firmieren sollte. Anschütz meinte in seinen diesbezüglichen Betrachtungen 248 zum Paulskirchenentwurf dennoch den Eintritt einer „Parlamentsherrschaft“ zu erkennen, da es sich „politisch gewertet, (um) eine mehr scheinbare als wirkliche Monarchie“ gehandelt hätte. Zu jener Sichtweise wird Anschütz wohl vor allem unter dem vergleichenden Eindruck der Reichsverfassung von 1871 und der ihm eigenen monarchistischen Gesinnung gekommen sein. Ohne Geschichtsklitterung zu betreiben, lässt sich jedenfalls aus heutiger Sicht feststellen, dass die Position des „Kaisers der Deutschen“ in der Paulskirchenverfassung wohl nicht nur eine „repräsentative und aus dekorativen Gründen geduldete parlamentarische Scheinmonarchie“ 249 gewesen wäre. Auch und gerade die Vetofundstelle des § 101 aus dem Frankfurter Entwurf kann hierfür als Indiz herangezogen werden. Dass Anschütz jenes Vetoargument nicht gelten lassen kann, wird erklärlich, wenn man seine Sichtweise zur Stellung des Kaisers in der Reichsverfassung von 247 So die Auffassung des Reichskanzlers Otto von Bismarck, als einem der Hauptprotagonisten deutscher Reichseinheit in: Gedanken und Erinnerungen, II. Band, S. 115. 248 Vgl. Anschütz, in: Holtzendorff-Kohlers Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, IV. Band, S. 49. 249 A.a.O., S. 94.

I. Ursprünge und Entwicklungslinien 65 1871 untersucht. Hier stellt er fest, dass diesem „nicht einmal das blecherne Schwert parlamentarischer Schein- und Schattenkönige, das suspensive Veto an die Hand gegeben sei“ 250 . Ein Faktum lässt sich jedoch auch durch diese polemischen Darstellungen von Anschütz nicht wegdiskutieren: Der Kaiser in der Paulskirchenkonstruktion sollte zwar, anders als für das exekutive Oberhaupt im konstitutionellen Recht der Fürstentümer auf Länderebene üblich war, nicht mehr an der Gesetzgebung teilnehmen, dafür aber über ein exekutives Vetorecht verfügen. Aus systematischen Gründen soll an dieser Stelle die Vetofrage zunächst zurückstellt werden und vorderhand die Bismarcksche Kreation der Kaiserposition in der Reichsverfassung von 1871 näher untersucht werden, um eine Vergleichsgröße im Bezug auf die Stellung im Verfassungssystem an sich und im Vergleich zum Paulskirchenentwurf zu erlangen. Dieses Vorgehen bietet sich um so mehr an, wenn man zugrunde legt, dass es sich beim Kaiseramt staatsrechtlich wie politisch um eine Neuschöpfung handelte 251 . Insbesondere muss der Stilbruch betrachtet werden, den die Bismarcksche Reichsverfassung gegenüber der Paulskirchenverfassung inkludierte. Im Gegensatz zur letzteren wurde nicht die parlamentarische oder demokratische Komponente gestärkt, sondern die dynastisch-monarchische. 252 Dem von Anschütz vorgetragenen Vorwurf einer nur den Parlamentarismus verschleiernden Scheinmonarchie kann für die Bismarcksche Reichsverfassung/Reichsverfassung von 1871 (RV 1871) also grundsätzlich entgegengetreten werden. Fernerhin kann sogar von einer reaktionären Wiederkehr des monarchischen Prinzips gesprochen werden, wie es Bismarck ganz bewusst aus den kleinstaatlichen Fürstentümern einfließen ließ. 253 Dies konnte jedoch nicht ohne Folgen auf die Sichtweise der Stellung des Monarchen als Staatsoberhaupt bleiben. Unmittelbare Folge dieser staatsrechtlichen Konzeption war zunächst, dass die Ländermonarchen über den Bundesrat das Deutsche Reich regierten und das Kaisertum mit seinen Präsidialbefugnissen letztlich nur als ein akzessorisches Vorrecht der Krone Preußens konzipiert war. 254 Dieser uno actu-Verlauf von Erwerb und Verlust des Kaiseramtes hatte jedoch in der Verfassungsentwicklung nicht zu übersehende Folgen, welche sich unter den Stichworten „Hegemonie Preußens“ 255 und „unitarisches Kaisertum“ zusammenfassen lassen. Auch wenn die Reichsver- 250 A.a.O., S. 105 – Anschütz hielt das Kaisertum für eine repräsentative und exekutive Organschaft eigener Art, die zwar mit vielen Momenten und Merkmalen, insbesondere mit Ehrenrechten des Monarchen, ausgestattet war, die aber doch nicht zur Ausprägung einer Monarchie führten. 251 Vgl. A.a.O., S. 101. 252 Maurer, Entstehung und Grundlagen der Reichsverfassung von 1871, in FS Stern, Verfassungsstaatlichkeit, S. 29. 253 Diese Sichtweise wird gestützt durch Hübner, in: Parlament und Regierung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 51, der diesbezüglich schreibt: „…Bismarck hatte den Föderalismus als Gegenkraft zu den in verschiedenen Ländern aufkommenden Parlamentarisierungsbestrebungen genutzt. …“. 254 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 293/294. 255 Vgl. Triepel, Die Hegemonie, 1938.

I. Ursprünge und Entwicklungslinien 65<br />

1871 untersucht. Hier stellt er fest, dass diesem „nicht einmal das blecherne Schwert<br />

parlamentarischer Schein- und Schattenkönige, das suspensive Veto an die Hand gegeben<br />

sei“ 250 . Ein Faktum lässt sich jedoch auch durch diese polemischen Darstellungen<br />

von Anschütz nicht wegdiskutieren: Der Kaiser in der Paulskirchenkonstruktion<br />

sollte zwar, anders als für das exekutive Oberhaupt <strong>im</strong> konstitutionellen Recht der<br />

Fürstentümer auf Länderebene üblich war, nicht mehr an der Gesetzgebung teilnehmen,<br />

dafür aber über ein exekutives Vetorecht verfügen.<br />

Aus systematischen Gründen soll an dieser Stelle die Vetofrage zunächst zurückstellt<br />

werden und vorderhand die Bismarcksche Kreation der Kaiserposition<br />

in der Reichsverfassung von 1871 näher untersucht werden, um eine Vergleichsgröße<br />

<strong>im</strong> Bezug auf die Stellung <strong>im</strong> <strong>Verfassungssystem</strong> an sich und <strong>im</strong> Vergleich<br />

zum Paulskirchenentwurf zu erlangen. Dieses Vorgehen bietet sich um so mehr<br />

an, wenn man zugrunde legt, dass es sich be<strong>im</strong> Kaiseramt staatsrechtlich wie politisch<br />

um eine Neuschöpfung handelte 251 .<br />

Insbesondere muss der Stilbruch betrachtet werden, den die Bismarcksche<br />

Reichsverfassung gegenüber der Paulskirchenverfassung inkludierte. Im Gegensatz<br />

zur letzteren wurde nicht die parlamentarische oder demokratische Komponente<br />

gestärkt, sondern die dynastisch-monarchische. 252 Dem von Anschütz vorgetragenen<br />

Vorwurf einer nur den Parlamentarismus verschleiernden Scheinmonarchie<br />

kann für die Bismarcksche Reichsverfassung/Reichsverfassung von 1871 (RV<br />

1871) also grundsätzlich entgegengetreten werden. Fernerhin kann sogar von einer<br />

reaktionären Wiederkehr des monarchischen Prinzips gesprochen werden, wie es<br />

Bismarck ganz bewusst aus den kleinstaatlichen Fürstentümern einfließen ließ. 253<br />

Dies konnte jedoch nicht ohne Folgen auf die Sichtweise der Stellung des Monarchen<br />

als Staatsoberhaupt bleiben.<br />

Unmittelbare Folge dieser staatsrechtlichen Konzeption war zunächst, dass die<br />

Ländermonarchen über den Bundesrat das Deutsche Reich regierten und das<br />

Kaisertum mit seinen Präsidialbefugnissen letztlich nur als ein akzessorisches Vorrecht<br />

der Krone Preußens konzipiert war. 254 Dieser uno actu-Verlauf von Erwerb<br />

und Verlust des Kaiseramtes hatte jedoch in der Verfassungsentwicklung nicht zu<br />

übersehende Folgen, welche sich unter den Stichworten „Hegemonie Preußens“ 255<br />

und „unitarisches Kaisertum“ zusammenfassen lassen. Auch wenn die Reichsver-<br />

250 A.a.O., S. 105 – Anschütz hielt das Kaisertum für eine repräsentative und exekutive Organschaft eigener Art,<br />

die zwar mit vielen Momenten und Merkmalen, insbesondere mit Ehrenrechten des Monarchen, ausgestattet war,<br />

die aber doch nicht zur Ausprägung einer Monarchie führten.<br />

251 Vgl. A.a.O., S. 101.<br />

252 Maurer, Entstehung und Grundlagen der Reichsverfassung von 1871, in FS Stern, Verfassungsstaatlichkeit, S.<br />

29.<br />

253 Diese Sichtweise wird gestützt durch Hübner, in: Parlament und Regierung in der Bundesrepublik Deutschland,<br />

S. 51, der diesbezüglich schreibt: „…Bismarck hatte den Föderalismus als Gegenkraft zu den in verschiedenen Ländern<br />

aufkommenden Parlamentarisierungsbestrebungen genutzt. …“.<br />

254 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 293/294.<br />

255 Vgl. Triepel, Die Hegemonie, 1938.

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