Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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360 D. Vetos im aktuellen deutschen Verfassungssystem torechte die Stellung der Volksvertretung an sich zu unterminieren versuchen. Es darf nämlich nicht das insbesondere für Hessen 1001 schon angedeutete Potential unterschätzt werden, welches Vetorechte für die Stabilisierung einer geschäftsführenden Landesregierung mitbringen. Über den Aspekt hinaus, dass die alte Landesregierung mangels Neuformierung einer sie ablösenden Exekutive fortbestehen könnte, weist der deutsche Parlamentarismus auch die originäre Möglichkeit auf, dass eine Regierung nicht über eine eigene parlamentarische Mehrheit verfügt. Es handelt sich in dieser Konstellation um eine sog. Minderheitsregierung 1002 . In Hessen ist deren Bildung, wie oben aufgezeigt, wegen des unabdingbaren Erfordernisses einer absoluten Mehrheit bei der Wahl des Ministerpräsidenten (Art. 101 Abs. 1 HV) als tendenziell erschwerter anzusehen als in Nordrhein-Westfalen. Dennoch haben die Geschehnisse und Abläufe nach der Landtagswahl im Januar 2008 gezeigt, dass auch diese Hürde bei entsprechenden politischen Konstellationen und ausreichend Fantasie genommen werden könnte. 1003 Die hessische Landesverfassung geht zwar im 1001 Nachdem in Hessen die Bildung einer von der Partei „Die Linken“ tolerierten rot-grünen Regierung mit der Verweigerung mindestens einer SPD-Landtagsabgeordneten gescheitert war, musste die vormalige CDU- Regierung auch über den Zusammentritt des neuen hessischen Landtags am 05. April 2008 hinaus geschäftsführend im Amt bleiben. Der damit ‚nur‛ noch geschäftsführende Ministerpräsident R. Koch sagte hierzu: „Es sei jetzt die Stunde des Parlaments“ (Vgl. „sueddeutsche.de v. 05. April 2008). Die maßgebliche Ursache für das Scheitern der Bildung einer neuen (Mehrheits-) Regierung, war in dem Unwillen der politischen Akteure zu suchen, die Grenzen des politischen Lagerdenkens zu überwinden. Weder die FDP fand sich bereit mit der SPD und den Grünen eine sog. ‚Ampelkoalition‛ zu bilden noch zeigten sich die Grünen bereit mit der CDU und FDP für eine sog. ‚Jamaikakoalition‛. Die bisherige Opposition, die de facto den hessischen Landtag nunmehr majorisierte, strebte in der Folge der gescheiterten gemeinsamen Regierungsbildung an, die geschäftsführende Landesregierung mit ihren zahlreichen Gesetzesanträgen, für welche sie politische Mehrheiten jenseits der CDU-Regierung vermutete, vor sich herzutreiben. Dazu der Grünen Fraktions- und Parteichef im hessischen Landtag: „…Die Grünen würden im neuen Wiesbadener Landtag nun versuchen, über einzelne Anträge Mehrheiten für ihre politischen Ziele zu finden. …“ (FAZ NET v. 07. März 2008). 1002 Zum Themenkreis der Minderheitsregierung allumfassend: Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz. 1003 Die schon oben im Kapitel D.II.2.c. beschriebenen sog. ‚Hessischen Verhältnisse‛ im Jahr 2008 hatten auch noch den Aspekt einer angestrebten Minderheitsregierung aus SPD und Grünen, toleriert durch die Partei „Die Linke“: Entgegen der Aussagen im Landtagswahlkampf 2008, dass es keine Zusammenarbeit mit der Partei „Die Linke“ in Hessen geben sollte, zeigte sich die Hessische SPD bereit, nach der Konstituierung des neuen Landtags ihre Parteivorsitzende und Spitzenkandidatin mit den Stimmen der Landtagsfraktionen von SPD, Grünen und der Partei „Die Linken“ zur Ministerpräsidentin wählen lassen, ohne das zwischen diesen drei Parteien eine Koalition bestanden hätte, auf deren Mehrheit diese Regierung hätte bauen können. Diese angestrebte Wahl sollte also nur auf einem (Minderheiten)Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen basieren. Als rechtfertigende Einlassung ließ die hessische SPD verlauten, sie hätte mit allen im Landtag vertretenen Parteien formale Koalitionsgespräche geführt, aber feststellen müssen, dass sich keine anderen Mehrheiten finden ließen und sie daher zu dem, zur damaligen Zeit im Raum stehenden Wortbruch, gezwungen sei. (Zu den politischen Aspekten des ‚Wortbruchs‛ der SPD gegenüber ihrem Wahlversprechen in den westdeutschen Ländern nicht mit der Partei „Die Linke“ zusammenarbeiten zu wollen: „Das Debakel der SPD“ in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, v. 09.03.2008 S. 6.). Dieses Vorgehen war nicht nur in der Landes-SPD, sondern bis in Bundes-SPD hinein hoch umstritten und brachte sogar den SPD-Bundesvorsitzenden in Bedrängnis. (Vgl. „Ypsilanti bereit zur Wahl durch Linkspartei“, in: FAZ NET v. 04. März 2008). Im Ergebnis scheiterte jenes Unterfangen jedoch daran, dass nicht die komplette SPD-Landtagsfraktion hinter diesem ersten passiven Tolerierungsbündnis in westdeutschen Bundesländern stand und die SPD- Ministerpräsidentenkandidatin somit nicht einmal in den ‚eigenen‛ Reihen eine Mehrheit für das avisierte Manöver mit der Partei „Die Linken“ sicherstellen konnte (Vgl. „Ypsilantis Mehrheit wackelt“, in: Süddeutsche Zei-

II. Vetoansatzpunkte in den Landesverfassungen Grundsatz davon aus, dass es keine Landesregierung geben kann, welche nicht über eine absolute Mehrheit im Landtag verfügt. Das ausdrückliche Verbot einer solchen Minderheitsregierung ist dem Verfassungswortlaut aber genauso wenig zu entnehmen. Wenn es die politischen Kräfte des Landtages also schaffen, mit absoluter Mehrheit einen Regierungschef zu wählen, dieser aber über keine dauerhaft sichergestellten und antizipierbaren Mehrheiten verfügt, entspricht das zwar nicht dem Grundgedanken der hessischen Verfassung, dennoch müsste eine solche Minderheitsregierung als existent hingenommen werden. Einfacher stellt sich die Bildung einer Minderheitsregierung in Nordrhein- Westfalen 1004 dar. In der mit Art. 63 Abs. 4 GG vergleichbaren Regelung in Art. 52 Abs. 2 LV NRW genügt einem Kandidaten in einem vierten Wahlgang bei der Ministerpräsidentenwahl die einfache Stimmenmehrheit. An dieser Stelle kann also festgehalten werden: Die Vetorechte aus Art. 119 HV und aus Art. 67 LV NRW treten zu den durch die Landesverfassungen einkalkulierten oder zumindest ermöglichten Minderheitskonstellationen hinzu. Interessanterweise ist es gerade eine solche Minderheitskonstellation, in welcher sich der Landtag als ein homogenes Gebilde darstellt, wo hingegen ein Mehrheitslandtag die Struktur eines heterogenen Konstrukts mit sich faktisch gegenüberstehenden, qualitativ höher- und minderwertigeren Mandaten ausweist: „…In der Parteiendemokratie gibt es kein grundsätzliches Gegenüber von Landesregierung und Landtag insgesamt, sondern nur von Mehrheit(skoalition) im Landtag und der von ihr getragenen Landesregierung einerseits und Opposition im Landtag andererseits. Die parlamentarische Kontrolle ist deshalb weitgehend Sache der Opposition und richtet sich zwangsläufig auch gegen die jeweilige Landtagsmehrheit. …“ 1005 Hingegen in der Situation einer fehlenden dauerhaften Mehrheitskohäsion in der Landeslegislative, die in der Lage wäre, die absolute Stimmenmehrheit pro Landesregierung einzusetzen, fehlt es gleichsam auch an den Verquickungen, welche zu einem kollusiven Zusammenwirken zwischen Landtag und Landesregierung führen. Dennoch kann die Situation eintreten, dass sich in Einzelfragen politische Mehrheiten im Landtag zusammen finden, welche in der Lage sind, Gesetze zu beschließen, die nicht den Initiativen und Vorstellungen der Landesregierung entsprechen. Solche Gesetze müssten von den Landesregierungen in Wiesbaden und Düsseldorf nicht nur ausgefertigt und verkündet werden, sondern auch admi- tung v. 7. März 2008, S. 1 & 4.; Vgl. „Ypsilanti gescheitert, Koch regiert weiter“, in: Süddeutsche Zeitung v. 8./9. März 2008, S. 1 & 2; „Linkes Experiment gescheitert: Ypsilanti gibt auf“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 08. März 2008, S. 1/2.). Zu den politischen Friktionen, welche durch die Unterstützungsverweigerung durch eine SPD- Landtagsabgeordnete ausgelöst worden sind: „Ypsilanti will doch noch Ministerpräsidentin werden“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 10. März 2008, S. 1/2; „Ein vor Wut schäumendes Tribunal“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 10. März 2008, S. 3; Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 12. März 2008, S. 1/2). 1004 Die Minderheitenkonstellation wurde für NRW am 14. Juli 2010 mit der Wahl von Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin einer rot-grünen Minderheitsregierung Realität. 1005 W. Schmidt, Verfassungsrecht, in: Meyer/Stolleis Staats- und Verwaltungsrecht für Hessen, S. 57. 361

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D. Vetos <strong>im</strong> aktuellen <strong>deutschen</strong> <strong>Verfassungssystem</strong><br />

torechte die Stellung der Volksvertretung an sich zu unterminieren versuchen. Es<br />

darf nämlich nicht das insbesondere für Hessen 1001 schon angedeutete Potential<br />

unterschätzt werden, welches <strong>Vetorechte</strong> für die Stabilisierung einer geschäftsführenden<br />

Landesregierung mitbringen.<br />

Über den Aspekt hinaus, dass die alte Landesregierung mangels Neuformierung<br />

einer sie ablösenden <strong>Exekutive</strong> fortbestehen könnte, weist der deutsche Parlamentarismus<br />

auch die originäre Möglichkeit auf, dass eine Regierung nicht über<br />

eine eigene parlamentarische Mehrheit verfügt. Es handelt sich in dieser Konstellation<br />

um eine sog. Minderheitsregierung 1002 . In Hessen ist deren Bildung, wie<br />

oben aufgezeigt, wegen des unabdingbaren Erfordernisses einer absoluten Mehrheit<br />

bei der Wahl des Ministerpräsidenten (Art. 101 Abs. 1 HV) als tendenziell<br />

erschwerter anzusehen als in Nordrhein-Westfalen. Dennoch haben die Geschehnisse<br />

und Abläufe nach der Landtagswahl <strong>im</strong> Januar 2008 gezeigt, dass auch diese<br />

Hürde bei entsprechenden politischen Konstellationen und ausreichend Fantasie<br />

genommen werden könnte. 1003 Die hessische Landesverfassung geht zwar <strong>im</strong><br />

1001 Nachdem in Hessen die Bildung einer von der Partei „Die Linken“ tolerierten rot-grünen Regierung mit der<br />

Verweigerung mindestens einer SPD-Landtagsabgeordneten gescheitert war, musste die vormalige CDU-<br />

Regierung auch über den Zusammentritt des neuen hessischen Landtags am 05. April 2008 hinaus geschäftsführend<br />

<strong>im</strong> Amt bleiben. Der damit ‚nur‛ noch geschäftsführende Ministerpräsident R. Koch sagte hierzu: „Es sei<br />

jetzt die Stunde des Parlaments“ (Vgl. „sueddeutsche.de v. 05. April 2008).<br />

Die maßgebliche Ursache für das Scheitern der Bildung einer neuen (Mehrheits-) Regierung, war in dem Unwillen<br />

der politischen Akteure zu suchen, die Grenzen des politischen Lagerdenkens zu überwinden. Weder die<br />

FDP fand sich bereit mit der SPD und den Grünen eine sog. ‚Ampelkoalition‛ zu bilden noch zeigten sich die<br />

Grünen bereit mit der CDU und FDP für eine sog. ‚Jamaikakoalition‛. Die bisherige Opposition, die de facto den<br />

hessischen Landtag nunmehr majorisierte, strebte in der Folge der gescheiterten gemeinsamen Regierungsbildung<br />

an, die geschäftsführende Landesregierung mit ihren zahlreichen Gesetzesanträgen, für welche sie politische<br />

Mehrheiten jenseits der CDU-Regierung vermutete, vor sich herzutreiben. Dazu der Grünen Fraktions- und<br />

Parteichef <strong>im</strong> hessischen Landtag: „…Die Grünen würden <strong>im</strong> neuen Wiesbadener Landtag nun versuchen, über einzelne<br />

Anträge Mehrheiten für ihre politischen Ziele zu finden. …“ (FAZ NET v. 07. März 2008).<br />

1002 Zum Themenkreis der Minderheitsregierung allumfassend: Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz.<br />

1003 Die schon oben <strong>im</strong> Kapitel D.II.2.c. beschriebenen sog. ‚Hessischen Verhältnisse‛ <strong>im</strong> Jahr 2008 hatten auch<br />

noch den Aspekt einer angestrebten Minderheitsregierung aus SPD und Grünen, toleriert durch die Partei „Die<br />

Linke“: Entgegen der Aussagen <strong>im</strong> Landtagswahlkampf 2008, dass es keine Zusammenarbeit mit der Partei „Die<br />

Linke“ in Hessen geben sollte, zeigte sich die Hessische SPD bereit, nach der Konstituierung des neuen Landtags<br />

ihre Parteivorsitzende und Spitzenkandidatin mit den St<strong>im</strong>men der Landtagsfraktionen von SPD, Grünen und<br />

der Partei „Die Linken“ zur Ministerpräsidentin wählen lassen, ohne das zwischen diesen drei Parteien eine<br />

Koalition bestanden hätte, auf deren Mehrheit diese Regierung hätte bauen können. Diese angestrebte Wahl<br />

sollte also nur auf einem (Minderheiten)Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen basieren. Als rechtfertigende<br />

Einlassung ließ die hessische SPD verlauten, sie hätte mit allen <strong>im</strong> Landtag vertretenen Parteien formale<br />

Koalitionsgespräche geführt, aber feststellen müssen, dass sich keine anderen Mehrheiten finden ließen und sie<br />

daher zu dem, zur damaligen Zeit <strong>im</strong> Raum stehenden Wortbruch, gezwungen sei. (Zu den politischen Aspekten<br />

des ‚Wortbruchs‛ der SPD gegenüber ihrem Wahlversprechen in den west<strong>deutschen</strong> Ländern nicht mit der Partei<br />

„Die Linke“ zusammenarbeiten zu wollen: „Das Debakel der SPD“ in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,<br />

v. 09.03.2008 S. 6.). Dieses Vorgehen war nicht nur in der Landes-SPD, sondern bis in Bundes-SPD hinein hoch<br />

umstritten und brachte sogar den SPD-Bundesvorsitzenden in Bedrängnis. (Vgl. „Ypsilanti bereit zur Wahl durch<br />

Linkspartei“, in: FAZ NET v. 04. März 2008).<br />

Im Ergebnis scheiterte jenes Unterfangen jedoch daran, dass nicht die komplette SPD-Landtagsfraktion hinter<br />

diesem ersten passiven Tolerierungsbündnis in west<strong>deutschen</strong> Bundesländern stand und die SPD-<br />

Ministerpräsidentenkandidatin somit nicht einmal in den ‚eigenen‛ Reihen eine Mehrheit für das avisierte Manöver<br />

mit der Partei „Die Linken“ sicherstellen konnte (Vgl. „Ypsilantis Mehrheit wackelt“, in: Süddeutsche Zei-

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