Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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56 B. Systematische und strukturelle Einordnung der Vetorechte Was anhand dieser Grundparameter der Paulskirchenverfassung konstatiert werden muss, ist, dass anders als in den Kleinstaatenverfassungen nicht mehr der Monarch mit Zustimmung der Parlamente die allgemeinen Gesetze erlassen können sollte, sondern vielmehr der Gesetzesbeschluss allein den beiden Häusern des Parlaments zugewiesen wurde. Auf diesen Normsetzungsbeschluss konnte der Kaiser als exekutives Staatsoberhaupt nur noch in den durch die Reichsverfassungen vorgegeben Bahnen Einfluss nehmen, also in Form der Initiative und einer dreimaligen Zurückweisung. Der Monarch auf Reichsebene sollte somit im Entwurf der Paulskirchenverfassung nicht nur keine zentrale Stellung im Gesetzgebungsprozess zugesprochen bekommen, sondern gleichsam ohne Gesetzgebungsgewalt an sich auskommen müssen. Für die Reichsebene war also vorgesehen, nicht mehr den Kaiser als Dreh- und Angelpunkt der Gesetzgebung auszugestalten, sondern, anders als in den Fürstenländern, die beiden Häuser des Parlaments in diese Position zu bringen. Über diese fundamentalen Kompetenzverschiebungen konnte auch nicht die Formulierung in § 80 der Paulskirchenverfassung hinwegtäuschen, nach der eine gemeinsame Wahrnehmung der Gesetzgebung zwischen Kaiser und Reichstag vorgesehen war. Dem Reichsstaatsoberhaupt wurde zwar die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt in Gemeinschaft mit den beiden Parlamentshäusern zugestanden. Der fundamentale Unterschied zu den sonstigen monarchischen Möglichkeiten auf föderaler Ebene wird besonders im Vergleich zum § 62 225 , der zur gleichen Zeit entstehenden preußischen Verfassungsurkunde, deutlich. In dieser wird ausdrücklich festgelegt, dass zum Beschluss eines Gesetzes die Übereinstimmung des Monarchen mit den Landständen erforderlich sein sollte. Es bedarf keiner tiefenscharfen Analyse der beiden Formulierungen, um feststellen zu können, dass mit der gemeinschaftlichen Ausübung der Gesetzgebungsgewalt dem Staatsoberhaupt auf Reichsebene nicht dieselbe Position eingeräumt wurde, wie den Landesmonarchen. Zwischen der Erforderlichkeit der Zustimmung und einer überwindbaren Zustimmungshürde besteht ein gravierender qualitativer Unterschied. Jene damit verbriefte Mitwirkung für den „Kaiser der Deutschen“ in Gesetzgebungsfragen wäre letztlich beschränkt gewesen auf die Gesetzesinitiative und die Möglichkeiten nach § 101 den Reichstagsbeschluss vorübergehende zu suspendieren. Jenes letztgenannte Recht ist für die hier anzustellenden Betrachtungen jedoch von höchstem Interesse. Der Kaiser hätte mit diesem Verfassungswerk die Möglichkeit bekommen, zumindest aufschiebend einem Gesetz entgegentreten zu können. Diese Konstellation wurde möglich, da er die Prärogative im Gesetzgebungsprozess verlor. Die historischen Motive, aufgrund derer das Staatsoberhaupt auf Reichsebene das substantielle Gesetzgebungsrecht erst gar nicht zugewiesen bekam, immerhin ein Recht, das sich die Monarchen der konstitutionellen Fürs- 225 Art. 62 Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat (v. 31. Januar 1850): „Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetz erforderlich…“.

I. Ursprünge und Entwicklungslinien 57 tentümer niemals freiwillig hätten nehmen lassen, sind wohl in den föderalen Ängsten vor Machtverlusten an eine zu unitaristische Reichsspitze zu suchen. Desgleichen erkannte die Nationalversammlung aber wohl auch die machtstrukturelle Problematik, ein monarchisches Staatsoberhaupt vollständig von der Gesetzgebung zu entfernen ohne dafür Ausgleich zu schaffen. Daher kreierte sie für die Position des kaiserlichen Staatsoberhauptes ein staatsorganisationsrechtliches Novum. Mit § 101 des Paulskirchenverfassungsentwurfes wurde dem Monarchen erstmals ein exekutives Recht des Dazwischentretens, das zumindest hemmend wirken konnte, zugestanden, obwohl er nicht mehr Träger der Gesetzgebungsgewalt war. Die Tragweite dieses Vetos wird besonders deutlich im Zusammenhang mit anderen, dem Kaiser zugewiesen Rechten. Ernst Rudolf Huber 226 fasst die möglichen praktischen Dimensionen äußerst anschaulich zusammen, indem er schreibt: „…Ein Reichstagsbeschluss, dem der Kaiser widersprochen hatte, durfte zwar in derselben Sitzungsperiode nicht wiederholt werden. Fasste der Reichstag jedoch in drei aufeinanderfolgenden Sitzungsperioden denselben Beschluss, so erlangte dieser, auch wenn der Kaiser an seinem Widerspruch festhielt, mit dem Ende der dritten Sitzungsperiode Gesetzeskraft. Die Überwindung des kaiserlichen Vetos war dem Parlament damit allerdings schwer gemacht. Es konnte zwei bis drei Jahre oder länger dauern, bis der Reichstag sich durch dreimaligen Beschluss über den Regierungseinspruch hinwegsetzen vermochte. Überdies hatte der Kaiser die Möglichkeit den dritten Beschluss durch die Schließung oder Auflösung des Volkshauses nach § 79 der Reichsverfassung abzuwenden. …“ Es wird deutlich, dass dieses avisierte Einspruchsrecht des Kaisers, wie es die Paulskirchenverfassung vorsah, zwar nicht allumfassend und unbedingt war, aber es wäre zumindest bei konspirativer Anwendung ein durchschlagkräftiges exekutives Veto gewesen. bb. Der streitbehaftete Entwicklungsprozess So diametral die Staatsorganisation auf Reichsebene zu den Konstitutionen auf Länderebene stand, so gravierend und substantiell waren auch die Beratungen, die zu diesem Ergebnis führten. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass die Konzeption der Beziehung zwischen den beiden Häusern des Parlaments und dem monarchischen Staatsoberhaupt, zu den evidentesten Problemen der gesamten Verfassunggebung in der Paulskirchenversammlung gehörten. Die Fragestellung nach einem unbedingten oder aufschiebenden Veto des Kaisers war in der Folge einer der Hauptstreitpunkte. 227 226 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 2, S. 787. 227 Diesen Hauptstreitpunkt in der Verfassunggebung zur Paulskirchenverfassung nachzeichnend: Hübner, Parlament und Regierung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 39-45.

I. Ursprünge und Entwicklungslinien 57<br />

tentümer niemals freiwillig hätten nehmen lassen, sind wohl in den föderalen<br />

Ängsten vor Machtverlusten an eine zu unitaristische Reichsspitze zu suchen.<br />

Desgleichen erkannte die Nationalversammlung aber wohl auch die machtstrukturelle<br />

Problematik, ein monarchisches Staatsoberhaupt vollständig von der Gesetzgebung<br />

zu entfernen ohne dafür Ausgleich zu schaffen. Daher kreierte sie für die<br />

Position des kaiserlichen Staatsoberhauptes ein staatsorganisationsrechtliches<br />

Novum. Mit § 101 des Paulskirchenverfassungsentwurfes wurde dem Monarchen<br />

erstmals ein exekutives Recht des Dazwischentretens, das zumindest hemmend<br />

wirken konnte, zugestanden, obwohl er nicht mehr Träger der Gesetzgebungsgewalt<br />

war. Die Tragweite dieses Vetos wird besonders deutlich <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit anderen, dem Kaiser zugewiesen Rechten. Ernst Rudolf Huber 226 fasst die möglichen<br />

praktischen D<strong>im</strong>ensionen äußerst anschaulich zusammen, indem er<br />

schreibt:<br />

„…Ein Reichstagsbeschluss, dem der Kaiser widersprochen hatte, durfte zwar in derselben Sitzungsperiode<br />

nicht wiederholt werden. Fasste der Reichstag jedoch in drei aufeinanderfolgenden<br />

Sitzungsperioden denselben Beschluss, so erlangte dieser, auch wenn der Kaiser an seinem Widerspruch<br />

festhielt, mit dem Ende der dritten Sitzungsperiode Gesetzeskraft. Die Überwindung des<br />

kaiserlichen Vetos war dem Parlament damit allerdings schwer gemacht. Es konnte zwei bis<br />

drei Jahre oder länger dauern, bis der Reichstag sich durch dre<strong>im</strong>aligen Beschluss über den Regierungseinspruch<br />

hinwegsetzen vermochte. Überdies hatte der Kaiser die Möglichkeit den dritten<br />

Beschluss durch die Schließung oder Auflösung des Volkshauses nach § 79 der Reichsverfassung<br />

abzuwenden. …“<br />

Es wird deutlich, dass dieses avisierte Einspruchsrecht des Kaisers, wie es die<br />

Paulskirchenverfassung vorsah, zwar nicht allumfassend und unbedingt war, aber<br />

es wäre zumindest bei konspirativer Anwendung ein durchschlagkräftiges exekutives<br />

Veto gewesen.<br />

bb. Der streitbehaftete Entwicklungsprozess<br />

So diametral die Staatsorganisation auf Reichsebene zu den Konstitutionen auf<br />

Länderebene stand, so gravierend und substantiell waren auch die Beratungen, die<br />

zu diesem Ergebnis führten. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass die Konzeption<br />

der Beziehung zwischen den beiden Häusern des Parlaments und dem<br />

monarchischen Staatsoberhaupt, zu den evidentesten Problemen der gesamten<br />

Verfassunggebung in der Paulskirchenversammlung gehörten. Die Fragestellung<br />

nach einem unbedingten oder aufschiebenden Veto des Kaisers war in der Folge<br />

einer der Hauptstreitpunkte. 227<br />

226 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 2, S. 787.<br />

227 Diesen Hauptstreitpunkt in der Verfassunggebung zur Paulskirchenverfassung nachzeichnend: Hübner,<br />

Parlament und Regierung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 39-45.

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