Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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432 F. Exkurs: Europäische Vetorechte und ihre Zukunft über den Gang der europäischen Rechtsetzung auch schon in deren Vorfeld zu, dennoch waren es die deutschen Minister in den Ministerräten der Europäischen Gemeinschaften, die bezüglich vormals deutscher Gesetzgebungsmaterien unmittelbar geltende Verordnungen und zwingend umzusetzende Richtlinien (mit)beschlossen, ohne das über die demokratische Kreation der Regierung und die Gesamtanbindung des Kanzlers an „seine“ Parlamentsmehrheit hinaus eine zwingende demokratische Rückkopplung insbesondere zum Bundestag vorgesehen war. Dies war letztlich eine unausweichliche Folge der Strukturen der deutschen repräsentativen Demokratieausgestaltung, die den Gegebenheiten der Supranationalität keine verfassungsrechtlichen parlamentarischen Gegenpole entgegensetzte. 2. Vetorechtliche Einfallstore bis zum Vertrag von Lissabon Gerade aus dieser beschriebenen Malaise entwickelte sich für die Vetorechte deren zentraler Angriffspunkt auf Europäischer Ebene. Dieser ergab sich im Wesentlichen aus der nationalen Vetoposition im Ministerrat, die über die nationalen Exekutiven ausgeübt wurde. Rudolf Streinz erachtete den Ministerrat damals ausdrücklich als den Hauptgesetzgeber der Europäischen Gemeinschaft. 1166 Horst Dreier sah in dem sich daraus ergebenden Vorrang der Exekutive vor dem parlamentarischen Gesetzgeber eine „korrekturbedürftige Schieflage“ in der Europäischen Union. 1167 Insbesondere in den Fällen, in welchen der Rat einstimmig zu entscheiden hatte, nahmen die Möglichkeiten einer nationalen Blockade der EG-Gesetzgebung zu. 1168 Das Einstimmigkeitsprinzip gab jedem Mitgliedsstaat ein Vetorecht. 1169 1166 Vgl. Streinz, Europarecht (5. Auflage, 2001), Rn 438. 1167 Dreier, Die drei Staatsgewalten im Zeichen von Europäisierung und Privatisierung, DÖV 2002, 537 (547). Auf dem Stand des Vertrages von Nizza stellt sich diese Schieflage insbesondere dahingehend dar, dass die Kommission die europäischen Verordnungen und Richtlinien vorbereitete und die Ministerrunde diese in den Europäischen Räten verabschiedete. Obwohl das Europäische Parlament mittlerweile über die Verfahren der Anhörung, der Zusammenarbeit und teilweise der Zustimmung zum Teil sogar zum Mitgesetzgeber der Europäischen Gemeinschaft geworden war, war seine Stellung, insbesondere was die Gesetzesinitiative angeht, begrenzt. Trotz vielerlei Veränderungen zugunsten der Partizipation des Europäischen Parlaments an der europäischen Gesetzgebung war dieses kein gleichwertiges Legislativorgan. Ohne den Rat konnte in der Europäischen Gemeinschaft auf dem Stand von Nizza kein Recht gesetzt werden. Vgl. Streinz, Europarecht (5. Auflage, 2001), Rn 304 ff und 439 ff. 1168 Beschlussfassung im Rat auf dem Stand des Vertrages von Nizza: Gemäß Art. 205 EGV wurden die Beschlüsse des Ministerrates entweder mit Einstimmigkeit, qualifizierter oder einfacher Mehrheit gefasst. Die Einstimmigkeit war dabei immer dann notwendig, wenn der EGV dies für die Beschlussmaterie ausdrücklich festlegte. Damit die Gemeinschaft in diesem Kompetenzbereich sekundäres Recht setzen konnte, bedurfte es der Zustimmung aller Regierungsvertreter aus den Mitgliedsstaaten. Eine qualifizierte Mehrheit war immer dann erforderlich, wenn dies durch die Verträge dezidiert bestimmt wurde. Inwieweit ein Beschluss die qualifizierte Mehrheit der nationalen Minister im Rat gefunden hat, bestimmte sich nach Art. 205 Abs. 2 S. 1 EGV (Einzelheiten zu den genauen Berechnungsmethoden – Vgl. Streinz, Europarecht (5. Auflage, 2001), Rn 262 ff. Im Grundsatz sah der EGV nach Art. 205 Abs. 1 zwar die einfache Mehrheit als Regelfall vor, diese Grundregel wurde jedoch durch die zahlreichen Anordnungen einer Spezialmehrheit unterlaufen.

I. Der bisherige europäische Vetohorizont Ein solches Einspruchsrecht existierte auch in den Verfahren der sog. qualifizierten Mehrheitsentscheidung. In dieser Konstellation genügte nicht die Vetoentscheidung einer Nationalexekutive allein, sondern es mussten sich eine größere Anzahl nationaler Regierungen zu einem Vetoverbund zusammentun, der nach dem Vertragsstand von Nizza 1170 eine qualifizierte Mehrheit der Mitglieder und eine Mindestzahl von 170 Ratsstimmen, die 62 % der Gesamtbevölkerung repräsentiert, umfassen musste. 1171 Dieses Vetopotential, das nur den nationalen Regierungen zur Verfügung stand, hatte insbesondere der Mitgliedsstaat Polen im Jahr 2007 zur Genüge aufgezeigt. Nach dem Scheitern des Europäischen Verfassungsprojektes führte die polnische Regierung auf dem Europäischen Rat 1172 von Brüssel am 21./22. Juni 2007 während der Verhandlungen um eine notdürftige Reform der Verträge vor, welche Dimension Vetorechte auf europäischer Ebene einnehmen können. 1173 Dass dieses Blockadeverhalten unter Ausnutzung der Vetoposition keine Neuerfindung des Mitgliedsstaats Polen war, zeigt die sog. „Luxemburger Vereinbarung“. Schon in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts blockierte Frankreich die Arbeit des Agrar-Rates mittels der sog. „Politik des leeren Stuhles – politique de la chaise vide“. Frankreich war mit dem eingeführten System der 1169 So ausdrücklich: N. Riedel, Der Konvent zur Zukunft Europas – Die Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, in: ZRP 2002, 241 (245). 1170 ABl.-EU 2001 Nr C 80/1. 1171 Diese seit dem 01.01.2005 greifende Abstimmungsregel im Rat basierte auf Art. 3 des Protokolls über die Erweiterung der Europäischen Union zum Vertrag von Nizza. Diese verfahrensrechtliche Regelung beinhaltete weitere Ausnahmen: Beschloss der Rat nicht auf Initiative der Kommission, war die Zustimmung von mind. 2/3 der Ratsmitglieder erforderlich. Zudem kam das Gesamtbevölkerungskriterium nur dann zum Tragen, wenn ein Mitglied des Rats die Überprüfung bei einer Beschlussfassung des Rates beantragte. 1172 Es handelte sich bei der Regierungskonferenz, welche den „Vertrag von Lissabon“ (ABl. EU 2007 Nr C 306) aushandelte zwar um einen sog. „Europäischen Rat“, auf welchem die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und der Präsident der Europäischen Kommission zusammenkommen. Dabei war das ‚Leitungsorgan‛ Europäischer Rat zwar nicht mit dem Gemeinschaftsorgan Ministerrat gleichzusetzen, dennoch waren diese intergouvernementalen Beschlüsse als allgemeine politische Vorgaben für die Entwicklung der Union (Art. 4 Abs. 1 EUV) wesentlich. Als quasi politischer Schaltzentrale der EG und EU konnte das dortige Blockade- und somit Vetoverhalten der Mitgliedsstaaten als allgemeine Marschroute hochgerechnet werden, wenn im Rat und hinter verschlossenen Türen über das politische Klein-Klein der Brüsseler Politik debattiert wurde und zu entscheiden war. 1173 Ein Bild vom polnischen Vetoverhalten beim EU-Gipfel im Juni 2007, auf welchem die Grundzüge des „Vertrags von Lissabon“ unter Federführung der deutschen Ratspräsidentschaft angeführt von Bundeskanzlerin Angela Merkel festgelegt wurden, lässt sich anhand des diesbezüglichen Medienspiegel ablesen: Vgl. FAZ NET v. 14. Juni 2007 (Merkel in Sorge um EU-Reform); Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, v. 17. Juni 2007, S. 14 (Tod für die Wurzel); FAZ NET v. 17. Juni 2007 (Merkel fordert Kompromissbereitschaft); FAZ NET v. 18. Juni 2007 zit. nach dpa („Keine Durchbrüche – aber Bewegung“); Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 19. Juni 2007, S. 3 (Deutliche Worte an Warschau); FAZ NET v. 20. Juni 2007 (Auch Luxemburg droht mit Veto); Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 21. Juni 2007, S. 3 (Der nette Lech und Veto-Jaroslaw); Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 25. Juni 2007, S. 7 (Lob vom Feind, Tadel vom Partner). Die mediale Begutachtung macht deutlich, dass Polen seine Blockade ausdrücklich als nationale Vetoposition wahrnahm und als solche durch seine Regierung auch darstellte. Dieses Vorgehen hatte zum Ziel, für Polen bei den Regierungsverhandlungen größtmöglichen Einfluss geltend zu machen, auch zum Preis des Misslingens der neuen Vertragsstufe, die der EU nach dem Scheitern des Verfassungsprojektes neue institutionelle Handlungsfähigkeit verschaffen sollte. 433

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F. Exkurs: Europäische <strong>Vetorechte</strong> und ihre Zukunft<br />

über den Gang der europäischen Rechtsetzung auch schon in deren Vorfeld zu,<br />

dennoch waren es die <strong>deutschen</strong> Minister in den Ministerräten der Europäischen<br />

Gemeinschaften, die bezüglich vormals deutscher Gesetzgebungsmaterien unmittelbar<br />

geltende Verordnungen und zwingend umzusetzende Richtlinien<br />

(mit)beschlossen, ohne das über die demokratische Kreation der Regierung und<br />

die Gesamtanbindung des Kanzlers an „seine“ Parlamentsmehrheit hinaus eine<br />

zwingende demokratische Rückkopplung insbesondere zum Bundestag vorgesehen<br />

war. Dies war letztlich eine unausweichliche Folge der Strukturen der <strong>deutschen</strong><br />

repräsentativen Demokratieausgestaltung, die den Gegebenheiten der Supranationalität<br />

keine verfassungsrechtlichen parlamentarischen Gegenpole entgegensetzte.<br />

2. Vetorechtliche Einfallstore bis zum Vertrag von Lissabon<br />

Gerade aus dieser beschriebenen Malaise entwickelte sich für die <strong>Vetorechte</strong> deren<br />

zentraler Angriffspunkt auf Europäischer Ebene. Dieser ergab sich <strong>im</strong> Wesentlichen<br />

aus der nationalen Vetoposition <strong>im</strong> Ministerrat, die über die nationalen <strong>Exekutive</strong>n<br />

ausgeübt wurde. Rudolf Streinz erachtete den Ministerrat damals ausdrücklich<br />

als den Hauptgesetzgeber der Europäischen Gemeinschaft. 1166 Horst Dreier sah<br />

in dem sich daraus ergebenden Vorrang der <strong>Exekutive</strong> vor dem parlamentarischen<br />

Gesetzgeber eine „korrekturbedürftige Schieflage“ in der Europäischen Union. 1167<br />

Insbesondere in den Fällen, in welchen der Rat einst<strong>im</strong>mig zu entscheiden hatte,<br />

nahmen die Möglichkeiten einer nationalen Blockade der EG-Gesetzgebung<br />

zu. 1168 Das Einst<strong>im</strong>migkeitsprinzip gab jedem Mitgliedsstaat ein Vetorecht. 1169<br />

1166 Vgl. Streinz, Europarecht (5. Auflage, 2001), Rn 438.<br />

1167 Dreier, Die drei Staatsgewalten <strong>im</strong> Zeichen von Europäisierung und Privatisierung, DÖV 2002, 537 (547).<br />

Auf dem Stand des Vertrages von Nizza stellt sich diese Schieflage insbesondere dahingehend dar, dass die<br />

Kommission die europäischen Verordnungen und Richtlinien vorbereitete und die Ministerrunde diese in den<br />

Europäischen Räten verabschiedete. Obwohl das Europäische Parlament mittlerweile über die Verfahren der<br />

Anhörung, der Zusammenarbeit und teilweise der Zust<strong>im</strong>mung zum Teil sogar zum Mitgesetzgeber der Europäischen<br />

Gemeinschaft geworden war, war seine Stellung, insbesondere was die Gesetzesinitiative angeht, begrenzt.<br />

Trotz vielerlei Veränderungen zugunsten der Partizipation des Europäischen Parlaments an der europäischen<br />

Gesetzgebung war dieses kein gleichwertiges Legislativorgan. Ohne den Rat konnte in der Europäischen Gemeinschaft<br />

auf dem Stand von Nizza kein Recht gesetzt werden. Vgl. Streinz, Europarecht (5. Auflage, 2001), Rn<br />

304 ff und 439 ff.<br />

1168 Beschlussfassung <strong>im</strong> Rat auf dem Stand des Vertrages von Nizza: Gemäß Art. 205 EGV wurden die Beschlüsse<br />

des Ministerrates entweder mit Einst<strong>im</strong>migkeit, qualifizierter oder einfacher Mehrheit gefasst.<br />

Die Einst<strong>im</strong>migkeit war dabei <strong>im</strong>mer dann notwendig, wenn der EGV dies für die Beschlussmaterie ausdrücklich<br />

festlegte. Damit die Gemeinschaft in diesem Kompetenzbereich sekundäres Recht setzen konnte, bedurfte es der<br />

Zust<strong>im</strong>mung aller Regierungsvertreter aus den Mitgliedsstaaten.<br />

Eine qualifizierte Mehrheit war <strong>im</strong>mer dann erforderlich, wenn dies durch die Verträge dezidiert best<strong>im</strong>mt wurde.<br />

Inwieweit ein Beschluss die qualifizierte Mehrheit der nationalen Minister <strong>im</strong> Rat gefunden hat, best<strong>im</strong>mte sich<br />

nach Art. 205 Abs. 2 S. 1 EGV (Einzelheiten zu den genauen Berechnungsmethoden – Vgl. Streinz, Europarecht<br />

(5. Auflage, 2001), Rn 262 ff.<br />

Im Grundsatz sah der EGV nach Art. 205 Abs. 1 zwar die einfache Mehrheit als Regelfall vor, diese Grundregel<br />

wurde jedoch durch die zahlreichen Anordnungen einer Spezialmehrheit unterlaufen.

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