Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen
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444 a. Das Konzept der Integrationsverantwortung F. Exkurs: Europäische Vetorechte und ihre Zukunft Das Konzept der parlamentarischen Integrationsverantwortung, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil kreiert, lässt sich wie folgt darstellen 1192 : Den deutschen Verfassungsorganen obliegt eine dauerhafte Integrationsverantwortung, die darauf gerichtet ist, bei der Übertragung von Hoheitsrechten und bei der Ausgestaltung der europäischen Entscheidungsverfahren dafür Sorge zu tragen, dass in einer Gesamtbetrachtung sowohl das politische System der Bundesrepublik Deutschland als auch das der Europäischen Union demokratischen Grundsätzen i.S. des Art. 20 Abs. 1, 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG entspricht. Das Bundesverfassungsgericht charakterisiert die Europäische Union in seiner Lissabon-Entscheidung als „Vertragsunion souveräner Staaten“. In den Institutionen der Union kooperieren souveräne Staaten ohne dabei ihre Identität in Frage zu stellen. Der „befriedete Raum und die darin gewährleistete Ordnung“, der das Wesensmerkmal souveräner Staatlichkeit ausmache, dürfe im Prozess der europäischen Integration nicht angegriffen werden. Mehr als einen „politischen Sekundärraum“ kann der politische Prozess der EU danach nicht bilden. Das Bundesverfassungsgericht verlangt in seinem Urteil nicht, dass die europäische Hoheitsgewalt über demokratische Mechanismen auf die europäischen Bürger rückgebunden werde. Es gehe darum, die verfassungsstaatlichen Mechanismen demokratischer Selbstregierung, wie sie mit Blick auf die Entscheidungsfindung im souveränen Staat bestehen, nunmehr auch für den europäischen Sekundärraum nachzubilden. Die Öffnung souveräner Staatlichkeit für die Akte einer überstaatlichen Gewalt erscheint nur dann erträglich, wenn es sich dabei nicht lediglich um eine Aussetzung und Unterwerfung handelt, sondern wenn sich auch diese Akte als Realisation der Idee der demokratischen Selbstbestimmung des deutschen Volkes begreifen lassen. Das Konzept der Integrationsverantwortung zielt damit darauf ab, die Spannungslage aufzulösen, die zwischen dem verfassungsrechtlichen Anliegen einer Teilnahme an überstaatlichen Integrationsprozessen (und der damit einhergehenden Unterwerfung unter die Entscheidungen verbandsfremder Organe) und dem Anliegen der Sicherung einer freien Selbstbestimmung der Mitglieder des jeweiligen Verbands besteht. Die Integrationsverantwortung steht der Übertragung von Hoheitsrechten nicht entgegen. Sie impliziert aber, dass die Organe jenes Verbands, dessen Gestaltungsfreiheit von der überstaatlichen Entscheidungstätigkeit eingeschränkt wird, sich in einer demokratischen Grundsätzen ge- 1192 Die Darstellung beruht im Wesentlichen auf der Urteilsbesprechungen von Nettesheim, in: NJW 2010, 177. Weitergehende Analysen finden sich bei: Classen, JZ 2009, 881; Hillgruber/Gärditz, JZ 2009, 872; Pache, EuGRZ 2009, 285; Schorkopf, EuZW 2009, 718; ders. German Law Journal Vol.10No.08; S. 1219 ff; Terhechte, EuZW 2009, 724. Insbesondere sei hingewiesen auf die kritischen Stellungnahmen von F. Mayer in NJW 2010, 714; Schwarze, in: EuR 2010, 108; Möllers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16. Juli 2009 „Was ein Parlament ist bestimmen die Richter“; Halberstam/Möllers, German Law Journal Vol.10No.08, S. 1241 ff; Tomuschat, German Law Journal Vol.10No.08, S. 1259 ff; Schönberger, Law Journal Vol.10No.08, S. 1201 ff. Demgegenüber das Urteil schon fast euphorisch preisend: Isensee, in: ZRP 2010, 33.
II. Neujustierung des Vetobodens nügenden Weise an der Wahrnehmung der überstaatlichen Gewalt beteiligen müssen (Kompensationsgedanke). Eine hinreichende demokratische Rückbindung der europäischen Hoheitsgewalt verlangt danach, dass die demokratisch verantwortlichen Staatsorgane die Entscheidungstätigkeit europäischer Organe kontinuierlich so begleiten, dass sie sich nicht als Fremdgesetzgebung darstellt. Der Tendenz zur Entparlamentarisierung von Entscheidungsprozessen, wird für den Bereich der europäischen Integration entgegengewirkt. Im Maastricht-Urteil ging das BVerfG noch davon aus, dass den Anforderungen des Grundgesetzes schon dadurch Genüge getan werden kann, dass das „Integrationsprogramm“ im Primärrecht mit hinreichender Bestimmtheit festgelegt wird. In der Lissabon-Entscheidung taucht die Vorstellung, dass sich der Integrationsprozess dadurch hinreichend steuern und demokratisch verantworten lasse, dass in den Vertragsbestimmungen ein „Integrationsprogramm“ festgelegt werde, nur noch am Rande auf. Dem Bundesverfassungsgericht zufolge verlangt das Gebot der kontinuierlichen Begleitung der Entscheidungstätigkeit europäischer Organe mehr, als dass europäische Kompetenzen durch Vertragsgesetz begründet werden. Ebenso wenig ist es generell ausreichend, dass durch die EU-rechtlich gewährte Mitwirkung deutscher Vertreter im Europäischen Rat und im Rat eine Einwirkungsmöglichkeit gegeben ist. Diese Form demokratischer Kontrolle gewährleistet ein hinreichendes Legitimationsniveau nur im Normalfall europäischer Entscheidungsfindung. In Fällen, die jenseits dieser Normalität liegen, bedarf es einer begleitenden Zustimmung, Überwachung und Kontrolle durch die vom Bundesverfassungsgericht insoweit mit einer besonderen demokratischen Dignität ausgestatteten gesetzgebenden Organe. b. Die Umsetzung des Lissabon-Urteils als Veto-Todesstoß Mit dem Integrationsverantwortungsgesetz 1193 wurde den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem Lissabon-Urteil Rechnung getragen. 1194 Für die Vetorechtsfrage interessiert bezüglich des Integrationsverantwortungsgesetzes nur eines: Stellt das Einspruchswirken deutscher Ratsmitglieder auf europäischer Ebene weiterhin eine Vetorechtsausübung dar? Erste Aufschlüsse für die Beantwortung dieser Frage kann eine Urteils-Analyse von Frank Schorkopf bieten 1195 : „…Die Integrationsverantwortung liegt insgesamt bei den Verfassungsorganen, die sie nach ihrer Zuständigkeit in überstaatlichen Angelegenheiten aufnehmen müssen. […] Der Bundestag und – soweit innerstaatlich beteiligt – der Bundesrat werden durch zusätzliche Entscheidungsvorbe- 1193 Integrationsverantwortungsgesetz v. 22. September 2009; BGBl I, S. 3022. 1194 Zum Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens und den gesetzgeberischen Motiven zusammenfassend: Hahn, in: EuZW 2009, 758. Eine detaillierte Aufstellung der einzelnen Normen bietet Nettesheim, in: NJW 2010, 177 (178 ff). 1195 Vgl. Schorkopf, EuZW 2009, 718 (723). 445
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Hoheitsgewalt verlangt danach, dass die demokratisch verantwortlichen Staatsorgane die<br />
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Fremdgesetzgebung darstellt. Der Tendenz zur Entparlamentarisierung von Entscheidungsprozessen,<br />
wird für den Bereich der europäischen Integration entgegengewirkt.<br />
Im Maastricht-Urteil ging das BVerfG noch davon aus, dass den Anforderungen<br />
des Grundgesetzes schon dadurch Genüge getan werden kann, dass das<br />
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wird. In der Lissabon-Entscheidung taucht die Vorstellung, dass sich der Integrationsprozess<br />
dadurch hinreichend steuern und demokratisch verantworten<br />
lasse, dass in den Vertragsbest<strong>im</strong>mungen ein „Integrationsprogramm“ festgelegt<br />
werde, nur noch am Rande auf. Dem Bundesverfassungsgericht zufolge verlangt das<br />
Gebot der kontinuierlichen Begleitung der Entscheidungstätigkeit europäischer<br />
Organe mehr, als dass europäische Kompetenzen durch Vertragsgesetz begründet<br />
werden. Ebenso wenig ist es generell ausreichend, dass durch die EU-rechtlich<br />
gewährte Mitwirkung deutscher Vertreter <strong>im</strong> Europäischen Rat und <strong>im</strong> Rat eine<br />
Einwirkungsmöglichkeit gegeben ist. Diese Form demokratischer Kontrolle gewährleistet<br />
ein hinreichendes Legit<strong>im</strong>ationsniveau nur <strong>im</strong> Normalfall europäischer<br />
Entscheidungsfindung. In Fällen, die jenseits dieser Normalität liegen, bedarf es<br />
einer begleitenden Zust<strong>im</strong>mung, Überwachung und Kontrolle durch die vom<br />
Bundesverfassungsgericht insoweit mit einer besonderen demokratischen Dignität<br />
ausgestatteten gesetzgebenden Organe.<br />
b. Die Umsetzung des Lissabon-Urteils als Veto-Todesstoß<br />
Mit dem Integrationsverantwortungsgesetz 1193 wurde den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts<br />
aus dem Lissabon-Urteil Rechnung getragen. 1194<br />
Für die Vetorechtsfrage interessiert bezüglich des Integrationsverantwortungsgesetzes<br />
nur eines: Stellt das Einspruchswirken deutscher Ratsmitglieder auf europäischer<br />
Ebene weiterhin eine Vetorechtsausübung dar? Erste Aufschlüsse für die<br />
Beantwortung dieser Frage kann eine Urteils-Analyse von Frank Schorkopf bieten<br />
1195 :<br />
„…Die Integrationsverantwortung liegt insgesamt bei den Verfassungsorganen, die sie nach ihrer<br />
Zuständigkeit in überstaatlichen Angelegenheiten aufnehmen müssen. […] Der Bundestag und<br />
– soweit innerstaatlich beteiligt – der Bundesrat werden durch zusätzliche Entscheidungsvorbe-<br />
1193 Integrationsverantwortungsgesetz v. 22. September 2009; BGBl I, S. 3022.<br />
1194 Zum Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens und den gesetzgeberischen Motiven zusammenfassend: Hahn, in:<br />
EuZW 2009, 758. Eine detaillierte Aufstellung der einzelnen Normen bietet Netteshe<strong>im</strong>, in: NJW 2010, 177 (178<br />
ff).<br />
1195 Vgl. Schorkopf, EuZW 2009, 718 (723).<br />
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