Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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370 E. Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Einpassung Meinung nennt hier einfach die drei Staatsfunktionen, die Montesquieu in den einleitenden Absätzen des 6. Kapitels des Elften Buches staatstheoretisch unterschied. Er führte alle pouvoirs des Staates – das heißt an dieser Stelle alle Vollmachten zu obrigkeitlichem Handeln – auf drei Arten von pouvoirs, drei Grundfunktionen des Staates zurück: die gesetzgebende, die verwaltende und die richterliche […]. Allerdings differenzierte er diese drei Grundfunktionen in diesem Zusammenhang nicht ausführlich, sondern begnügte sich mit Beispielen ihrer Bedeutung. Anschließend warnte er wiederholt vor einer Vereinigung dieser Grundfunktionen in einer Hand. Aber er verlangte damit noch keineswegs, daß diese drei Grundfunktionen als die drei ‚Gewalten‛ auch verfassungsrechtlich je einem selbständigen Träger zugewiesen werden sollten! Er ist nicht im Rahmen bloßer juristischer Konstruktion, einer recht simplen obendrein, geblieben und hat auch nicht eine staatstheoretische Unterscheidung einfach zum verfassungsrechtlichen System erhoben. An dieser entscheidenden Stelle, wo es sich darum handelte, für die Staatsfunktionen die Funktionsträger zu bestimmen, zeigt sich, daß Montesquieu primär politisch dachte. Er entwarf nicht ungeachtet der politischen Realitäten eine staatsrechtliche Organisation, sondern stellte die großen politischen Realitäten und sozialen Machtfaktoren der Zeit als die einzig möglichen Funktionsträger heraus. Mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit, […] führte er das Volk, den Adel und den König als die allein in Betracht kommenden Träger des künftigen Verfassungslebens ein. […] Auf diese drei politischen Machtfaktoren jene drei Staatsfunktionen so zu verteilen, daß jeder zum Träger einer der drei Funktionen würde, hätte nicht nur – wie Montesquieu später selbst andeutet – zu einem unmöglichen politischen Ergebnis geführt, sondern kam für ihn auch deshalb nicht in Betracht, weil er gar nicht alle drei Grundfunktionen der Staatsgewalt beim Staate institutionalisieren und als Staatsgewalt erhalten, sondern sie auf zwei reduzieren wollte. Er forderte vorweg die Separation der Rechtsprechung. […] Damit blieben nur noch die Gesetzgebung und die Verwaltung: zwei Funktionen Verteilung auf drei Träger. Montesquieu regelte ihre Verteilung aus politischen Gründen so, daß er an der Gesetzgebung zwei Machtfaktoren annähernd gleichmäßig beteiligte, neben der Volksvertretung den Adel. Die Verwaltung verblieb beim König. […] Die staatstheoretische Unterscheidung der Funktionen der Staatsgewalt schickte also Montesquieu seinem Verfassungsmodell nur voraus, ohne sie – wie es der deutschen Vorstellung entspräche – zur beherrschenden Grundlage seines Verfassungssystems zu machen. Er führte die staatstheoretische Unterscheidung nur ein, um mit erstaunlichem Realismus die politische Bedeutung der aufgezeigten Funktionen zu erörtern und nicht minder realistisch den politischen Machtfaktoren der Zeit institutionelle Möglichkeiten in seinem Verfassungssystem zuzuweisen. Aus politischen Gründen – um sie des Herrschaftscharakters zu entkleiden – eliminierte er die Rechtsprechung aus dem staatlichen Bereich überhaupt. Aus politischen Gründen postulierte er nicht die Beseitigung des Monarchen […], sondern beließ ihm die Verwaltung, nahm ihm aber jeden Einfluß auf die Rechtsprechung und beschränkte ihn in der Gesetzgebung auf ein Veto. Aus politischen Gründen – um die Privilegien des Adels gegen eine mögliche Majorisierung zu sichern – forderte er eine erste Kammer als weiteres oberstes Staatsorgan, das seine Schutzfunktion in der Gesetzgebung ausüben sollte. Aus politischen Gründen endlich verlangte er eine Volksvertretung: für die Gesetzgebung, nicht minder aber auch für die Kontrolle über die Regierung, über die er sich mehr und klügere Gedanken gemacht hat als mancher nach ihm.

I. Konfliktlinien zum Gewaltenteilungsprinzip Daran läßt sich die Gültigkeit der landläufigen deutschen Vorstellungen ermessen, wonach Montesquieu aus rein theoretischen Unterscheidungen zu seinen Ergebnissen gekommen, daß er ein abstrakt juristischer, nicht ein konkret politischer Denker gewesen sei. Die These, daß er die drei staatlichen Grundfunktionen auch staatsrechtlich-organisatorisch auf je ein Staatsorgan als Träger habe aufteilen wollen, läßt sich demnach nicht halten. […] Die landläufige deutsche Auffassung ist noch nicht einmal für das Verhältnis der vollziehenden zur gesetzgebenden richtig. Montesquieu hat nämlich gar keine echte Teilung zwischen ihnen vorgeschlagen. Die übliche deutsche Deutung trifft allenfalls zu für die Rechtsprechung und auch das nur zur Hälfte; sie sollte als ‚Gewalt‛ überhaupt beseitigt werden. Das ist übrigens die einzige einschlägige Stelle, wo Montesquieu selbst das Wort ‚séparer‛ gebraucht. Für die beiden anderen Funktionen und ihre drei Träger reduziert sich die vermeintliche Lehre von der Gewalten- ‚teilung‛ auf die Forderung einer Teilung unter wechselseitiger Verschränkung. […] Dagegen spricht Montesquieu im folgenden Kapitel desselben Elften Buches von Gewalten, die nicht zweckentsprechend ‚aufgeteilt und verschmolzen‛ (distribués et fondus) seien. Wenn er, wie erwähnt, vor der Gewaltenvereinigung gewarnt hat, so besagt das also keineswegs, daß er eine starre Gewaltenteilung wollte. Allenfalls ist die wirkliche Gewaltentrennung für ihn der eine Pol der gegebenen Möglichkeiten, dem der Gegenpol gegenübergestellt wird, so daß ein Ausgleich gesucht werden muß. Wer die Gewalten rigoros teilen wollte, müßte ihre Träger in der politischen Wirklichkeit trennen. […] Gerade darin, daß Montesquieu den Gedanken einer Teilung nicht durchführte, wohl aber einen Ausgleich durch Verteilung und Verschränkung suchte, zeigt sich sein konkretes politisches Denken, seine präzise politische Zielsetzung. Sind die drei Staatsfunktionen sinnvoll aufeinander bezogen und kann ohne diesen Bezug kein Ganzes der Staatsgewalt mehr sein, so würde ihre Aufteilung auf verschiedene politische Kräfte als Funktionsträger zum Auseinanderfallen nicht nur der Funktionen, sondern damit auch des Staates treiben. Montesquieu steuert hier mit bemerkenswerter Sicherheit auf die politische Lösung zu: der König soll bei der Gesetzgebung mitwirken, er kann es laufend durch sein königliches Veto; umgekehrt sollen die Träger der Legislative auch bei der Verwaltung mitwirken… […] Mit dem landläufigen Bild von der angeblichen ‚Teilung‛ und wechselseitigen Unabhängigkeit der drei Gewalten hat das wenig zu tun. […] Montesquieu sah klar, daß die politische Verschränkung, die er als Befugnis d‛ arrêter oder d‛empêcher – aufzuhalten, zu verhindern, kurzum durch Einspruch oder Veto zu blockieren – bezeichnet, die drei obersten Staatsorgane auf ständiges Zusammenwirken anweist, wenn die Erledigung der Staatsgeschäfte nicht zum Stillstand kommen soll. […] Montesquieu vertraut darauf, daß keines der drei obersten Staatsorgane seine Mitwirkung versagen, sondern daß sie sich zu einem Kompromiß zusammenfinden und demgemäß zusammenwirken würden. […] Auch das war kennzeichnend für sein politisches Denken, das von unserem undynamischen Bild einer ‚Balance‛ weit entfernt ist; dies Wort kommt im 6. Kapitel des Elften Buches nicht vor, und seine Art von ‚Gleichgewichts‛-Vorstellung hat Montesquieu höchstens insofern geleitet, als keines der drei obersten Staatsorgane die anderen sollte niederringen können. …“ Fasst man die Analysen M. Drahts zusammen, kann man sagen: Montesquieu ging es in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ nicht um eine strikte Gewaltentren- 371

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E. Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Einpassung<br />

Meinung nennt hier einfach die drei Staatsfunktionen, die Montesquieu in den einleitenden<br />

Absätzen des 6. Kapitels des Elften Buches staatstheoretisch unterschied. Er führte alle pouvoirs<br />

des Staates – das heißt an dieser Stelle alle Vollmachten zu obrigkeitlichem Handeln – auf drei<br />

Arten von pouvoirs, drei Grundfunktionen des Staates zurück: die gesetzgebende, die verwaltende<br />

und die richterliche […]. Allerdings differenzierte er diese drei Grundfunktionen in diesem<br />

Zusammenhang nicht ausführlich, sondern begnügte sich mit Beispielen ihrer Bedeutung. Anschließend<br />

warnte er wiederholt vor einer Vereinigung dieser Grundfunktionen in einer Hand.<br />

Aber er verlangte damit noch keineswegs, daß diese drei Grundfunktionen als die drei ‚Gewalten‛<br />

auch verfassungsrechtlich je einem selbständigen Träger zugewiesen werden sollten! Er ist<br />

nicht <strong>im</strong> Rahmen bloßer juristischer Konstruktion, einer recht s<strong>im</strong>plen obendrein, geblieben und<br />

hat auch nicht eine staatstheoretische Unterscheidung einfach zum verfassungsrechtlichen System<br />

erhoben. An dieser entscheidenden Stelle, wo es sich darum handelte, für die Staatsfunktionen die<br />

Funktionsträger zu best<strong>im</strong>men, zeigt sich, daß Montesquieu pr<strong>im</strong>är politisch dachte. Er entwarf<br />

nicht ungeachtet der politischen Realitäten eine staatsrechtliche Organisation, sondern stellte die<br />

großen politischen Realitäten und sozialen Machtfaktoren der Zeit als die einzig möglichen<br />

Funktionsträger heraus. Mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit, […] führte er das<br />

Volk, den Adel und den König als die allein in Betracht kommenden Träger des künftigen<br />

Verfassungslebens ein. […]<br />

Auf diese drei politischen Machtfaktoren jene drei Staatsfunktionen so zu verteilen, daß jeder<br />

zum Träger einer der drei Funktionen würde, hätte nicht nur – wie Montesquieu später selbst<br />

andeutet – zu einem unmöglichen politischen Ergebnis geführt, sondern kam für ihn auch deshalb<br />

nicht in Betracht, weil er gar nicht alle drei Grundfunktionen der Staatsgewalt be<strong>im</strong> Staate<br />

institutionalisieren und als Staatsgewalt erhalten, sondern sie auf zwei reduzieren wollte. Er<br />

forderte vorweg die Separation der Rechtsprechung. […] Damit blieben nur noch die Gesetzgebung<br />

und die Verwaltung: zwei Funktionen Verteilung auf drei Träger. Montesquieu regelte<br />

ihre Verteilung aus politischen Gründen so, daß er an der Gesetzgebung zwei Machtfaktoren<br />

annähernd gleichmäßig beteiligte, neben der Volksvertretung den Adel. Die Verwaltung verblieb<br />

be<strong>im</strong> König. […]<br />

Die staatstheoretische Unterscheidung der Funktionen der Staatsgewalt schickte also Montesquieu<br />

seinem Verfassungsmodell nur voraus, ohne sie – wie es der <strong>deutschen</strong> Vorstellung entspräche<br />

– zur beherrschenden Grundlage seines <strong>Verfassungssystem</strong>s zu machen. Er führte die<br />

staatstheoretische Unterscheidung nur ein, um mit erstaunlichem Realismus die politische Bedeutung<br />

der aufgezeigten Funktionen zu erörtern und nicht minder realistisch den politischen Machtfaktoren<br />

der Zeit institutionelle Möglichkeiten in seinem <strong>Verfassungssystem</strong> zuzuweisen. Aus<br />

politischen Gründen – um sie des Herrschaftscharakters zu entkleiden – el<strong>im</strong>inierte er die<br />

Rechtsprechung aus dem staatlichen Bereich überhaupt. Aus politischen Gründen postulierte er<br />

nicht die Beseitigung des Monarchen […], sondern beließ ihm die Verwaltung, nahm ihm aber<br />

jeden Einfluß auf die Rechtsprechung und beschränkte ihn in der Gesetzgebung auf ein Veto.<br />

Aus politischen Gründen – um die Privilegien des Adels gegen eine mögliche Majorisierung zu<br />

sichern – forderte er eine erste Kammer als weiteres oberstes Staatsorgan, das seine Schutzfunktion<br />

in der Gesetzgebung ausüben sollte. Aus politischen Gründen endlich verlangte er eine<br />

Volksvertretung: für die Gesetzgebung, nicht minder aber auch für die Kontrolle über die Regierung,<br />

über die er sich mehr und klügere Gedanken gemacht hat als mancher nach ihm.

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