Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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438 F. Exkurs: Europäische Vetorechte und ihre Zukunft Überdies erweitert während des Übergangszeitraums vom 01. November 2014 bis 31. März 2017 die sog. „Ioannina-Formel“ vorübergehend die nationalstaatlichen Vetomöglichkeiten: Es wird die Möglichkeit eines Vetos unter herabgesenkten Anforderungen an das Vetoquorum eingeräumt. Danach gibt es bei einem mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Ratsbeschluss eine Pflicht zur begrenzten Weiterberatung im Rat, wenn 75 % der EU-Bevölkerung oder 75 % der Mitgliedstaaten (vertreten durch deren Exekutiven) erklären, dass sie den Beschluss ablehnen. Die damit verbundene Verzögerung stellt zwar kein absolutes Vetorecht einer bestimmten Zahl von mitgliedsstaatlichen Regierungen mehr dar, führt aber aufgrund der Weitererörterungsverpflichtung im Rat zu einer temporären Suspendierung des avisierten Rechtsaktes und erweist sich somit als suspensives Vetorecht. Dessen Vetoqualität sinkt jedoch nach dem 01. April 2017 ab, da nach der „Ioannina-Formel“ für einen dergestaltigen Einspruch die doppelte Mehrheit aus 55 % der Bevölkerung der Mitgliedstaaten und der Staaten kumulativ um eine Weiterverhandlung eines Rechtsaktes im Rat ersuchen müssen. Vetosystematik ab dem 01. November 2014 ohne Beantragung der Nizza-Mehrheiten: Ohne die Beantragung der Weitergeltung der Mehrheitsquoren auf dem Stand des Vertrages von Nizza erfordert die qualifizierte Mehrheit ab dem 01. November 2014 65 % der Bevölkerung und 55 % der Mitgliedstaaten, sofern die Mehrheit zumindest 15 Mitgliedstaaten umfasst. Bleibt ein Ratsbeschluss unter diesem Quorum, hat das verneinende Vetokonglomerat aus den ablehnenden Mitgliedsstaaten ihrem Veto zum Erfolg verholfen. Jene ‚15 Mitgliedstaaten-Hürde‛ wird allerdings tatsächlich keine praktische Relevanz aufweisen, da 15 von derzeit 27 Ländern 55,5 % der Mitgliedstaaten ausmachen bzw. umgekehrt bei Zustimmung von 14 Mitgliedstaaten nur 51,8 % erreicht werden. Zudem finden Enthaltungen bei der Berechnung keine Berücksichtigung. Um per Stimmenthaltung eine Entscheidung blockieren zu können, ist zukünftig stetig ein Minimum von mindestens vier Veto-Staaten erforderlich. Das heißt, dass die drei größten Mitgliedstaaten per Obstruktionsenthaltung nicht genügend Vetopotential erzeugen können, um ein EU- Gesetz blockieren zu können. In einem solchen Fall des Vetoblockadeversuchs beträgt die Mehrheit lediglich 55 % der restlichen Staaten und 65 % der Bevölkerung dieser Staaten.

II. Neujustierung des Vetobodens 2. Die Vetothese aus europäischem Blickwinkel Inwieweit dieses zukünftige Beschlussverfahren auf EU-Ebene ein wirklich transparentes Verfahren ist, erscheint fraglich. Ein nachvollziehbares System, dass die Zuordnung erlaubt, wer wann für welche Entscheidung verantwortlich zeichnet, sieht zweifelsohne anders aus. Betrachtet man dieses sich fortwährend modifizierende Abstimmungssystem jedoch singulär bezüglich der Rolle des Rates, so kann zumindest folgendes geschlussfolgert werden: Der Rat bleibt trotz wesentlich ausgebauter Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments ein zentraler Dreh- und Angelpunkt der europäischen Sekundärrechtssetzung. Diese Bestandsaufnahme gilt auch in Anbetracht der zukünftigen Rolle, die das Europäische Parlament innerhalb der EU-Gesetzgebung einnimmt. Mit dem Vertrag von Lissabon ist zwar eine Stufe erreicht, auf welcher das Europäische Parlament nunmehr auf Augenhöhe mit dem Rat an der EU-Gesetzgebung partizipiert. Dennoch liegt auch zukünftig im Rat ein (nicht mehr der alleinige) ‚Masseschwerpunkt‛ der Union. Eine solche fortwährende veritable Teilnahme des Rates am EU- Gesetzgebungsverfahren ist auch sinnstiftend. Im Rat sind nämlich genau diejenigen versammelt, welche in Wahrheit die Herren der Verträge sind: Die nationalen Regierungen. Anhand dieser Bestandsaufnahme erscheint es als zumindest hinterfragenswert, ob die nationalen Regierungen, allen voran die deutschen Ratsmitglieder, im Gesetzgebungsverfahren wie es der Vertrag von Lissabon vorsieht auch weiterhin über eine veritable Vetoposition verfügen? Man könnte diesbezüglich folgende These vertreten: Diese nationalen Regierungen stellen auch weiterhin die eigentlichen Schöpfer des europäischen Primärrechts dar. Sie haben die Verträge der Union und der vormaligen Gemeinschaft kreiert mittels derer weite Teile nationalstaatlicher Materien ins Supranationale transponiert wurden. Es ist daher auch zukünftig sinnstiftend, dass die EU-Rechtsakte als Produkte der Übertragung nationaler Kompetenzen maßgeblich von den nationalen Regierungen determiniert werden und die immer wieder geforderte demokratische Legitimation über genau jene nationalen Regierungen erfolgt. Nationale Regierungsexekutive können zwar nicht mehr allein aber im Zusammenspiel mit anderen Ratsmitgliedern exekutivem Einspruch zur Durchsetzung verhelfen. Nicht jedes Veto würde sich im komplexen Konzept der qualifizierten Mehrheiten durchsetzen können. Das müsste es aber auch gar nicht. Das Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme in einem supranationalen Völkerrechtssubjekt, das zudem von einer immer größer werdenden Teilnehmerschar geprägt ist, würde systemlogisch das Akzeptieren von erhöhten Vetoquoren erfordern. Exekutive Vetoeinsätze auf EU-Ebene wären beim regulären Mehrheitsverfahren wie es der Vertrag von Lissabon vorsieht somit nicht allein durch deutsche Minister fruchtbar zu machen. Es bedürfte der Vervollständigung durch exekutive 439

II. Neujustierung des Vetobodens<br />

2. Die Vetothese aus europäischem Blickwinkel<br />

Inwieweit dieses zukünftige Beschlussverfahren auf EU-Ebene ein wirklich transparentes<br />

Verfahren ist, erscheint fraglich. Ein nachvollziehbares System, dass die<br />

Zuordnung erlaubt, wer wann für welche Entscheidung verantwortlich zeichnet,<br />

sieht zweifelsohne anders aus. Betrachtet man dieses sich fortwährend modifizierende<br />

Abst<strong>im</strong>mungssystem jedoch singulär bezüglich der Rolle des Rates, so kann<br />

zumindest folgendes geschlussfolgert werden: Der Rat bleibt trotz wesentlich<br />

ausgebauter Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments ein zentraler Dreh-<br />

und Angelpunkt der europäischen Sekundärrechtssetzung. Diese Bestandsaufnahme<br />

gilt auch in Anbetracht der zukünftigen Rolle, die das Europäische Parlament<br />

innerhalb der EU-Gesetzgebung einn<strong>im</strong>mt. Mit dem Vertrag von Lissabon<br />

ist zwar eine Stufe erreicht, auf welcher das Europäische Parlament nunmehr auf<br />

Augenhöhe mit dem Rat an der EU-Gesetzgebung partizipiert. Dennoch liegt<br />

auch zukünftig <strong>im</strong> Rat ein (nicht mehr der alleinige) ‚Masseschwerpunkt‛ der Union.<br />

Eine solche fortwährende veritable Teilnahme des Rates am EU-<br />

Gesetzgebungsverfahren ist auch sinnstiftend. Im Rat sind nämlich genau diejenigen<br />

versammelt, welche in Wahrheit die Herren der Verträge sind: Die nationalen<br />

Regierungen.<br />

Anhand dieser Bestandsaufnahme erscheint es als zumindest hinterfragenswert,<br />

ob die nationalen Regierungen, allen voran die <strong>deutschen</strong> Ratsmitglieder, <strong>im</strong><br />

Gesetzgebungsverfahren wie es der Vertrag von Lissabon vorsieht auch weiterhin<br />

über eine veritable Vetoposition verfügen? Man könnte diesbezüglich folgende<br />

These vertreten:<br />

Diese nationalen Regierungen stellen auch weiterhin die eigentlichen Schöpfer<br />

des europäischen Pr<strong>im</strong>ärrechts dar. Sie haben die Verträge der Union und der<br />

vormaligen Gemeinschaft kreiert mittels derer weite Teile nationalstaatlicher Materien<br />

ins Supranationale transponiert wurden. Es ist daher auch zukünftig sinnstiftend,<br />

dass die EU-Rechtsakte als Produkte der Übertragung nationaler Kompetenzen<br />

maßgeblich von den nationalen Regierungen determiniert werden und die<br />

<strong>im</strong>mer wieder geforderte demokratische Legit<strong>im</strong>ation über genau jene nationalen<br />

Regierungen erfolgt.<br />

Nationale Regierungsexekutive können zwar nicht mehr allein aber <strong>im</strong> Zusammenspiel<br />

mit anderen Ratsmitgliedern exekutivem Einspruch zur Durchsetzung<br />

verhelfen. Nicht jedes Veto würde sich <strong>im</strong> komplexen Konzept der qualifizierten<br />

Mehrheiten durchsetzen können. Das müsste es aber auch gar nicht. Das<br />

Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme in einem supranationalen Völkerrechtssubjekt,<br />

das zudem von einer <strong>im</strong>mer größer werdenden Teilnehmerschar geprägt<br />

ist, würde systemlogisch das Akzeptieren von erhöhten Vetoquoren erfordern.<br />

<strong>Exekutive</strong> Vetoeinsätze auf EU-Ebene wären be<strong>im</strong> regulären Mehrheitsverfahren<br />

wie es der Vertrag von Lissabon vorsieht somit nicht allein durch deutsche Minister<br />

fruchtbar zu machen. Es bedürfte der Vervollständigung durch exekutive<br />

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