Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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210 D. Vetos im aktuellen deutschen Verfassungssystem das verfassungsrechtliche Gütesiegel aufsetzen darf. Es hat auch niemand ein Problem damit, dass sich die jeweiligen Amtsinhaber bei verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen winden müssen und die Antwort anhand einer sog. ‚Evidenzkontrolle‛ 607 zu finden suchen. Auch dass sie im Sinne der Parlamentsprärogative in Normsetzungsfragen die Prüfungshürden dabei derartig hoch hängen, dass dem Gesetz ‚die Verfassungswidrigkeit schon auf die Stirn geschrieben stehen muss‛ 608 , damit sie nicht ausfertigen könnten, scheint wohl keiner weitergehenden Diskussion wert, sondern wird als wohltuende Zurückhaltung des Staatsoberhauptes gewertet. Solange der amtierende Bundespräsident zum Schluss zu dem Ergebnis kommt, die verfassungsrechtliche Diskrepanz sei nicht dermaßen offenkundig, dass sie eben nicht über alle Zweifel erhaben ist, ist es der Regierung und den sie tragenden Mehrheitsfraktionen im Bundestag egal, woraus sich die Mäßigung des Bundespräsidenten speist. Das vetorechtserzeugende Prüfungsrecht an sich stellt also niemand in Frage, vielmehr genießen die politischen Protagonisten, dass ein an der Gesetzgebung nicht beteiligtes Organ wie das Staatsoberhaupt, das oftmals unter großen politischen Mühen und mit knappen parlamentarischen Mehrheiten zustande gekommene Gesetz, in den Rang eines obersten Staatsaktes hebt. Die Ausfertigung durch den über den Parteien stehenden Bundespräsidenten dokumentiert, dass das von der parlamentarischen Mehrheit beschlossene Gesetz zum Staatsgesetz geworden und von allen zu respektieren ist, auch von denjenigen die seinen Erlass ablehnten. 609 Problematisch wird erst dann, wenn im pluralistischen Meinungsgeflecht die oppositionelle Minderheit durch die Ausfertigungsverweigerung einen späten Sieg einfährt und sich die Parlamentsmehrheit und Regierung um die Früchte ihres Gesetzgebungsverfahrens gebracht sehen. Dann nämlich ist der politische Mehrheitswille von einem Staatsorgan auf den Kopf gestellt, dem das Grundgesetz keinerlei politische Dispositionsbefugnis über das Gesetz zugesteht. Überschreitet der Präsident in den Augen der Parlamentsmehrheit und der Bundesregierung die Grenzen der Enthaltsamkeit, verfliegt die Freude über sein Integratorenamt sehr schnell. Es werden dann all die Friktionen deutlich, die dem vetorechtserzeugenden Prüfungsrecht des Bundespräsidenten in seiner Substanz an- 607 Die auf Roman Herzog zurückgehende ‚Evidenzkontrolle‛ hat den Hintergrund, dass die Unterschriftsverweigerung basierend auf Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG die Ausnahme bilden soll, für die Herzog kumulativ zwei Voraussetzungen fordert: Zum einen nach dem Evidenzprinzip einen eindeutigen Verstoß gegen den Text der Verfassung oder gefestigte Rechtsprechung des BVerfG und zum Zweiten die Berücksichtigung der Folgen der Ausfertigungsverweigerung. – Vgl. Herzog, FS Carstens Bd. II, S. 609. 608 So der Maßstab, der aus den Reihen des Bundestages an den Bundespräsidenten für seine Prüfungsausübung herangetragen wird. Vgl. MdB Olaf Scholz in: SPIEGEL online v. 14. Dez. 2006. Bundespräsident Horst Köhler sah diesen Ansatz allerdings als nicht funktionsgerecht an. Vgl. Interview in DIE ZEIT v. 01. März 2007: „…Frage: SPD-Vertreter haben gesagt, Gesetzen müsse schon die Verfassungswidrigkeit auf die Stirn geschrieben sein, bevor der Bundespräsident seine Unterschrift verweigern könne./ Horst Köhler: Ich bin Optimist: Wenn es dem Gesetz auf der Stirn geschrieben steht, dann wird es vom Parlament nicht verabschiedet. …“ 609 Vgl. Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82, Rn 25; ebenso: Schlaich, Die Funktion des Bundespräsidenten im Verfassungsgefüge (§49), in: HStR II, Rn 25.

I. Vetoansatzpunkte im Grundgesetz haften, unabhängig von der Frage, ob es nun allein formelle oder auch materielle Kriterien einschließt. Der diesbezügliche Disput um die Existenzberechtigung des präsidialen Prüfrechts entspringt seinem Grundsatz nach zunächst einmal parteipolitischer Irritation über ein sich vermeintlich nicht rational verhaltenes Staatsoberhaupt. Darüber hinaus wird eine Art Machtlosigkeit der Regierung und der sie tragenden Parlamentsfraktionen 610 deutlich. Aus dieser Machtlosigkeit entspringt eine kaum verhohlene Wut der Regierung, die sich aus einem Paradox erklärt: Dort, wo ein Bundespräsident wirklich politisch ‚über den Zaun fressen würde‛, könnte sie das zumeist folgenlos ignorieren, wenn er aber Gesetze aus rein verfassungsrechtlichen Gründen stoppt, muss sie das zähneknirschend erst einmal hinnehmen – Dort wo der Präsident wirklich politisch wird, tut er kaum einem weh, wo er der Regierung weh tut, handelt er gar nicht politisch. 611 Dieses Phänomen wird noch dadurch verstärkt, dass der nicht ausfertigende Bundespräsident sich i.d.R. vom Meinungswind getragen fühlen kann, der insbesondere unter dem Aspekt „anschwillt“, dass endlich mal einer „denen da oben die Leviten liest“. 612 Dieser volkspopuläre 613 Aspekt des Präsidentenamtes ist an sich nicht zu kritisieren und womöglich im republikanischen Strickmuster des Grundgesetzes als Ventil tendenziell einkalkuliert. Wenn sich jener Aspekt aber auf das originäre Metier der Legislative und die politische Führungsrolle der durch diese hervorgebrachten Regierung ausweitet, wird er als Veränderung des Verfassungsgefüges wahrgenommen. Das Nichthandeln des Bundespräsidenten bei der Ausfertigung erzeugt politischen Druck, der weit über die Grenzen des Populismus hinausgeht. Denn wenn ein Bundespräsident, aus welchen Motiven auch immer, die Hürden der Evidenz des Verfassungszweifels schneller genommen sieht als seine Vorgänger, dann bedeutet dies gleichsam eine Absenkung seiner politischen Mäßigungsschwelle. Gerade weil das Verfassungsrecht hoch strittig sein kann und oftmals nahe an der Verfassungspolitik angesiedelt ist, kann eine Bundesregierung im Vornherein 610 Aus Sicht des Verfassungswortlauts ist es zwar letztlich die Regierungsmehrheit im Deutschen Bundestag, welche das i.d.R. durch die Regierung initiierte Gesetz verabschiedet. Insbesondere die Vorabsprachen zwischen Regierungsfraktionen und Bundesregierung und infolge dessen die Vorbereitung und Begleitung des Gesetzgebungsverfahrens durch die Fachministerien lässt jedoch eine exekutive Verbundenheit mit dem legislativen Normsetzungsbeschluss entstehen. 611 Vgl. DIE ZEIT, v. 20. Dez. 2006, S. 12. 612 Vgl. A.a.O.: „…Während die Bevölkerung sich deutlich nach einer wirklichen Autorität über allem Parteiengetümmel sehnt […], verlangt die politisch-parlamentarische Klasse einen Bundespräsidenten, der sie – auf höchstmöglichen Niveau, […] ungestört vor sich hin werkeln lässt. …“; ebenso DIE ZEIT, v. 28. Dez. 2006, S. 3: „…Horst Köhler übte im vergangenen Jahr stärkeren Einfluss auf die Tagespolitik aus als alle seine Vorgänger. Vermutlich fühlt er sich von Roman Herzog animiert, einen Ruck nicht nur anzumahnen, sondern selbst zu rucken. Achtzig Prozent der Deutschen finden es gut, dass er den Koalitionären den unbenutzten Füller zeigt, andere sehen in ihm schon einen ‚Hüter der Verfassung‛, einen über die Gesetzesherrschaft sich aufschwingenden, nun ja: populistischen Quasipotentaten, den einst der Nazijurist Carl Schmitt erfunden hatte. …“. 613 Über den amtierenden Bundespräsidenten Host Köhler wird medial folgendes Bild verbreitet: „…Stets hat er sich als ‚Bürgerpräsident‛ verstanden, der seine Autorität und Amtwürde weniger von der Bereitschaft der Parteien – in seinem Fall von CDU, CSU und FDP – ableitet, sondern von seiner Beliebtheit im Volk. …“ – Vgl. FAZ NET, v. 22. Mai 2008, „Der Bürgerpräsident fürchtet die Wahl nicht“. 211

I. Vetoansatzpunkte <strong>im</strong> Grundgesetz<br />

haften, unabhängig von der Frage, ob es nun allein formelle oder auch materielle<br />

Kriterien einschließt.<br />

Der diesbezügliche Disput um die Existenzberechtigung des präsidialen Prüfrechts<br />

entspringt seinem Grundsatz nach zunächst einmal parteipolitischer Irritation<br />

über ein sich vermeintlich nicht rational verhaltenes Staatsoberhaupt. Darüber<br />

hinaus wird eine Art Machtlosigkeit der Regierung und der sie tragenden Parlamentsfraktionen<br />

610 deutlich. Aus dieser Machtlosigkeit entspringt eine kaum<br />

verhohlene Wut der Regierung, die sich aus einem Paradox erklärt: Dort, wo ein<br />

Bundespräsident wirklich politisch ‚über den Zaun fressen würde‛, könnte sie das<br />

zumeist folgenlos ignorieren, wenn er aber Gesetze aus rein verfassungsrechtlichen<br />

Gründen stoppt, muss sie das zähneknirschend erst einmal hinnehmen –<br />

Dort wo der Präsident wirklich politisch wird, tut er kaum einem weh, wo er der<br />

Regierung weh tut, handelt er gar nicht politisch. 611 Dieses Phänomen wird noch<br />

dadurch verstärkt, dass der nicht ausfertigende Bundespräsident sich i.d.R. vom<br />

Meinungswind getragen fühlen kann, der insbesondere unter dem Aspekt „anschwillt“,<br />

dass endlich mal einer „denen da oben die Leviten liest“. 612 Dieser<br />

volkspopuläre 613 Aspekt des Präsidentenamtes ist an sich nicht zu kritisieren und<br />

womöglich <strong>im</strong> republikanischen Strickmuster des Grundgesetzes als Ventil tendenziell<br />

einkalkuliert. Wenn sich jener Aspekt aber auf das originäre Metier der<br />

Legislative und die politische Führungsrolle der durch diese hervorgebrachten<br />

Regierung ausweitet, wird er als Veränderung des Verfassungsgefüges wahrgenommen.<br />

Das Nichthandeln des Bundespräsidenten bei der Ausfertigung erzeugt<br />

politischen Druck, der weit über die Grenzen des Populismus hinausgeht. Denn<br />

wenn ein Bundespräsident, aus welchen Motiven auch <strong>im</strong>mer, die Hürden der<br />

Evidenz des Verfassungszweifels schneller genommen sieht als seine Vorgänger,<br />

dann bedeutet dies gleichsam eine Absenkung seiner politischen Mäßigungsschwelle.<br />

Gerade weil das Verfassungsrecht hoch strittig sein kann und oftmals nahe an<br />

der Verfassungspolitik angesiedelt ist, kann eine Bundesregierung <strong>im</strong> Vornherein<br />

610 Aus Sicht des Verfassungswortlauts ist es zwar letztlich die Regierungsmehrheit <strong>im</strong> Deutschen Bundestag,<br />

welche das i.d.R. durch die Regierung initiierte Gesetz verabschiedet. Insbesondere die Vorabsprachen zwischen<br />

Regierungsfraktionen und Bundesregierung und infolge dessen die Vorbereitung und Begleitung des Gesetzgebungsverfahrens<br />

durch die Fachministerien lässt jedoch eine exekutive Verbundenheit mit dem legislativen<br />

Normsetzungsbeschluss entstehen.<br />

611 Vgl. DIE ZEIT, v. 20. Dez. 2006, S. 12.<br />

612 Vgl. A.a.O.: „…Während die Bevölkerung sich deutlich nach einer wirklichen Autorität über allem Parteiengetümmel sehnt<br />

[…], verlangt die politisch-parlamentarische Klasse einen Bundespräsidenten, der sie – auf höchstmöglichen Niveau, […] ungestört<br />

vor sich hin werkeln lässt. …“; ebenso DIE ZEIT, v. 28. Dez. 2006, S. 3: „…Horst Köhler übte <strong>im</strong> vergangenen Jahr<br />

stärkeren Einfluss auf die Tagespolitik aus als alle seine Vorgänger. Vermutlich fühlt er sich von Roman Herzog an<strong>im</strong>iert, einen<br />

Ruck nicht nur anzumahnen, sondern selbst zu rucken. Achtzig Prozent der Deutschen finden es gut, dass er den Koalitionären den<br />

unbenutzten Füller zeigt, andere sehen in ihm schon einen ‚Hüter der Verfassung‛, einen über die Gesetzesherrschaft sich aufschwingenden,<br />

nun ja: populistischen Quasipotentaten, den einst der Nazijurist Carl Schmitt erfunden hatte. …“.<br />

613 Über den amtierenden Bundespräsidenten Host Köhler wird medial folgendes Bild verbreitet: „…Stets hat er<br />

sich als ‚Bürgerpräsident‛ verstanden, der seine Autorität und Amtwürde weniger von der Bereitschaft der Parteien – in seinem Fall<br />

von CDU, CSU und FDP – ableitet, sondern von seiner Beliebtheit <strong>im</strong> Volk. …“ – Vgl. FAZ NET, v. 22. Mai 2008, „Der<br />

Bürgerpräsident fürchtet die Wahl nicht“.<br />

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