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Der Begriff des freien Willens in der Geschichte - Esther Fischer ...

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128 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-Homberger<br />

e<strong>in</strong>er Broschüre: “Die kl<strong>in</strong>ische Neuorientierung zum Hysterieproblem unter dem<br />

E<strong>in</strong>flusse <strong>der</strong> Kriegserfahrungen” (1921). 51<br />

Den Grund zu dieser Neuorientierung hatte schon 1911 Karl Bonhoeffer<br />

(1868-1948) gelegt. “Was dem hysterischen Typus se<strong>in</strong>e charakteristische Farbe<br />

verleiht”, hatte er geschrieben, “ist, dass die Abspaltung <strong>der</strong> psychischen Komplexe<br />

unter dem E<strong>in</strong>fluss e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlich bestimmt gearteten <strong>Willens</strong>richtung geschieht.<br />

Das Durchsche<strong>in</strong>en dieser <strong>Willens</strong>richtung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankheitsdarstellung ist das,<br />

was uns speziell als hysterisch imponiert. Die häufigste Form <strong>der</strong> hysterischen<br />

<strong>Willens</strong>richtung ist <strong>der</strong> Wille zur Krankheit. Ich glaube nicht, dass man bei dem<br />

Hysteriebegriff um die E<strong>in</strong>stellung e<strong>in</strong>es solchen <strong>Willens</strong>moments herumkommt”. 52<br />

Bei den Unfallneurosen ist es <strong>der</strong> Wunsch nach Entschädigung, <strong>der</strong> dem hysterischen<br />

Willen se<strong>in</strong>e Richtung gibt.<br />

<strong>Der</strong> Krieg verhalf den Bonhoefferschen Ansichten zur Anerkennung. Plötzlich<br />

schien es nun ganz klar, dass den hysterischen Ersche<strong>in</strong>ungen e<strong>in</strong> zweckgerichteter<br />

Wille zugrunde liege: <strong>der</strong> Wille, zu überleben.<br />

Die genauere Begründung dieser Auffassung lieferte <strong>der</strong> damals 29-jährige<br />

Ernst Kretschmer. In zwei Aufsätzen legte er die theoretischen Grundlagen für die<br />

E<strong>in</strong>führung <strong>des</strong> <strong>Begriff</strong>s <strong>des</strong> <strong>freien</strong> <strong>Willens</strong> <strong>in</strong> die Praxis <strong>der</strong> Hysterikerbehandlung.<br />

1917 schrieb er: “Hysterische Erkrankung und hysterische Gewöhnung”. 53 “Es<br />

soll hier”, so leitete er diesen Aufsatz e<strong>in</strong>, “das Grenzgebiet zwischen ‘Hysterie’<br />

und ‘Aggravation’, zwischen Nichtkönnen und Nichtwollen behandelt werden, wo<br />

es dem Arzte obliegt, den Teil e<strong>in</strong>es Symptombil<strong>des</strong>, <strong>der</strong> dem <strong>freien</strong> Willen <strong>des</strong><br />

Patienten erreichbar ist, abzuschätzen gegen den an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong>, eigentlich krankhaft,<br />

als automatischer Nervenvorgang abläuft”. 54 Dieses Grenzgebiet umschloss<br />

nun eben vor allem die “hysterische Gewöhnung”, <strong>der</strong>en Wesen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigenartigen<br />

“Verschwisterung von bewusstem Willen und nervöser Selbsttätigkeit”<br />

bestand. Als “hysterische Gewöhnung” bezeichnete Kretschmer “alle Anomalien,<br />

die bei subjektiver Krankheitsüberzeugung objektiv … dem direkten Willen zugänglich<br />

s<strong>in</strong>d”. Es gibt zweierlei Arten hysterischer Gewöhnung: die primäre und<br />

die sekundäre. Die primäre hat “ihre Entstehung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Willens</strong>sphäre”, sekundäre<br />

hysterische Gewöhnung entsteht auf dem Boden e<strong>in</strong>er echten “hysterischen<br />

Erkrankung”. 55 Denn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Arbeit über die hysterische Gewöhnung konzedierte<br />

Kretschmer noch, dass es Fälle von echter hysterischer Erkrankung gebe, die<br />

ohne Vermittlung <strong>des</strong> bewussten <strong>Willens</strong> entstehen könnten. Die Symptome, “die<br />

nachweisbar den Bereich willkürlicher Innervationsmöglichkeiten überschreiten”,<br />

56 rechnete er den Hysterikern damals noch nicht als eigene Schuld zu. E<strong>in</strong><br />

Jahr später, 1918, revidierte er se<strong>in</strong> Konzept <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht. Je<strong>des</strong> hysterische<br />

Zustandsbild sollte nun gewollt se<strong>in</strong>. Die Arbeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kretschmer dies nachwies,<br />

trug den Titel: “Die Gesetze <strong>der</strong> willkürlichen Reflexverstärkung <strong>in</strong> ihrer<br />

Bedeutung für das Hysterie- und Simulationsproblem”. 57 Es war ihm nun klar, dass<br />

auch bei hysterischen Erkrankungen die primäre <strong>Willens</strong>beteiligung nicht fehle.<br />

Er nannte es nun e<strong>in</strong>en “Tatbestand …, dass wir e<strong>in</strong>e <strong>Willens</strong>beteiligung bei <strong>der</strong><br />

Entstehung solcher Störungen zu vermuten gezwungen s<strong>in</strong>d, <strong>der</strong>en Ausdrucks-

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