Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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298 D. Vetos im aktuellen deutschen Verfassungssystem Aber wenn wir nun einmal auf Grund der politischen Entwicklung und der Entscheidung des Wählers vor der Alternative stehen: eine breite Mehrheit, die nicht in der Lage ist, wegen der inneren politischen Widersprüche der sie tragenden Parteien eine konsequente Regierungspolitik zu betreiben, oder eine knappe Mehrheit mit einem geschlossenen Programm, dann ist im Sinne einer funktionsfähigen Demokratie und um der klaren Alternative willen die knappe Mehrheit mit der klaren Politik vorzuziehen. […] Ihre Aussage man könne nicht auf Dauer gegen die stärkste Fraktion regieren, ist entweder ein moralischer Appell – dann geht er an dem wesentlichen politischen Gehalt vorbei, daß nämlich Mehrheiten kein Selbstzweck sind, sondern dazu da sind, eine bestimmte Politik zu realisieren – oder sie ist eine empirische Aussage, dann ist sie falsch. Abg. Brandes (CDU): […] …das, was hier heute geschieht, ist in keiner Weise ein Anlaß, so zu tun, als ob dieses Parlament keine politische Einrichtung, sondern eine moralische Anstalt wäre. So wird hier aber getan. Meine Damen und Herren, wir sind keine moralische Anstalt, sondern ein politisches Parlament. Was hier geschieht, hat der Verfassungsgesetzgeber vor vielen Jahren vorausbedacht, und davon hat die Landesregierung Gebrauch gemacht. Damit hätten wir es eigentlich bewenden sein lassen können, ohne uns Vorwürfe zu machen. Ich bin aber dem Ministerpräsidenten außerordentlich dankbar dafür, daß er in dieser – ich möchte beinahe sagen – gänzlich schief erhitzten Atmosphäre klar zum Ausdruck gebracht hat, daß nun in der Zwischenzeit, in diesen 30 Tagen, dieses oder jenes bedacht werden soll. […] …Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger Zustand, wenn wir hier von moralischen Verpflichtungen und Unwürdigkeiten sprechen in einer Angelegenheit, die verfassungsmäßig geregelt ist, durchaus sinnvoll geregelt? Herr …, das Wort „unwürdig“, das Sie vorhin gebraucht haben, war, gelinde gesagt, unangemessen. […] Wieso ist irgendein Abgeordneter dieses Hauses in der Lage oder auch nur berechtigt, einer Angelegenheit zuzustimmen, weil auf der anderen Seite jemand krank geworden ist? Das hat gar nichts mit „würdig“ oder mit „moralisch“ zu tun, sondern das hat etwas zu tun mit den Pflichten und Aufgaben einer Opposition und dem Gewissen des einzelnen Abgeordneten! Wir können nicht, was wir heute für falsch halten, heute gutheißen, weil auf Ihrer Seite jemand krank geworden ist, was wir bedauern. Darum geht es. Das ist nicht würdig, sondern das ist die Wahrnehmung parlamentarischer Pflichten, wie sie geboten ist. Nach 30 Tagen Aussetzung des Gesetzesbeschlusses kam es am 19. Juni 1975 zur abschließenden dritten Beratung und Schlussabstimmung zum ‚Haushaltsfeststel-

II. Vetoansatzpunkte in den Landesverfassungen lungsgesetz 1975‛ 846. Die oppositionelle CDU-Fraktion nutzte diese Gelegenheit zu einer grundsätzlichen Stellungnahme zur Verfassungsbestimmung Art. 33 Abs. 2 VNV und deren Zukunft. Diese blieb durch die Regierungsfraktionen nicht unbeantwortet: Abg. Hasselmann (CDU): […] Die parlamentarische Situation, in der Sie sich bei den letzten Landtagssitzungen befunden haben, meine Damen und Herren von der Koalition, ist nicht von uns herbeigeführt worden, sie ist auch nicht von uns zu vertreten. […] Wer glaubt, gegen die stärkste Partei in diesem Hause regieren zu können, der kann der Opposition nicht zumuten für die Situation zu sorgen, über die man selbst nicht verfügen kann. […] In der letzten Landtagssitzung hat der Ministerpräsident den Artikel 33 unserer Landesverfassung in Anspruch genommen. Er wollte damit die Ablehnung des Etats verhindern. Mit der Inanspruchnahme des Artikels 33 hat Herr Kubel öffentlich deutlich gemacht, wie labil die Mehrheit ist, auf die sich seine Regierung stützen kann. In den letzten Wochen gab es Anlaß darüber nachzudenken, ob der Artikel 33 noch in die Landschaft paßt. Wenn ich die Dinge richtig sehe, Herr Kubel, ist dieser Artikel geschaffen worden, damit die Regierung ein Instrument in der Hand hat, um dem Parlament deutlich zu machen, daß Beschlüsse nicht gefaßt werden sollten, weil die Regierung z.B. die besseren Kenntnisse hat. Wenn uns die Regierung […] beispielsweise sagt, diese oder jene Geldbeträge seien nicht mehr da und könnten nicht mehr ausgegeben werden, dann dürfen wir keine Beschlüsse fassen, um diese Mittel doch auszugeben. Das ist der eigentliche Punkt, nicht der andere. Ich sage nur, daß man darüber nachdenken muß, kann und sollte, ob dieser Artikel noch in die heutige Landschaft paßt. Zwischenruf aus der SPD-Fraktion: Wollen Sie eine Verfassungsänderung? – Ich glaube, es gibt keine andere Möglichkeit. Soweit sind wir aber noch nicht. Ich stelle auch keinen Antrag in dieser Richtung. Zunächst muß man einmal darüber nachdenken, wofür dieser Artikel eigentlich vorgesehen war. […] Abg. Hedergott (FDP): […] Wenn Sie von Verfassungsartikeln sprechen, die möglicherweise daraufhin überprüft werden sollten, ob sie nicht obsolet geworden sind, ob man sie noch anwenden sollte, so gibt auch das für den vorliegenden Fall gar nichts her. Nehmen wir einmal an, die Landesregierung hätte von dem Artikel 33 bei der letzten Sitzung keinen Gebrauch gemacht; dann wäre die Situation nicht anders als beim Schulgesetz, das wir heute in zweiter und dritter Lesung verabschieden werden. 846 Aus: Nds. LT-Protokoll 24. Sitzung v. 19. Juni 1975, S. 2301 ff. 299

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D. Vetos <strong>im</strong> aktuellen <strong>deutschen</strong> <strong>Verfassungssystem</strong><br />

Aber wenn wir nun einmal auf Grund der politischen Entwicklung und der Entscheidung des<br />

Wählers vor der Alternative stehen: eine breite Mehrheit, die nicht in der Lage ist, wegen der<br />

inneren politischen Widersprüche der sie tragenden Parteien eine konsequente Regierungspolitik<br />

zu betreiben, oder eine knappe Mehrheit mit einem geschlossenen Programm, dann ist <strong>im</strong> Sinne<br />

einer funktionsfähigen Demokratie und um der klaren Alternative willen die knappe Mehrheit<br />

mit der klaren Politik vorzuziehen.<br />

[…]<br />

Ihre Aussage man könne nicht auf Dauer gegen die stärkste Fraktion regieren, ist entweder ein<br />

moralischer Appell – dann geht er an dem wesentlichen politischen Gehalt vorbei, daß nämlich<br />

Mehrheiten kein Selbstzweck sind, sondern dazu da sind, eine best<strong>im</strong>mte Politik zu realisieren<br />

– oder sie ist eine empirische Aussage, dann ist sie falsch.<br />

Abg. Brandes (CDU):<br />

[…]<br />

…das, was hier heute geschieht, ist in keiner Weise ein Anlaß, so zu tun, als ob dieses Parlament<br />

keine politische Einrichtung, sondern eine moralische Anstalt wäre. So wird hier aber<br />

getan.<br />

Meine Damen und Herren, wir sind keine moralische Anstalt, sondern ein politisches Parlament.<br />

Was hier geschieht, hat der Verfassungsgesetzgeber vor vielen Jahren vorausbedacht, und<br />

davon hat die Landesregierung Gebrauch gemacht. Damit hätten wir es eigentlich bewenden sein<br />

lassen können, ohne uns Vorwürfe zu machen.<br />

Ich bin aber dem Ministerpräsidenten außerordentlich dankbar dafür, daß er in dieser – ich<br />

möchte beinahe sagen – gänzlich schief erhitzten Atmosphäre klar zum Ausdruck gebracht hat,<br />

daß nun in der Zwischenzeit, in diesen 30 Tagen, dieses oder jenes bedacht werden soll.<br />

[…]<br />

…Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger Zustand, wenn wir hier von moralischen Verpflichtungen<br />

und Unwürdigkeiten sprechen in einer Angelegenheit, die verfassungsmäßig geregelt<br />

ist, durchaus sinnvoll geregelt? Herr …, das Wort „unwürdig“, das Sie vorhin gebraucht haben,<br />

war, gelinde gesagt, unangemessen.<br />

[…]<br />

Wieso ist irgendein Abgeordneter dieses Hauses in der Lage oder auch nur berechtigt, einer<br />

Angelegenheit zuzust<strong>im</strong>men, weil auf der anderen Seite jemand krank geworden ist? Das hat<br />

gar nichts mit „würdig“ oder mit „moralisch“ zu tun, sondern das hat etwas zu tun mit den<br />

Pflichten und Aufgaben einer Opposition und dem Gewissen des einzelnen Abgeordneten!<br />

Wir können nicht, was wir heute für falsch halten, heute gutheißen, weil auf Ihrer Seite jemand<br />

krank geworden ist, was wir bedauern. Darum geht es. Das ist nicht würdig, sondern das ist die<br />

Wahrnehmung parlamentarischer Pflichten, wie sie geboten ist.<br />

Nach 30 Tagen Aussetzung des Gesetzesbeschlusses kam es am 19. Juni 1975 zur<br />

abschließenden dritten Beratung und Schlussabst<strong>im</strong>mung zum ‚Haushaltsfeststel-

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