Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem - Oapen

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184 I. Vetoansatzpunkte im Grundgesetz D. Vetos im aktuellen deutschen Verfassungssystem 1. Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten – Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG „…Eigentlich ein unmögliches Staatsamt, wie es das Grundgesetz dem Bundespräsidenten zuschneidet: dem Protokoll nach das höchste, ist es das ärmste der Kompetenzausstattung nach. Der Bundespräsident vertritt eine Macht, an deren Ausübung er nicht teilhat. Er ratifiziert, was andere entschieden haben. Soweit er anordnen und verfügen darf, wird er der politischen Verantwortung enthoben durch Gegenzeichnung eines Regierungsmitglieds. Sein Tun ist im wesentlichen Reden, Zuhören, Empfangen, Dabeisein – was jedermann auch kann; nur geschieht es hier in der Aura der Öffentlichkeit, unter staatsamtlichem Nimbus. Im verfassungsstaatlichen Schauspiel ist die Anwesenheit eines Präsidenten vorgesehen; doch der Autor hat versäumt, für die Rolle den Text zu schreiben. …“ 540 Der Verfassungsrechtler Josef Isensee, ein ausgewiesener Kenner der bundespräsidialen Materie, zieht in dem soeben zitierten Beitrag eine vernichtende Bilanz des obersten Bundesorgans Bundespräsident. Seine Ausführungen zugrunde legend, wohnt dem Amt des heutigen Bundespräsidenten keine relevante Macht inne, die unter pekuniären Gesichtspunkten seine Existenz begründen könnte. 541 Es ist 540 Isensee, Braucht die Republik einen Präsidenten?, NJW 1994, 1329 (1329). Als weitergehende Analyse legt der Autor zur Stellung des Bundespräsidenten dar: „…Der Bonner Verfassungsgeber ist in seiner Absage an die Weimarer Präsidialdemokratie - Hindenburg-Syndrom - sehr weit darin gegangen, dem Bundespräsidenten vorzuenthalten, was vormals dem Reichspräsidenten als Prärogative zukam. Die Machtbalance hat sich deshalb im Bonner System verschoben zugunsten des Bundestages, des Bundeskanzlers, nicht zuletzt zugunsten des BVerfG. Angesichts der Kompetenzdezimierung erhebt sich die Frage nach dem verbliebenen Sinn des Staatsorgans. Was sich im Kontext einer Präsidialdemokratie amerikanischen, französischen, rußländischen oder auch deutsch-weimarischen Zuschnitts von selbst versteht – hier wird es Problem, ob es eines Präsidenten überhaupt noch bedarf. 16 von den 17 heute in Deutschland geltenden Verfassungen halten einen Präsidenten für überflüssig, und zwar alle Landesverfassungen, obwohl sie, homogen der gesamtstaatlichen Verfassung, ansonsten ihre Organisationsstrukturen denen des Bundes weitgehend angeglichen haben. Kein Land hat bisher ob seiner staatsorganisatorischen Abstinenz unter Entzugserscheinungen gelitten. Die Ministerpräsidenten, zuweilen auch die Landtagspräsidenten, übernehmen gern auch den landesväterlichen Part. Bei den Vorberatungen einer Bundesverfassung im Herrenchiemseer Konvent focht eine Minderheit dafür, statt eines Bundespräsidenten ein Dreier-Kollegium, bestehend aus dem Bundeskanzler, dem Bundestags- und dem Bundesratspräsidenten, vorzusehen, und zwar nicht zuletzt aus den grundsätzlichen Erwägungen, daß der Gedanke des pouvoir neutre überholt und daß es konstruktiv besser sei, die Dynamik des Staatslebens in der obersten Spitze in einem Kollegium zum Ausdruck zu bringen, das sich durch die Funktionen, die seine Mitglieder hauptamtlich zu vertreten hätten, selbst kontrolliere. Die Diskrepanz zwischen Rang und Handlungsbefugnis des Präsidentenamtes bereitet dem Verfassungsjuristen Schwierigkeiten, weil es sich mit den Funktionalitäts- und Rationalitätsrastern des verfassungsstaatlichen Systems nicht fassen läßt. Selbst hartgesottene Positivisten entdecken hier in sich eine hegelianische Ader oder zumindest ein smendianisches Äderchen, machen aus der Kompetenznot eine Integrationstugend, dekorieren den republikanischen Präsidenten mit dem konstitutionell-monarchischen Attribut des pouvoir neutre, entrücken das „Staatsoberhaupt“ der politischen Zwietracht und dem Gezänk der Parteien hin zu den lichten Höhen, wo die Einheit des Staates wallt und waltet, weisen ihm als Kompensation des Mangels an konkreten Zuständigkeiten die Zuständigkeit für das Abstrakte und Ganze zu, für das Gemeinwohl, und raunen von Repräsentation. Doch die Kompensationstheorien denken zu hoch vom höchsten und zu niedrig von den regulären Staatsämtern. …“ 541 Entsprechend auch die gängige politologische Analyse. Vgl. Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, S. 295 ff – Die Rolle des Bundespräsidenten soll auf Integration und geistige Führung und in politischen Normalzeiten auf seine repräsentativen Funktionen beschränkt sein. Unter politologischer Betrachtung könne diese Kompetenzarmut lediglich in Situationen des Funktionsversagens der anderen Verfassungsorgane in eine Art demokratische Reservefunktion umschlagen.

I. Vetoansatzpunkte im Grundgesetz nicht Aufgabe dieser Arbeit eine allgemeingültige Bewertung dieser Infragestellung der Präsidentennotwendigkeit vorzunehmen, vielmehr ist die Reduzierung der Betrachtungen auf die Vetorechtsperspektive angezeigt. Gerade die Vetofrage könnte aber ein Ansatzpunkt sein, der Denkweise Isensees entgegentreten zu können. Würde nämlich das Grundgesetz dem Bundespräsidenten ein starkes exekutives Vetorecht in Gesetzgebungsfragen zu weisen, wäre die Schwarzmalerei Isensees zumindest ein Stück relativierbar. Die Frage nach einer Wiederkehr des Präsidentenvetos erscheint jedoch fernerhin noch aus einem zweiten Aspekt heraus sinnvoll, näher zu beleuchten. Nach der Überwindung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft mit ihrem rechtsstaats- und demokratievernichtenden Verfassungsverständnis kann das Grundgesetz als das unmittelbare, der Weimarer Reichsverfassung nachfolgende, Verfassungsstatut auf deutschem Boden angesehen werden. Es stellt sich infolgedessen als interessante Forschungsfrage dar, ob womöglich eine Fortsetzung der Weimarer Tradition des starken Präsidentenvetos zu verzeichnen ist. Die oben ausgearbeiteten Erkenntnisse um die Stellung des Reichspräsidenten in der Verfassung vom 11. August 1919 erweisen sich an dieser Stelle nicht nur im Bezug auf die geschichtliche Bedeutung der Vetorechte als nützlich, sondern bieten mithin auch einen profunden Vergleichsansatz. a. Einordnung der Organstellung Die Ausführungen von Isensee deuten an, dass die Stellung des Bundespräsidenten nicht im Ansatz mit der des Reichspräsidenten der Weimarer Republik zu vergleichen ist. Dieser Eindruck verstärkt sich nicht nur allein bei der Exegese des grundgesetzlichen Verfassungstextes, sondern schon die Untersuchungen zur Arbeit des Parlamentarischen Rates zur Verfassunggebung des Grundgesetzes weisen ganz bewusst und ausdrücklich in diese Richtung. Nach dem Willen des Herrenchiemseekonvents sollte der Bundespräsident eine schwache Stellung haben und sich vom Weimarer Präsidenten dadurch unterscheiden, dass er nicht vom Volk gewählt, ihm kein bestimmender Einfluss auf die Regierungsbildung eingeräumt werden würde, seine Auflösungsrechte gegenüber dem Parlament auf das Äußerste zusammengestrichen würden und ihm keinerlei Notverordnungsrechte (Art. 81 GG wurde erst 1968 i. R. d. Notstandsgesetzgebung eingeführt) zustehen sollten. 542 Die Rechtsgrundlagen für das Amt des Bundespräsidenten, welche anhand dieser Vorgaben geschaffen wurden, finden sich in den Artikeln 54 bis 61 des Grundgesetzes und somit in dessen V. Abschnitt. Jene Normen enthalten vor allem Vorschriften für die Besetzung des Amtes des Bundespräsidenten sowie 542 Vgl. v. Beyme, Die Parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, S. 361; basierend auf: Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 6. Kapitel, S. 41 ff. 185

184<br />

I. Vetoansatzpunkte <strong>im</strong> Grundgesetz<br />

D. Vetos <strong>im</strong> aktuellen <strong>deutschen</strong> <strong>Verfassungssystem</strong><br />

1. Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten –<br />

Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG<br />

„…Eigentlich ein unmögliches Staatsamt, wie es das Grundgesetz dem Bundespräsidenten zuschneidet:<br />

dem Protokoll nach das höchste, ist es das ärmste der Kompetenzausstattung nach.<br />

Der Bundespräsident vertritt eine Macht, an deren Ausübung er nicht teilhat. Er ratifiziert, was<br />

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enthoben durch Gegenzeichnung eines Regierungsmitglieds. Sein Tun ist <strong>im</strong> wesentlichen<br />

Reden, Zuhören, Empfangen, Dabeisein – was jedermann auch kann; nur geschieht es hier in<br />

der Aura der Öffentlichkeit, unter staatsamtlichem N<strong>im</strong>bus. Im verfassungsstaatlichen Schauspiel<br />

ist die Anwesenheit eines Präsidenten vorgesehen; doch der Autor hat versäumt, für die<br />

Rolle den Text zu schreiben. …“ 540<br />

Der Verfassungsrechtler Josef Isensee, ein ausgewiesener Kenner der bundespräsidialen<br />

Materie, zieht in dem soeben zitierten Beitrag eine vernichtende Bilanz des<br />

obersten Bundesorgans Bundespräsident. Seine Ausführungen zugrunde legend,<br />

wohnt dem Amt des heutigen Bundespräsidenten keine relevante Macht inne, die<br />

unter pekuniären Gesichtspunkten seine Existenz begründen könnte. 541 Es ist<br />

540 Isensee, Braucht die Republik einen Präsidenten?, NJW 1994, 1329 (1329). Als weitergehende Analyse legt der<br />

Autor zur Stellung des Bundespräsidenten dar: „…Der Bonner Verfassungsgeber ist in seiner Absage an die We<strong>im</strong>arer<br />

Präsidialdemokratie - Hindenburg-Syndrom - sehr weit darin gegangen, dem Bundespräsidenten vorzuenthalten, was vormals dem<br />

Reichspräsidenten als Prärogative zukam. Die Machtbalance hat sich deshalb <strong>im</strong> Bonner System verschoben zugunsten des Bundestages,<br />

des Bundeskanzlers, nicht zuletzt zugunsten des BVerfG. Angesichts der Kompetenzdez<strong>im</strong>ierung erhebt sich die Frage nach<br />

dem verbliebenen Sinn des Staatsorgans. Was sich <strong>im</strong> Kontext einer Präsidialdemokratie amerikanischen, französischen,<br />

rußländischen oder auch deutsch-we<strong>im</strong>arischen Zuschnitts von selbst versteht – hier wird es Problem, ob es eines Präsidenten überhaupt<br />

noch bedarf. 16 von den 17 heute in Deutschland geltenden Verfassungen halten einen Präsidenten für überflüssig, und zwar<br />

alle Landesverfassungen, obwohl sie, homogen der gesamtstaatlichen Verfassung, ansonsten ihre Organisationsstrukturen denen des<br />

Bundes weitgehend angeglichen haben. Kein Land hat bisher ob seiner staatsorganisatorischen Abstinenz unter Entzugserscheinungen<br />

gelitten. Die Ministerpräsidenten, zuweilen auch die Landtagspräsidenten, übernehmen gern auch den landesväterlichen Part. Bei den<br />

Vorberatungen einer Bundesverfassung <strong>im</strong> Herrenchiemseer Konvent focht eine Minderheit dafür, statt eines Bundespräsidenten ein<br />

Dreier-Kollegium, bestehend aus dem Bundeskanzler, dem Bundestags- und dem Bundesratspräsidenten, vorzusehen, und zwar nicht<br />

zuletzt aus den grundsätzlichen Erwägungen, daß der Gedanke des pouvoir neutre überholt und daß es konstruktiv besser sei, die<br />

Dynamik des Staatslebens in der obersten Spitze in einem Kollegium zum Ausdruck zu bringen, das sich durch die Funktionen, die<br />

seine Mitglieder hauptamtlich zu vertreten hätten, selbst kontrolliere. Die Diskrepanz zwischen Rang und Handlungsbefugnis des<br />

Präsidentenamtes bereitet dem Verfassungsjuristen Schwierigkeiten, weil es sich mit den Funktionalitäts- und Rationalitätsrastern<br />

des verfassungsstaatlichen Systems nicht fassen läßt. Selbst hartgesottene Positivisten entdecken hier in sich eine hegelianische Ader<br />

oder zumindest ein smendianisches Äderchen, machen aus der Kompetenznot eine Integrationstugend, dekorieren den republikanischen<br />

Präsidenten mit dem konstitutionell-monarchischen Attribut des pouvoir neutre, entrücken das „Staatsoberhaupt“ der politischen<br />

Zwietracht und dem Gezänk der Parteien hin zu den lichten Höhen, wo die Einheit des Staates wallt und waltet, weisen ihm<br />

als Kompensation des Mangels an konkreten Zuständigkeiten die Zuständigkeit für das Abstrakte und Ganze zu, für das Gemeinwohl,<br />

und raunen von Repräsentation. Doch die Kompensationstheorien denken zu hoch vom höchsten und zu niedrig von den<br />

regulären Staatsämtern. …“<br />

541 Entsprechend auch die gängige politologische Analyse. Vgl. Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik<br />

Deutschland, S. 295 ff – Die Rolle des Bundespräsidenten soll auf Integration und geistige Führung und in<br />

politischen Normalzeiten auf seine repräsentativen Funktionen beschränkt sein. Unter politologischer Betrachtung<br />

könne diese Kompetenzarmut lediglich in Situationen des Funktionsversagens der anderen Verfassungsorgane<br />

in eine Art demokratische Reservefunktion umschlagen.

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