Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen
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446 F. Exkurs: Europäische Vetorechte und ihre Zukunft halte erheblich gestärkt. Auch der Bundespräsident erhält ein neues Argument, sein materielles Prüfungsrecht auszuüben. Es sieht danach aus, als ob das Urteil die Stellung der genannten Verfassungsorgane zu Lasten der Bundesregierung ausgebaut hätte. Sicherlich wird es in der Bundesregierung mit Sorge gesehen werden, dass die Prärogative der Exekutive in auswärtigen Angelegenheiten, zu denen in diesem Fall dann auch die Mitwirkung an der EU zählt, ihre harte Schale eingebüßt hat. Nach der Lissabon-Entscheidung wird es dem Bundestag sogar möglich sein, der Bundesregierung Weisungen zum Stimmverhalten des deutschen Vertreters im Rat zu erteilen. Im Grunde zieht das Gericht aber nur die verfassungsrechtlichen Folgen aus einer Entwicklung, die überstaatliche Politikgestaltung und Rechtssetzung von einem begrenzten Ausnahmefall zu einer Handlungsvariante für den Normalfall gemacht hat. Die stärkere Einbindung des Bundestags in die europäische Rechtssetzung kompensiert die abnehmende Möglichkeit der parlamentarischen Feinsteuerung. Die politische Verantwortung bleibt auf diesem Weg verfassungsrechtlich beim unmittelbar durch den Bürger gewählten Parlament, das sich wegen seines Handelns gegenüber dem Bürger und der Öffentlichkeit behaupten muss. Dass die auswärtige Gewalt damit nur noch als eine Gesamthandsaufgabe von Parlament und Regierung wahrgenommen wird, ist mit Blick auf die weiterhin überragende Stellung der Regierung nicht zu befürchten. …“ Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Josef Isensee 1196 : „…So heilsam die Aufwertung des Bundestages ist, so darf dieser Impuls des BVerfG doch nicht überschätzt werden. Er stärkt die staatsinterne Macht des Bundestages gegenüber der Bundesregierung, der weiterhin die Außenvertretung der Bundesrepublik zukommt. …“ Diese beiden Europa- und Verfassungsrechtler beschreiben die neue Integrationsverantwortungsrolle der Legislative und zuvorderst des Bundestages zwar durchaus zutreffend. Fraglich ist jedoch, ob die beschriebene Konsequenz für die Regierung auch in der Verfassungsrealität Bestand haben kann. Dies darf mehr als nur angezweifelt werden. Es kann gar nicht übersehen werden, dass das Lissabon- Urteil den Gesetzgeber nicht nur in Fragen europäischer Integration in die Pflicht genommen hat. In etlichen Bereichen muss das Regierungshandeln auf europäischer Ebene ausdrücklich legitimiert werden, da Schweigen oder tendenzielle Gegenvorstellung nicht mehr genügen. 1197 Die diesbezüglich offenkundige nahe Anlehnung des Integrationsverantwortungsgesetzes an das Lissabon-Urteil war wohl schon dem Zeitdruck des kaum drei Monate währenden Gesetzgebungsprozesses am Ende der 16. Legislaturperiode geschuldet. Die Konsequenzen werden sich jedoch erst zukünftig zeigen. Europäisches Regierungshandeln deutscher Exekutivspitzen wird in Zukunft 1196 Vgl. Isensee, in: ZRP 2010, 33 (35). 1197 Vgl. BVerfGE 123, 267 (437): „Ein Schweigen von Bundestag und Bundesrat reicht daher nicht aus, diese Verantwortung [gemeint ist die Integrationsverantwortung] wahrzunehmen“.
II. Neujustierung des Vetobodens mangels parlamentarischer Ermächtigung tendenziell autonom unmöglich, weil unzulässig sein. Ob die Anbindung der parlamentarischen Mehrheit an ‚ihre‛ Exekutive dauerhaft dafür sorgen wird, dass deutsche Minister im Rat autark agieren können und die Regierungsmehrheit zuhause im Parlament dafür den Rücken freihält, wird sich noch erweisen müssen, wenn es um fundamentale Fragen geht. 1198 Der Umstand, dass die Verfassungsbeschwerden zum Lissabon-Vertrag von 53 Mitgliedern des Bundestages initiiert wurden, sollte zur Vorsicht mahnen. Ein weiter so wie bisher in arrivierten Verfahrensmustern wird es jedenfalls nicht geben. Zudem sollte sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die im Lissabon-Urteil nur zaghaft vorgenommene Integrationsverantwortungsübertragung auf die deutsche Legislative bei nächst bester Gelegenheit ausgebaut werden wird. Der II. Senat des Bundesverfassungsgerichts wird es sich nicht nehmen lassen, seine eigenkreierte Rolle des obersten Integrationscontrollers weiter auszubauen. Wer nämlich im Jahr 2005 genau hinschaute, konnte die intellektuelle Vorbereitung des Lissabon- Urteils schon beim Urteil zum ‚Europäischen Haftbefehl‛ erkennen. Es zeigte sich schon damals im Rahmen des Umsetzungsverfahrens zum ‚Europäischen Haftbefehl‛ auf einem Feld der noch nicht vergemeinschafteten und daher intergouvernementalen 3. Unionssäule (Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen), dass europäische Rechtsetzung für die deutschen Volksvertreter in der Regel potentiell zu „normativer Unfreiheit“ 1199 führte. Insbesondere unter den Vorgaben des „Maastricht-Urteils“ des Bundesverfassungsgerichts erwies sich eine solche Einengung parlamentarischer Kompetenzen als nicht haltbar, da es zuvorderst die Staatsvölker der Mitgliedsstaaten sein sollten, welche über die nationalen Parlamente hoheitliche Befugnisse des europäischen Staatenbundes demokratisch legitimierten. 1200 Die Rechtssetzung sollte nicht in einen „unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren, Automatismus“ 1201 münden. Im Jahr 1198 Die fehlende exekutive Eigenständigkeit nach dem Lissabon-Urteil zeigte sich z.B. im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Konsequenzen aus dem gerade noch abgewendeten Staatsbankrot des Euro-Landes Griechenland im Frühjahr 2010. Der deutsche Finanzminister konnte im Angesicht der Vorgaben des Lissabon- Urteils nicht autark über die Möglichkeiten einer Europäischen Wirtschaftsregierung oder eines Europäischen Währungsfonds diskutieren, da ihm die Integrationsrückkoppelungen an die Legislative die Hände banden – Vgl. hierzu .Frankfurter Allgemeine Zeitung-NET, v. 15. März 2010: „…Nur im Vorbeigehen erwähnt der Minister, dass ein Währungsfonds eine Änderung der EU-Verträge erfordert. Er sagt nicht, was geändert werden müsste: jene „No bail out“-Klausel, die eine Haftung der EU oder anderer Mitgliedstaaten für die Schulden eines Euro-Staates ausschließt und die einst von deutscher Seite zu einer der Voraussetzungen für die Währungsunion gemacht wurde. Mit einem EWF wäre nicht nur diese Gemeinschaftshaftung institutionalisiert, sondern auch die Wirtschaftsregierung. Wie sich das mit den Vorgaben des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts vereinbaren lässt, ist eine spannende Frage. …“ 1199 Der Bundestagsabgeordnete Ströbele führte den Begriff der „normativen Unfreiheit“ in die mündliche Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen das deutsche Umsetzungsgesetz zum ‚Europäischen Haftbefehl‛ ein. Diese Aussage basierte auf dem Umstand, dass die nationalen Parlamentarier die Brüsseler Normflut nur noch „eins zu eins“ durchwinken würden, da es sowohl an der Zeit als auch der Kompetenz zur fundierten Prüfung fehle und daher das Parlament de facto vollständig ausfiele. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 19.07.2005, S. 1. 1200 BVerfGE 89, 155 (181 ff). 1201 Vgl. in Bezug auf das Themenfeld der Währungsunion: BVerfGE 89, 155 (157). 447
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F. Exkurs: Europäische <strong>Vetorechte</strong> und ihre Zukunft<br />
halte erheblich gestärkt. Auch der Bundespräsident erhält ein neues Argument, sein materielles<br />
Prüfungsrecht auszuüben. Es sieht danach aus, als ob das Urteil die Stellung der genannten<br />
Verfassungsorgane zu Lasten der Bundesregierung ausgebaut hätte. Sicherlich wird es in der<br />
Bundesregierung mit Sorge gesehen werden, dass die Prärogative der <strong>Exekutive</strong> in auswärtigen<br />
Angelegenheiten, zu denen in diesem Fall dann auch die Mitwirkung an der EU zählt, ihre<br />
harte Schale eingebüßt hat. Nach der Lissabon-Entscheidung wird es dem Bundestag<br />
sogar möglich sein, der Bundesregierung Weisungen zum St<strong>im</strong>mverhalten des<br />
<strong>deutschen</strong> Vertreters <strong>im</strong> Rat zu erteilen. Im Grunde zieht das Gericht aber nur die verfassungsrechtlichen<br />
Folgen aus einer Entwicklung, die überstaatliche Politikgestaltung und Rechtssetzung<br />
von einem begrenzten Ausnahmefall zu einer Handlungsvariante für den Normalfall<br />
gemacht hat. Die stärkere Einbindung des Bundestags in die europäische Rechtssetzung kompensiert<br />
die abnehmende Möglichkeit der parlamentarischen Feinsteuerung. Die politische Verantwortung<br />
bleibt auf diesem Weg verfassungsrechtlich be<strong>im</strong> unmittelbar durch den Bürger gewählten<br />
Parlament, das sich wegen seines Handelns gegenüber dem Bürger und der Öffentlichkeit behaupten<br />
muss. Dass die auswärtige Gewalt damit nur noch als eine Gesamthandsaufgabe von Parlament<br />
und Regierung wahrgenommen wird, ist mit Blick auf die weiterhin überragende Stellung<br />
der Regierung nicht zu befürchten. …“<br />
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Josef Isensee 1196 :<br />
„…So heilsam die Aufwertung des Bundestages ist, so darf dieser Impuls des BVerfG doch<br />
nicht überschätzt werden. Er stärkt die staatsinterne Macht des Bundestages gegenüber der<br />
Bundesregierung, der weiterhin die Außenvertretung der Bundesrepublik zukommt. …“<br />
Diese beiden Europa- und Verfassungsrechtler beschreiben die neue Integrationsverantwortungsrolle<br />
der Legislative und zuvorderst des Bundestages zwar durchaus<br />
zutreffend. Fraglich ist jedoch, ob die beschriebene Konsequenz für die Regierung<br />
auch in der Verfassungsrealität Bestand haben kann. Dies darf mehr als nur<br />
angezweifelt werden. Es kann gar nicht übersehen werden, dass das Lissabon-<br />
Urteil den Gesetzgeber nicht nur in Fragen europäischer Integration in die Pflicht<br />
genommen hat. In etlichen Bereichen muss das Regierungshandeln auf europäischer<br />
Ebene ausdrücklich legit<strong>im</strong>iert werden, da Schweigen oder tendenzielle<br />
Gegenvorstellung nicht mehr genügen. 1197<br />
Die diesbezüglich offenkundige nahe Anlehnung des Integrationsverantwortungsgesetzes<br />
an das Lissabon-Urteil war wohl schon dem Zeitdruck des kaum<br />
drei Monate währenden Gesetzgebungsprozesses am Ende der 16. Legislaturperiode<br />
geschuldet. Die Konsequenzen werden sich jedoch erst zukünftig zeigen.<br />
Europäisches Regierungshandeln deutscher Exekutivspitzen wird in Zukunft<br />
1196 Vgl. Isensee, in: ZRP 2010, 33 (35).<br />
1197 Vgl. BVerfGE 123, 267 (437): „Ein Schweigen von Bundestag und Bundesrat reicht daher nicht aus, diese Verantwortung<br />
[gemeint ist die Integrationsverantwortung] wahrzunehmen“.