Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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342 D. Vetos im aktuellen deutschen Verfassungssystem der Gewichtsverteilung zwischen Landtag und Landesregierung wiederum folgendes zu lesen ist: „…In diesen wie anderen Vorschriften der HV zeigt sich deren Bemühen, einen deutlichen Vorrang des Parlaments vor der Landesregierung zu konstituieren, eine Anstrengung des Verfassungstextes, dessen normative Kraft sich bei der Verfassungsverwirklichung in einer bundesstaatlich organisierten Parteiendemokratie als zu gering erweisen mußte. …“ 973 Diese Analyse der Machtverteilung zwischen Legislative und Exekutive bedarf nicht nur, wie schon von ihr selber vorgenommenen, Relativierung aufgrund normativ-faktischer Kräfte der Parteiendemokratie, sondern Relativierung erscheint auch geboten aufgrund verfassungspolitischer Möglichkeiten, wie sie die hessische Landesverfassung mit ihrer besonderen Nuance einer ‚geschäftsführenden Landesregierung‛ 974 , basierend auf den doppelten Vertrauenserklärungen (Art.101 Abs. 1 und 4 HV), bietet. 975 Im Zusammenspiel mit Art. 119 HV eröffnen sich einer Landesregierung durchaus realistische Möglichkeiten, den Willen der Legislative zu untergraben, weitestgehend zu sabotieren oder zumindest gegenläufige Tendenzen zu protegieren. Diese näher zu betrachtende Besonderheit der hessischen Landesverfassung stellt auch keine rein akademische Verfassungsdiskussion dar, sondern war bereits 1982 unter dem damaligen Ministerpräsidenten Börner für fast zwei Jahre hessische Verfassungsrealität. 976 Erstaunlicher Weise wurden die potentiellen Einsatz- 973 So explizit für der Beschreibung des Hessischen Verfassungsrechts zu finden bei: W. Schmidt, Verfassungsrecht, in: Meyer/Stolleis Staats- und Verwaltungsrecht für Hessen, S. 57. 974 Die Besonderheiten der hessischen Verfassungskonstruktion einer ‚geschäftsführenden Landesregierung‛, die nach einer Neukonstituierung des Landtags und trotz des pflichtgemäßen Rücktritts der „alten“ Landesregierung (Art. 113 Abs. 2 HV) weiterhin im Amt bleibt, bis ein neuer Ministerpräsident vom Landtag gewählt wurde (Art. 101 Abs. 1 HV) und sowohl dieser als auch seine Minister einen dezidierten Vertrauensbeschluss des Landtages erfahren haben (Art. 113 Abs. 1 HV), lassen sich wie folgt zusammenfassen: Grundsätzliches Ziel von geschäftsführenden Regierungen ist es, ein Interregnum zu vermeiden. Ein Land muss auch nach dem Ende einer Wahlperiode nach innen und außen handlungsfähig bleiben. Daher kennt nicht nur das Grundgesetz in Art. 69 Abs. 3 GG eine geschäftsführende Bundesregierung, sondern auch die Landesverfassungen, wie in Hessen Art. 113 Abs. 3 HV, weisen dieses Institut auf. Aus ihrer mit dem Amtseid eingegangen staatspolitischen Verpflichtung heraus, sind die Regierungsmitglieder somit auch nach dem Ende der Amtszeit, bis zur Neuwahl und Ernennung der Nachfolgeregierung zur Weiterführung der Amtsgeschäfte verpflichtet. Die Pflicht und Befugnis leitet sich dabei nicht vom aktuell gewählten Parlament ab, sondern es handelt sich um Nachwirkungen früheren Vertrauens. Daher kann die geschäftsführende Regierung weder mittels Misstrauensvotum abgelöst werden noch selber die Vertrauensfrage stellen. Für das Letztere ist dies damit zu begründen, dass die geschäftsführende Regierung gar nicht über das Vertrauen des aktuellen Parlaments verfügt. Des Weiteren würde ein Misstrauensvotum keinen Sinn machen, da der Regierung nie das Vertrauen durch das derzeit gewählte Parlament ausgesprochen wurde und überdies die Regierung bis zur Neuwahl eines anderen Regierungschefs dennoch weiterhin geschäftsführend im Amt verbliebe. Eine geschäftsführende Landesregierung hat die gleichen verfassungsrechtlichen Kompetenzen wie eine mit Vertrauenswahl generierte Exekutive und amtiert solange, bis eine neue Regierung auf verfassungsmäßige Weise ihr Amt antritt. – Basierend auf: R. Groß, DÖV 1982, 1008 ff. 975 Gleiche Annahmen können auch für den ‚regulären‛ Fall einer Minderheitsregierung gelten. 976 Holger Börner (SPD) war vom 01. Dez. 1982 bis zum 07. Juni 1984 geschäftsführender Ministerpräsident des Landes Hessen. Die politischen Verwerfungen, welche nach der hessischen Landtagswahl v. 26.09.1982 zu den damals als „hessische Verhältnisse“ bezeichneten Konstellationen führten, beschreibt R. Groß, DÖV 1982, 1008 (1008).

II. Vetoansatzpunkte in den Landesverfassungen chancen von Art. 119 HV im Rahmen der Konstellation von 1982 nicht substantiiert gewürdigt. 977 Jedoch im Jahr 2008 nach der Landtagswahl vom 27. Januar mit dem erstmaligen Parlamentseintritt der Partei „Die Linke“ entstand eine politische Konstellation 978 , die den Boden für eine ‚geschäftsführende Landesregierung‛ im Stile von 1982 bot und gleichsam das Einsatzfeld des Art. 119 HV eröffnete. Zu der Neujustierung der politischen Gemengelage gesellte sich zudem eine unproduktive Festgefahrenheit und Verbohrtheit der politischen Lager in inhaltlichen Fragen und persönlichem Umgang. 979 Vor diesem Hintergrund gestaltete sich die Bildung einer Mehrheitsregierung als schwierig. Nach dem pflichtgemäßen Rücktritt der bis zur Landtagswahl allein regierenden CDU-Landesregierung auf der konstituierenden Sitzung des neuen hessischen Landtags am 05. April 2008 fand mangels antretenden Kandidaten keine Neuwahl des Ministerpräsidenten statt. Die alte Landesregierung unter dem Ministerpräsidenten Roland Koch wirkte daher als nunmehr ‚geschäftsführende Landesregierung‛ weiter. 980 977 Diese Feststellung gilt auch für R. Groß, in: DÖV 1982, 1008 ff. In dieser sehr umfangreichen und interessanten verfassungsrechtlichen Exegese über Umfang und Befugnisse einer ‚geschäftsführenden Landesregierung‛ fehlt die Darstellung der Möglichkeiten, welche dieser Landesregierung durch die Norm des Art. 119 HV erwachsen. 978 Nach dem offiziellen amtlichen Endergebnis des Landeswahlleiters entfielen von den 110 möglichen Landtagssitzen jeweils 42 auf CDU und SPD, 11 auf die FDP, 9 auf die Grünen und 6 auf die Partei „Die Linke“. Die rechnerische Mehrheit aus SPD, Grünen und der „Linken“ war politisch nicht umsetzbar. Was insbesondere auch daran lag, dass die SPD Spitzenkandidatin nicht alle Mandatsträger ihrer Fraktion für die Wahl einer von der Partei „Die Linke“ tolerierten Landesregierung überzeugen konnte. 979 Die Unwilligkeit der arrivierten Parteien mit dem jeweils anderen politischen Lager zusammen zu arbeiten glich der Situation von 1982. Aus dieser Zeit war der Spruch des damaligen amtierenden Ministerpräsidenten Börner überliefert: „Ich gehe lieber in den Wald, dort ist es auch grün“. Im Jahr 2008 war die Situation ähnlich festgefahren: Die hessische FDP wollte nur mit der CDU, nicht aber mit der SPD und den Grünen koalieren. Ebenso wurde von den Grünen eine Koalition mit der CDU ausgeschlossen. Dies führte zu der faktischen Konstellation, dass keine der beiden großen Volksparteien ihren Anspruch einer Regierungsbildung mit einer parlamentarischen Mehrheit untermauern konnte – Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 13. März 2008, S. 2. 980 Im Rahmen der konstituierenden Landtagssitzung stellte sich mangels sicherer Mehrheiten weder der amtierende Regierungschef von der CDU noch seine Herausforderin von der SPD zur Ministerpräsidentenwahl. Die diesbezügliche verfassungspolitische Situation in Hessen vor der konstituierenden Landtagssitzung am 05. April 2008 wird beschrieben in: FAZ NET v. 14. März 2008, „Roland Koch: Chef im Machtvakuum“; FAZ NET, v. 21. März 2008, „Ewige Regierung – und ihre Endlichkeit“. Zudem erfuhr diese zu den sog. ‚Hessischen Verhältnissen‛ avancierte Konstellation kurz vor einem im November 2008 avisierten neuen Anlauf für die Wahl der SPD-Spitzenkandidatin zur Ministerpräsidentin noch eine weitere Wendung: Am 03. November 2008 erfuhr Andrea Ypsilanti, dass, trotz vorher anders lautender Bekundungen, ihr insgesamt vier Abgeordnete der SPD-Fraktion bei der für den 04. November angesetzten Ministerpräsidentenwahl im Landtag von Hessen die Stimme verweigern würden. Hieraufhin wurde auch diese Ministerpräsidentenwahl von der Tagesordnung abgesetzt. Um einen Überblick über die ‚Hessischen Verhältnisse‛ in den Monaten um und zwischen den beiden avisierten Ministerpräsidentenwahlen im Hessischen Landtag im Jahr 2008 zu bekommen, sei verwiesen auf die hier ausgewählten Beiträge in der deutschen Tagespresse, durch welche auch ein Einblick in die politische Dramaturgie jener Monate eröffnet wird: FAZ NET, v. 03. März 2008, „Wortbruch kann viele Facetten haben“; FAZ NET, v. 05. März 2008, „Das war fürs Schaufenster“; FAZ NET, v. 06. März 2008, „Mit spitzen Fingern“; FAZ NET, v. 07. März 2008, „Rot-Rot- Grün ist tot“, „Dagmar Metzger bleibt bei ihrem Nein“; FAS, v. 09. März 2008, „Das Debakel der SPD“; FAZ NET, v. 05. April 2008, „Koch tritt zurück – und bleibt im Amt“; Süddeutsche Zeitung, v. 05./06. April 2008, S. 6, „Neue Sanftheit in Wiesbaden“; sueddeutsche.de, v. 05. April 2008, „Koch verspricht offene Türen“; Süddeutsche Zeitung, v. 07. April 2008, „Ich habe meiner Partei nicht geschadet“; FAZ NET, v. 10. April 2008, „Das hat 343

II. Vetoansatzpunkte in den Landesverfassungen<br />

chancen von Art. 119 HV <strong>im</strong> Rahmen der Konstellation von 1982 nicht substantiiert<br />

gewürdigt. 977 Jedoch <strong>im</strong> Jahr 2008 nach der Landtagswahl vom 27. Januar mit<br />

dem erstmaligen Parlamentseintritt der Partei „Die Linke“ entstand eine politische<br />

Konstellation 978 , die den Boden für eine ‚geschäftsführende Landesregierung‛ <strong>im</strong><br />

Stile von 1982 bot und gleichsam das Einsatzfeld des Art. 119 HV eröffnete. Zu<br />

der Neujustierung der politischen Gemengelage gesellte sich zudem eine unproduktive<br />

Festgefahrenheit und Verbohrtheit der politischen Lager in inhaltlichen<br />

Fragen und persönlichem Umgang. 979 Vor diesem Hintergrund gestaltete sich die<br />

Bildung einer Mehrheitsregierung als schwierig. Nach dem pflichtgemäßen Rücktritt<br />

der bis zur Landtagswahl allein regierenden CDU-Landesregierung auf der<br />

konstituierenden Sitzung des neuen hessischen Landtags am 05. April 2008 fand<br />

mangels antretenden Kandidaten keine Neuwahl des Ministerpräsidenten statt.<br />

Die alte Landesregierung unter dem Ministerpräsidenten Roland Koch wirkte<br />

daher als nunmehr ‚geschäftsführende Landesregierung‛ weiter. 980<br />

977 Diese Feststellung gilt auch für R. Groß, in: DÖV 1982, 1008 ff. In dieser sehr umfangreichen und interessanten<br />

verfassungsrechtlichen Exegese über Umfang und Befugnisse einer ‚geschäftsführenden Landesregierung‛<br />

fehlt die Darstellung der Möglichkeiten, welche dieser Landesregierung durch die Norm des Art. 119 HV erwachsen.<br />

978 Nach dem offiziellen amtlichen Endergebnis des Landeswahlleiters entfielen von den 110 möglichen Landtagssitzen<br />

jeweils 42 auf CDU und SPD, 11 auf die FDP, 9 auf die Grünen und 6 auf die Partei „Die Linke“. Die<br />

rechnerische Mehrheit aus SPD, Grünen und der „Linken“ war politisch nicht umsetzbar. Was insbesondere<br />

auch daran lag, dass die SPD Spitzenkandidatin nicht alle Mandatsträger ihrer Fraktion für die Wahl einer von der<br />

Partei „Die Linke“ tolerierten Landesregierung überzeugen konnte.<br />

979 Die Unwilligkeit der arrivierten Parteien mit dem jeweils anderen politischen Lager zusammen zu arbeiten<br />

glich der Situation von 1982. Aus dieser Zeit war der Spruch des damaligen amtierenden Ministerpräsidenten<br />

Börner überliefert: „Ich gehe lieber in den Wald, dort ist es auch grün“.<br />

Im Jahr 2008 war die Situation ähnlich festgefahren: Die hessische FDP wollte nur mit der CDU, nicht aber mit<br />

der SPD und den Grünen koalieren. Ebenso wurde von den Grünen eine Koalition mit der CDU ausgeschlossen.<br />

Dies führte zu der faktischen Konstellation, dass keine der beiden großen Volksparteien ihren Anspruch<br />

einer Regierungsbildung mit einer parlamentarischen Mehrheit untermauern konnte – Vgl. Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung, v. 13. März 2008, S. 2.<br />

980 Im Rahmen der konstituierenden Landtagssitzung stellte sich mangels sicherer Mehrheiten weder der amtierende<br />

Regierungschef von der CDU noch seine Herausforderin von der SPD zur Ministerpräsidentenwahl.<br />

Die diesbezügliche verfassungspolitische Situation in Hessen vor der konstituierenden Landtagssitzung am 05.<br />

April 2008 wird beschrieben in: FAZ NET v. 14. März 2008, „Roland Koch: Chef <strong>im</strong> Machtvakuum“; FAZ<br />

NET, v. 21. März 2008, „Ewige Regierung – und ihre Endlichkeit“.<br />

Zudem erfuhr diese zu den sog. ‚Hessischen Verhältnissen‛ avancierte Konstellation kurz vor einem <strong>im</strong> November<br />

2008 avisierten neuen Anlauf für die Wahl der SPD-Spitzenkandidatin zur Ministerpräsidentin noch eine<br />

weitere Wendung: Am 03. November 2008 erfuhr Andrea Ypsilanti, dass, trotz vorher anders lautender Bekundungen,<br />

ihr insgesamt vier Abgeordnete der SPD-Fraktion bei der für den 04. November angesetzten Ministerpräsidentenwahl<br />

<strong>im</strong> Landtag von Hessen die St<strong>im</strong>me verweigern würden. Hieraufhin wurde auch diese Ministerpräsidentenwahl<br />

von der Tagesordnung abgesetzt.<br />

Um einen Überblick über die ‚Hessischen Verhältnisse‛ in den Monaten um und zwischen den beiden avisierten<br />

Ministerpräsidentenwahlen <strong>im</strong> Hessischen Landtag <strong>im</strong> Jahr 2008 zu bekommen, sei verwiesen auf die hier ausgewählten<br />

Beiträge in der <strong>deutschen</strong> Tagespresse, durch welche auch ein Einblick in die politische Dramaturgie<br />

jener Monate eröffnet wird:<br />

FAZ NET, v. 03. März 2008, „Wortbruch kann viele Facetten haben“; FAZ NET, v. 05. März 2008, „Das war<br />

fürs Schaufenster“; FAZ NET, v. 06. März 2008, „Mit spitzen Fingern“; FAZ NET, v. 07. März 2008, „Rot-Rot-<br />

Grün ist tot“, „Dagmar Metzger bleibt bei ihrem Nein“; FAS, v. 09. März 2008, „Das Debakel der SPD“; FAZ<br />

NET, v. 05. April 2008, „Koch tritt zurück – und bleibt <strong>im</strong> Amt“; Süddeutsche Zeitung, v. 05./06. April 2008, S.<br />

6, „Neue Sanftheit in Wiesbaden“; sueddeutsche.de, v. 05. April 2008, „Koch verspricht offene Türen“; Süddeutsche<br />

Zeitung, v. 07. April 2008, „Ich habe meiner Partei nicht geschadet“; FAZ NET, v. 10. April 2008, „Das hat<br />

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