Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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212 D. Vetos im aktuellen deutschen Verfassungssystem so gut wie nie antizipieren, wann für den Bundespräsidenten der Rubikon der Verfassungswidrigkeit überschritten ist. Obwohl dem Bundespräsidenten durch das Grundgesetz jegliche inhaltliche Teilnahme am Gesetzgebungsverfahren verwehrt bleibt, müssen die Regierung und ihre Mehrheit prophylaktisch seinen Willen inkludieren, um nicht zum Schluss als handlungsunfähig dazustehen. Infolgedessen müssen die Koalitionsfraktionen und die federführende Regierung schon im Vorfeld des Gesetzesbeschlusses die verfassungsrechtlichen Mahnungen und Einwürfe des Bundespräsidenten würdigen, um nicht Gefahr zu laufen, das Gesetz zum Schluss zu verlieren. 614 Der deutsche Wähler verzeiht einer Bundesregierung viel, aber nicht die Handlungsunfähigkeit. 615 Dadurch, dass eine Bundesregierung dies stetig einkalkulieren wird müssen, erlangt die verfassungsrechtliche Sichtweise der Bundespräsidenten schon im Gesetzgebungsverfahren Relevanz, da die Regierung und das Mehrheitsparlament sich daran orientieren müssen. In der Folge sind die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen gezwungen, die verfassungsrechtliche Sichtweise des Präsidenten in den Gesetzgebungsvorgang einzuflechten. Insbesondere problematisch erscheint dies, wenn offenkundig ist, dass der Bundespräsident einem Gesetzgebungsvorhaben schon politisch negativ gegenübersteht und seine verfassungsrechtliche Argumentation nur vorgeschoben sein könnte. 616 614 Für derartige Befürchtungen bieten die Reaktionen aus dem politischen Raum nach der zweiten Ausfertigungsverweigerung durch Bundespräsident Horst Köhler mehr als nur begründeten Anlass. Nachdem Bundespräsidenten Köhler im Jahr 2006 nicht nur das „Gesetz zur Teilprivatisierung der Flugsicherung“ stoppte, sondern kurze Zeit später auch noch das „Verbraucherinformationsgesetz“ befürchteten die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen im Bundestag, welche beide Gesetze auf Initiative der Bundesregierung beschlossen hatten, dass weitere zentrale Gesetzesvorhaben der ‚Großen Koalition‛ unter Bundeskanzlerin Merkel durch den Bundespräsidenten gestoppt werden könnten. Insbesondere die geplante Gesundheitsreform (Vgl. FAZ-NET v. 06.10.2006), aber auch das Gesetz zur Kostenübernahme der Unterbringung hilfsbedürftiger Langezeitarbeitsloser (KdU) wurde schon während des Zustimmungsverfahrens im Bundesrat wegen der Ungleichverteilung der Finanzmittel zwischen den Bundesländern für vermeintlich verfassungswidrig gehalten (Vgl. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 17. Dez. 2006, S. 2) [Letzter Fall darf nicht verwechselt werden mit der Erklärung der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit von § 44 Abs. 2 SGB II aufgrund von Kommunalverfassungsbeschwerden durch das Bundesverfassungsgericht am 20.12.2007 (2 BvR 2433/04; 2 BvR 2434/04)! Diese Verfassungsbeschwerden bezogen sich auf die Problemstellung der Mischverwaltung bei der Betreuung der Hartz-IV- Empfänger durch Arbeitsgemeinschaften aus Bundesagentur für Arbeit und die Kommunen. Eine derartige Mischverwaltung verstößt lt. BVerfG gegen die grundgesetzliche Kompetenzordnung. Diese Sozialgesetze betreffen jedoch nicht den Sachverhalt des KdU-Gesetzes, welches der Bundespräsident trotz verfassungsrechtlicher Bedenken ausfertigte.]. 615 Gerade die Blockadehaltung des SPD dominierten Bundesrates, organisiert vom damaligen Vorsitzenden Oscar Lafontaine, diente im Vorfeld der Bundestagswahl im Jahr 1998 dazu, die Regierung Kohl in den Augen der Wähler als kraftlos und handlungsunfähig dastehen zu lassen. Mittlerweile ist dies gefestigte politische Interpretationsart der zwei Jahre Bundesratsgebaren vor der Wahl 1998, auch die SPD und die entsprechenden Protagonisten widersprechen in der Nachschau dieser Sichtweise nicht mehr – Meinungsforscher glauben ermittelt zu haben, dass die Fähigkeit der christlich-liberalen Regierung wichtige Gesetze (z.B. die avisierte Steuerreform) durchzubringen, vom Wähler tatsächlich als eingeschränkt wahrgenommen wurde, was u.a. zum Regierungswechsel beitrug. 616 Insbesondere der amtierende Bundespräsident Horst Köhler erweist sich als Vertreter klarer eigener politischer Vorstellungen, die er dezidiert in den politischen Raum entlässt. Dies tut er selbst dann, wenn er weiß, dass sie nicht der Auffassung der Bundesregierung und der politischen Mehrheit im Parlament entsprechen. Als ein Beispiel sei auf die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitslose verwiesen, die der Bundespräsident von Anfang für falsch hielt und diese Meinung auch öffentlich propagierte (Vgl. Frankfurter

I. Vetoansatzpunkte im Grundgesetz Des Weiteren erzeugt dieses Antizipieren von Verfassungszweifeln einen faktischen Zustand der Selbstkontrolle seitens des Präsidenten. Denn wenn die politische Mehrheit im Bundestag wirklich sichergehen will, dass der Bundespräsident ein Gesetz ausfertigt, dann würdigt sie seine Sichtweise schon bei der Normentstehung. Das Bundespräsidialamt teilt den federführenden Ministerien durchaus schon während des Gesetzgebungsprozesses oder kurz danach mit, inwieweit es Verfassungszweifel hegt. 617 In Hintergrundgutachten und Schriftwechseln wird der Bundespräsident, dessen Staatssekretär sogar an Kabinettssitzungen 618 teilnimmt, frühzeitig informiert und kann langfristig die relevanten Verfassungsfragen prüfen. Dem politischen Raum deuten sich Verfassungszweifel also schon vor einer vermeintlichen Ausfertigungsverweigerung eine Zeit lang an. Es besteht also durchaus schon praktisch die Möglichkeit der Einbindung der präsidialen Sichtweise. Beugt sich eine Bundesregierung dieser schon im Vorfeld, ist allerdings dasjenige, was der Bundespräsident später tatsächlich verfassungsrechtlich begutachtet, sein eigener Wille. Dies kann im Extremfall die faktische Folge haben, dass er sich kurioserweise zum Schluss selbst kontrolliert. Gerade derartige Eingriffsdimensionen des Bundespräsidenten in das Normsetzungshandeln von Regierung und Legislative sieht das Grundgesetz eigentlich aber gar nicht vor, vielmehr versucht die Verfassung derartigen Einfluss sogar auszuschließen. Die Folge, der durch die Hintertür des vetorechtserzeugenden Prüfungsrechts Einzug haltenden präsidentiellen Einflussnahme, ist eine massive Zerknirschtheit im politischen Raum sobald ein Bundespräsident von dieser Verweigerungskompetenz Gebrauch macht oder deren Gebrauch androht. Die beiden jüngsten Fälle sprechen hier eine beredete Sprache. Die Reaktionen von parlamentarischer Mehrheit und Bundesregierung deuten darauf hin, dass sie den Bundespräsidenten ‚gefühlt‛ für nicht zuständig erachten. Es ist jedoch nicht allein die verfassungsrechtliche ‚Nichtkompetenz‛ des Bundespräsidenten, welche Frustration im politischen Raum erzeugt, sondern vor allem der Umstand, dass dem weder unmittelbar legitimierten noch mit substantieller Beteiligung an der Staatsleitung ausgestatteten Staatsoberhaupt, eigentlich eine derartig weitreichende Entscheidung nicht zugebilligt werden kann. Jene subtile ‚Emotionslage‛ bei den politischen Akteuren ist keiner Boshaftigkeit geschul- Allgemeine Zeitung v. 29. Dez. 2007, S. 3). Im Falle verfassungsrechtlicher Zweifel wäre es nur sehr schwer vorstellbar gewesen, wie seine politische Auffassung zu diesem Thema, von seinen vermeintlich evidenten Verfassungszweifeln zu trennen gewesen wäre. 617 So war es beispielsweise auch im Vorfeld der Nichtausfertigung des Verbraucherinformationsgesetzes. Das für die Ausfertigung zuständige Referat Z 6 des Bundespräsidialamtes versuchte noch nach Gesetzesbeschluss die Bundesregierung davon zu überzeugen, dass nach der Föderalismusreform der Bund den Gemeinden im fraglichen Themenbereich keine Vorgaben mehr machen durfte und schlug vor, den Fehler im Wege eines Änderungsgesetzes unauffällig zu korrigieren. Diese verfassungsrechtliche Sichtweise wurde durch das Kanzleramt und das Bundesinnenministerium nicht ausreichend goutiert, so dass sich Bundespräsident Köhler außer Stande sah, das Gesetz auszufertigen. – Vgl. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 17. Dez. 2006, S. 2. 618 Vgl. § 23 GOBReg. Darüber hinaus institutionalisiert schon § 5 GOBReg. den Meinungsaustausch zwischen Bundesregierung und Bundespräsidialamt. Zum ganzen Fragenkreis: H. Maurer, Hat der Bundespräsident ein politisches Mitspracherecht?, in: DÖV 1966, 665 (671 ff). 213

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D. Vetos <strong>im</strong> aktuellen <strong>deutschen</strong> <strong>Verfassungssystem</strong><br />

so gut wie nie antizipieren, wann für den Bundespräsidenten der Rubikon der<br />

Verfassungswidrigkeit überschritten ist. Obwohl dem Bundespräsidenten durch<br />

das Grundgesetz jegliche inhaltliche Teilnahme am Gesetzgebungsverfahren verwehrt<br />

bleibt, müssen die Regierung und ihre Mehrheit prophylaktisch seinen Willen<br />

inkludieren, um nicht zum Schluss als handlungsunfähig dazustehen. Infolgedessen<br />

müssen die Koalitionsfraktionen und die federführende Regierung schon<br />

<strong>im</strong> Vorfeld des Gesetzesbeschlusses die verfassungsrechtlichen Mahnungen und<br />

Einwürfe des Bundespräsidenten würdigen, um nicht Gefahr zu laufen, das Gesetz<br />

zum Schluss zu verlieren. 614 Der deutsche Wähler verzeiht einer Bundesregierung<br />

viel, aber nicht die Handlungsunfähigkeit. 615 Dadurch, dass eine Bundesregierung<br />

dies stetig einkalkulieren wird müssen, erlangt die verfassungsrechtliche<br />

Sichtweise der Bundespräsidenten schon <strong>im</strong> Gesetzgebungsverfahren Relevanz, da<br />

die Regierung und das Mehrheitsparlament sich daran orientieren müssen. In der<br />

Folge sind die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen gezwungen, die<br />

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einzuflechten. Insbesondere problematisch erscheint dies, wenn offenkundig ist,<br />

dass der Bundespräsident einem Gesetzgebungsvorhaben schon politisch negativ<br />

gegenübersteht und seine verfassungsrechtliche Argumentation nur vorgeschoben<br />

sein könnte. 616<br />

614 Für derartige Befürchtungen bieten die Reaktionen aus dem politischen Raum nach der zweiten Ausfertigungsverweigerung<br />

durch Bundespräsident Horst Köhler mehr als nur begründeten Anlass. Nachdem Bundespräsidenten<br />

Köhler <strong>im</strong> Jahr 2006 nicht nur das „Gesetz zur Teilprivatisierung der Flugsicherung“ stoppte, sondern<br />

kurze Zeit später auch noch das „Verbraucherinformationsgesetz“ befürchteten die Bundesregierung und<br />

die sie tragenden Fraktionen <strong>im</strong> Bundestag, welche beide Gesetze auf Initiative der Bundesregierung beschlossen<br />

hatten, dass weitere zentrale Gesetzesvorhaben der ‚Großen Koalition‛ unter Bundeskanzlerin Merkel durch den<br />

Bundespräsidenten gestoppt werden könnten. Insbesondere die geplante Gesundheitsreform (Vgl. FAZ-NET v.<br />

06.10.2006), aber auch das Gesetz zur Kostenübernahme der Unterbringung hilfsbedürftiger Langezeitarbeitsloser<br />

(KdU) wurde schon während des Zust<strong>im</strong>mungsverfahrens <strong>im</strong> Bundesrat wegen der Ungleichverteilung der<br />

Finanzmittel zwischen den Bundesländern für vermeintlich verfassungswidrig gehalten (Vgl. Frankfurter Allgemeine<br />

Sonntagszeitung v. 17. Dez. 2006, S. 2) [Letzter Fall darf nicht verwechselt werden mit der Erklärung der<br />

Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit von § 44 Abs. 2 SGB II aufgrund von Kommunalverfassungsbeschwerden<br />

durch das Bundesverfassungsgericht am 20.12.2007 (2 BvR 2433/04; 2 BvR 2434/04)! Diese Verfassungsbeschwerden<br />

bezogen sich auf die Problemstellung der Mischverwaltung bei der Betreuung der Hartz-IV-<br />

Empfänger durch Arbeitsgemeinschaften aus Bundesagentur für Arbeit und die Kommunen. Eine derartige<br />

Mischverwaltung verstößt lt. BVerfG gegen die grundgesetzliche Kompetenzordnung. Diese Sozialgesetze<br />

betreffen jedoch nicht den Sachverhalt des KdU-Gesetzes, welches der Bundespräsident trotz verfassungsrechtlicher<br />

Bedenken ausfertigte.].<br />

615 Gerade die Blockadehaltung des SPD dominierten Bundesrates, organisiert vom damaligen Vorsitzenden<br />

Oscar Lafontaine, diente <strong>im</strong> Vorfeld der Bundestagswahl <strong>im</strong> Jahr 1998 dazu, die Regierung Kohl in den Augen<br />

der Wähler als kraftlos und handlungsunfähig dastehen zu lassen. Mittlerweile ist dies gefestigte politische Interpretationsart<br />

der zwei Jahre Bundesratsgebaren vor der Wahl 1998, auch die SPD und die entsprechenden Protagonisten<br />

widersprechen in der Nachschau dieser Sichtweise nicht mehr – Meinungsforscher glauben ermittelt zu<br />

haben, dass die Fähigkeit der christlich-liberalen Regierung wichtige Gesetze (z.B. die avisierte Steuerreform)<br />

durchzubringen, vom Wähler tatsächlich als eingeschränkt wahrgenommen wurde, was u.a. zum Regierungswechsel<br />

beitrug.<br />

616 Insbesondere der amtierende Bundespräsident Horst Köhler erweist sich als Vertreter klarer eigener politischer<br />

Vorstellungen, die er dezidiert in den politischen Raum entlässt. Dies tut er selbst dann, wenn er weiß, dass<br />

sie nicht der Auffassung der Bundesregierung und der politischen Mehrheit <strong>im</strong> Parlament entsprechen. Als ein<br />

Beispiel sei auf die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitslose verwiesen, die<br />

der Bundespräsident von Anfang für falsch hielt und diese Meinung auch öffentlich propagierte (Vgl. Frankfurter

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