Der Begriff des freien Willens in der Geschichte - Esther Fischer ...

Der Begriff des freien Willens 129
formen gar nicht im Willkürbereich liegen”. Auch Reflexe, die an sich gänzlich willensunabhängig
sind, galten nun als “Gewohnheiten”: “Nicht grobe zielbewusste
Simulation ist es in erster Linie, was den Reflexvorgang erhält …, sondern … das
Hinzugeben schwacher, diffuser Willensreize. Und diese … Willensimpulse”, fährt
Kretschmer fort, “können … sich … für das Subjekt fast bis zur Unkenntlichkeit verwischen”.
Auch wenn die Kriegshysteriker sich der eigenen Verantwortlichkeit für
ihr Krankheitsbild in keiner Weise bewusst waren, war solche Verantwortlichkeit
also anzunehmen. “Es wäre in der Tat auffallend, wenn der Zitterer den psychologischen
Verwischungsvorgang, der die Selbstwahrnahme der willkürlichen Reflexverstärkung
in gesetzmässiger Weise begeleitet, sich nicht … zu seiner Selbstentlastung
… zunutze machte”. 58 Auch Nichtbewusstes konnte also nicht-determiniert
sein. Nichtbewusstes unterlag dem Einfluss des freien Willens nun genau so wie
Bewusstes.
Damit war nun also die ursächliche Willensbeteiligung, die von Oppenheim
und Moebius aus der Lehre von der traumatischen Neurose verbannt worden war,
in diese Lehre wieder eingeführt. Der Wille galt nun geradezu als die spezifische
Ursache der Kriegshysterie. Dass unter diesen Umständen die Lehre von der materiellen
Ursache der traumatischen Neurose verfemt wurde und der Begriff des
Unbewussten sich keiner Beliebtheit mehr erfreuen konnte, ist begreiflich.
Die materielle Natur der traumatischen Neurose wurde vor allem in der Person
ihres prominentesten Verfechters Oppenheim bekämpft. Während Oppenheim
bis dahin gelegentlich kritisiert, sein Standpunkt aber als solcher geachtet worden
war, fiel nach Kriegsanfang plötzlich jedermann über ihn her. Oppenheims
Annahme organisch-molekularer Veränderungen, die bis dahin der Annahme psychischer
Veränderungen bei den Unfallsneurosen nicht zu widersprechen geschienen
hatte, wurde nun plötzlich zugunsten der psychologischen Interpretation als
falsch abgelehnt. “Es muss mit Nachdruck den Bestrebungen Oppenheims entgegengetreten
werden, die Fälle von traumatischer Neurose, Hysterie etc. den organischen
Fällen anzunähern” schrieb Lewandowsky 1915. Diese Fälle seien ganz
und gar psychisch bedingt. 59 Max Nonne (1861-1959) führte als “Beweis” für die
psychische und gegen die organische Natur der Kriegsneurose die therapeutischen
Erfolge der Hypnose an. 60
Schon bald nach Kriegsausbruch wurde man sich darüber einig, dass die
Erfahrungen des Krieges die Oppenheimschen Ideen von einem materiellen
Substrat der traumatischen Neurosen widerlegt hätten. Oppenheims eigentlicher
“Sturz” erfolgte aber erst 1916, an der Jahresversammlung der Gesellschaft
Deutscher Nervenärzte in München, an der sogenannten “Kriegstagung”. An den
“Sturz” eines Machthabers erinnert jenes Ereignis tatsächlich. Oppenheim versuchte,
seinen somatisch-medizinischen Standpunkt tapfer noch zu verteidigen,
musste sich schliesslich aber geschlagen geben. 61 “Die Diskussion war gigantisch”
berichtet Nonne, “34 Redner kamen zu Wort, nur 3 konnten sich Oppenheim’s
Auffassung eines organisch bedingten, abgeschlossenen, charakteristischen
Krankheitsbildes anschliessen … Ich habe in den mehr als 60 Jahren, die ich jetzt