Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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362 D. Vetos im aktuellen deutschen Verfassungssystem nistrativ exekutiert. Die unmittelbare Folge dessen, dass sich eine Minderheitsexekutive nicht auf eine eigene Beschlussmehrheit stützen kann, ist also nicht nur, dass sie nicht in der Lage ist, eigene Gesetzesprojekte durch den Landtag zu bringen. Vielmehr tritt ein Zweites hinzu: Eine Minderheitsregierung ist dem Legislativgebaren der Landeslegislative hilflos ausgesetzt. Der Vorrang des Gesetzes 1006 würde die Landesregierung zur zwangsweisen Anwendung von ihr als falsch erachteter Gesetze nötigen und ihr zudem die politische Verantwortung für deren Administrierung aufzwingen. An dieser Stelle werden die Qualitäten der hessischen und nordrheinwestfälischen Vetorechte in ihrer ganzen Dimension offenbar. Sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch in Hessen könnten die exekutiven Vetorechte den dortigen Landesregierungen zumindest bei letzterem Problem hilfreich zur Seite springen. Die Landesregierung gewönne durch den suspensiven Hemmungseffekt nicht nur Zeit, anderweitige Mehrheiten zu kreieren oder einen öffentlichen Aufschrei gegen das Gesetz zu erzeugen. Vielmehr wird die Landesexekutive in die Lage versetzt, die Gesetzesmehrheit im Landtag erneut herausfordern. Schon für Nordrhein-Westfalen wäre es spannend zu sehen, inwieweit sich zumindest eine erneute einfache Mehrheit für das dann im Zentrum des öffentlichen Interesses stehende Gesetz finden ließe. Noch unsicherer wäre es wohl in Hessen, wo die absolute Mehrheit als Zurückweisungsquorum verpflichtend feststeht. In der Minderheitssituation kristallisiert sich somit heraus, dass die Landesvetorechte nicht nur geeignet sind, sog. „Dummheitsbeschlüssen“ vorzubeugen oder rechtliche Fehler bei der Gesetzgebung zu reduzieren. Eine Landesregierung, ohne eine sie tragende Mehrheit, könnte somit allein aus politischen Erwägungen Gesetze zunächst zeitlich verzögern und den Landtag des Weiteren dazu zwingen, erneut diesbezüglich ‚Farbe bekennen‛ zu müssen. Wenn es dann, insbesondere in Hessen, keine absolute Mehrheit für das Gesetz im Landtag gäbe, wäre dieses durch die exekutive Interzession endgültig verhindert. Das Gleiche gilt letztlich auch für Nordrhein-Westfalen. Sind alle Landtagsabgeordneten im Plenum anwesend, müsste die einfache Stimmenmehrheit nach Art. 44 Abs. 2 LV NRW de facto auch eine Absolute sein. Die Vetorechte stellen demzufolge gerade in der Minderheitskonstellation sicher, dass eine Landesregierung nicht zum Spielball des Parlaments werden muss. Eine Minderheitsregierung hat daher nicht nur die Möglichkeit, sich mit wechselnden Mehrheiten mittels jeweiliger Zugeständnisse beim Gesetzesinhalt über die parlamentarischen Hürden zu helfen. Die Vetorechte eröffnen ihr zudem auch noch den Weg, ‚feindseliges‛ Legislativgebaren zu retournieren. Es erstaunt also, dass die Dimension der Vetorechte immer nur auf ihre geringe Anwendungsfrequenz während der Mehrheitsregierungen, die die Standardregierungskonstellation der letzten 50 Jahre darstellte, heruntergebrochen wird. Hin- 1006 Zu Bedeutung und Umfang des Gesetzesvorrangs: Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein Kommentar zum Grundgesetz, Art. 20, Rn 70.

II. Vetoansatzpunkte in den Landesverfassungen gegen ihr Mehrwert für die Minderheitsvariante keine genügende Beachtung findet. Sicherlich kann man die Ansicht vertreten, dass sowohl das Grundgesetz als auch die Landesverfassungen stabile Regierung bevorzugen und daher zu forcieren suchen. 1007 In Anbetracht der gerade auch verfassungsrechtlich unfassbaren Zustände der späten Weimarer Republik und deren dramatischen Folgen erscheint politische Stabilität mittels Mehrheitsregierungen zweifelsohne auch als wünschenswert. Allerdings tut der deutsche Wähler den Parteien immer weniger den Gefallen, im Sinne der bisherigen politischen ‚Farbenlehre‛ zu wählen. Auf diesen Umstand weist auch Altbundespräsident Roman Herzog hin: Durch das Auftreten der ‚Linkspartei‛ 1008 als fünfte parlamentarische Kraft ergebe sich eine „fundamentale Veränderung unseres Regierungssystems“, schrieb Roman Herzog im März 2008 in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung 1009 , „ohne dass sich an den Vorschriften des Grundgesetzes und des Bundeswahlgesetzes etwas Wesentliches geändert hätte“. Nach der Analyse des früheren Staatsoberhaupts und Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts wird das Regieren in Deutschland in einem Fünf-Parteien-System immer schwieriger. Ohne Korrekturen drohe sich der Vertrauensschwund der Bürger gegenüber den bisherigen Volksparteien CDU/CSU und SPD fortzusetzen. Roman Herzog warnt: „Die Gefahr von Minderheitsregierungen wird wachsen, sei es, dass von Anfang an keine Koalition mit absoluter Mehrheit zustande kommt, sei es, dass eine solche Koalition auseinanderfällt“. Er führt weiter aus: „Ein Minderheitskanzler dürfte aber ein sehr schweres Leben haben.“ Im Ausland und besonders bei der Europäischen Union werde er „als lahme Ente gelten, deren Tage gezählt sind und mit der man keine langfristigen Projekte auf Kiel legt.“ Noch unangenehmer werde sich bemerkbar machen, „dass sich ein Minderheitskanzler für jedes Gesetz, das er für nötig hält, die erforderliche Mehrheit im Parlament zusammenbetteln muss, weil seine eigene Fraktion ja über keine ausreichende Mehrheit“ verfüge. Deshalb, so folgert R. Herzog, werde der Chef einer Minderheitsregierung „die unsinnigsten Kompromisse eingehen und die sachwidrigsten Kompensationsgeschäfte machen müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen“. Das Grundgesetz sei in seiner geltenden Fassung nicht geeignet, diese Probleme zu lösen, urteilt R. Herzog. Er plädierte daher dafür, eine breite Debatte über Korrekturen des deutschen Wahlsystems zu führen. Diese ohne weiteres auf das Parlamentarische System der Landesebene herunter zubrechende Analyse prophezeit eine Zunahme an Minderheitsregierungen. Die Herzogsche Lösung mittels einer Wahlrechtsänderung ist auf vielfältige Kritik gestoßen. 1010 Da die gesamte Debatte sowieso mehr oder weniger unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit der Exekutive geführt wird, hingegen die Ma- 1007 Was wohl aber nur mittels Verfassungsinterpretation und weniger basierend auf dem zu diesem Thema schweigenden Wortlaut des Grundgesetzes argumentierbar sein dürfte. 1008 Zum Eintritt der sich nach der Bundestagswahl 2005 auch in den Ländern etablierenden Partei „Die Linken“ in das gesamtdeutsche Parteienspektrum und deren Wurzeln als vormals ostdeutsche Milieupartei: Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 30. Januar 2008, S. 1 – „Durchbruch der Linkspartei“. 1009 Süddeutsche Zeitung, v. 6. März 2008, S. 6. 1010 Süddeutsche Zeitung v. 7. März 2008, S. 6. 363

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D. Vetos <strong>im</strong> aktuellen <strong>deutschen</strong> <strong>Verfassungssystem</strong><br />

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nicht auf eine eigene Beschlussmehrheit stützen kann, ist also nicht nur,<br />

dass sie nicht in der Lage ist, eigene Gesetzesprojekte durch den Landtag zu bringen.<br />

Vielmehr tritt ein Zweites hinzu: Eine Minderheitsregierung ist dem Legislativgebaren<br />

der Landeslegislative hilflos ausgesetzt. Der Vorrang des Gesetzes 1006<br />

würde die Landesregierung zur zwangsweisen Anwendung von ihr als falsch erachteter<br />

Gesetze nötigen und ihr zudem die politische Verantwortung für deren<br />

Administrierung aufzwingen.<br />

An dieser Stelle werden die Qualitäten der hessischen und nordrheinwestfälischen<br />

<strong>Vetorechte</strong> in ihrer ganzen D<strong>im</strong>ension offenbar. Sowohl in<br />

Nordrhein-Westfalen als auch in Hessen könnten die exekutiven <strong>Vetorechte</strong> den<br />

dortigen Landesregierungen zumindest bei letzterem Problem hilfreich zur Seite<br />

springen. Die Landesregierung gewönne durch den suspensiven Hemmungseffekt<br />

nicht nur Zeit, anderweitige Mehrheiten zu kreieren oder einen öffentlichen Aufschrei<br />

gegen das Gesetz zu erzeugen. Vielmehr wird die Landesexekutive in die<br />

Lage versetzt, die Gesetzesmehrheit <strong>im</strong> Landtag erneut herausfordern. Schon für<br />

Nordrhein-Westfalen wäre es spannend zu sehen, inwieweit sich zumindest eine<br />

erneute einfache Mehrheit für das dann <strong>im</strong> Zentrum des öffentlichen Interesses<br />

stehende Gesetz finden ließe. Noch unsicherer wäre es wohl in Hessen, wo die<br />

absolute Mehrheit als Zurückweisungsquorum verpflichtend feststeht.<br />

In der Minderheitssituation kristallisiert sich somit heraus, dass die Landesvetorechte<br />

nicht nur geeignet sind, sog. „Dummheitsbeschlüssen“ vorzubeugen oder<br />

rechtliche Fehler bei der Gesetzgebung zu reduzieren. Eine Landesregierung,<br />

ohne eine sie tragende Mehrheit, könnte somit allein aus politischen Erwägungen<br />

Gesetze zunächst zeitlich verzögern und den Landtag des Weiteren dazu zwingen,<br />

erneut diesbezüglich ‚Farbe bekennen‛ zu müssen. Wenn es dann, insbesondere in<br />

Hessen, keine absolute Mehrheit für das Gesetz <strong>im</strong> Landtag gäbe, wäre dieses<br />

durch die exekutive Interzession endgültig verhindert. Das Gleiche gilt letztlich<br />

auch für Nordrhein-Westfalen. Sind alle Landtagsabgeordneten <strong>im</strong> Plenum anwesend,<br />

müsste die einfache St<strong>im</strong>menmehrheit nach Art. 44 Abs. 2 LV NRW de<br />

facto auch eine Absolute sein. Die <strong>Vetorechte</strong> stellen demzufolge gerade in der<br />

Minderheitskonstellation sicher, dass eine Landesregierung nicht zum Spielball des<br />

Parlaments werden muss.<br />

Eine Minderheitsregierung hat daher nicht nur die Möglichkeit, sich mit wechselnden<br />

Mehrheiten mittels jeweiliger Zugeständnisse be<strong>im</strong> Gesetzesinhalt über<br />

die parlamentarischen Hürden zu helfen. Die <strong>Vetorechte</strong> eröffnen ihr zudem auch<br />

noch den Weg, ‚feindseliges‛ Legislativgebaren zu retournieren.<br />

Es erstaunt also, dass die D<strong>im</strong>ension der <strong>Vetorechte</strong> <strong>im</strong>mer nur auf ihre geringe<br />

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der letzten 50 Jahre darstellte, heruntergebrochen wird. Hin-<br />

1006 Zu Bedeutung und Umfang des Gesetzesvorrangs: Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein Kommentar zum<br />

Grundgesetz, Art. 20, Rn 70.

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