Der Begriff des freien Willens in der Geschichte - Esther Fischer ...

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126 Esther Fischer-Homberger seien in Wirklichkeit Hysteriker, schrieb er da. Nun könne zwar bei Hysterie, wegen ihrer Abhängigkeit von Seelischem, “der Anschein der Willkür entstehen”, doch seien “die Symptome der Hysterie von einer so strengen Gesetzmässigkeit … wie irgendwelche Symptome”. 34 Aber Seeligmüller, wie alle Autoren, die erklärten, die Simulation sei häufig, verstehe eben nichts von Hysterie. Er verstehe, liess Moebius sogar durchblicken, überhaupt nichts von Psychiatrie. “Die Worte Kuehn’s, deren Schärfe Verfasser selbst vertreten mag, lauten: ‘Die Zahl der Simulanten, welche der Arzt beobachtet haben will, steht gewöhnlich in umgekehrtem Verhältnisse mit dem psychiatrischen Wissen des Beobachters’”. 35 Dieser Satz ist in der Folge sehr berühmt und oft zitiert worden. Die Kontroverse zwischen Leuten wie Seeligmüller einerseits, Oppenheim und Moebius andrerseits, waren keineswegs rein akademisch. Es ging dabei vielmehr um sehr reale, praktische Dinge. Wurde das Krankheitsbild der traumatischen Neurose nämlich im Sinne Seeligmüllers auf den freien Willen des Klagenden zurückgeführt, dieser also als Simulant betrachtet, so konnte von Kuraufenthalten und Entschädigung natürlich keine Rede mehr sein. Im Gegensteil: Erziehung und Strafe schienen dann die angemessene Behandlung zu sein. So schlug denn Seeligmüller auch vor, ein Gesetz einzuführen, “welches die Simulation direkt als strafbar hinstellte … Die Strafen hätten zu bestehen: 1. in Rückzahlung der Unkosten … 2. in Gefängnisstrafe mit Zwangsarbeit, 3. in Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, 4. in öffentlicher Bekanntmachung des Vergehens und der Strafen durch die gelesensten Zeitungen”. 36 So haben andrerseits Oppenheim und Moebius weniger aus theoretischen als aus praktisch-ethischen Gründen gegen Seeligmüller, Schultze und andere Simulantenentlarver Stellung genommen. So schrieb zum Beispiel Oppenheim, er kritisiere Schultzes Ansichten, “weil sie, wenn anerkannt …, einen … Rückschritt bedeuten in der Erkenntnis und Würdigung von Krankheitszuständen, deren Beurtheilung nicht etwa ein rein wissenschaftliches Interesse bietet, sondern entscheidend ist für das Geschick … unglücklicher Individuen”. “Die enorme forensische Wichtigkeit dieser Fragen” veranlasse ihn zu seiner besonders raschen und heftigen Stellungnahme. 37 Auch gegen Seeligmüller führte Oppenheim im Laufe seines Streites das ethische Argument ins Feld. Er würde sich in diesen Streit nicht einlassen, schrieb er, wenn er in Seeligmüller nicht eine Gefahr zu bekämpfen hätte, “die Gefahr nämlich, dass der praktische Arzt … ein krankes Individuum der Simulation beschuldige”. 38 Ganz ähnlich bezichtigt Moebius Seeligmüller “einer objectiv inhumanen Behandlung mancher Kranken”. 39 Die Begriffe des freien Willens einerseits, der somatischen Grundlage und des Unbewussten andrerseits waren also nicht nur für die Neurosetheorie wichtig. Sie waren auch von fundamentaler praktischer Bedeutung. Ernst Kretschmer (1888-1964) schrieb deshalb später, dass in praktischer Hinsicht “die ‘organische’ Theorie und die Theorie des Unbewussten trotz äusserster Unähnlichkeit ihrer Voraussetzungen in dem Schutz des Hysterikers vor strenger Verantwortung ein Stück weit zusammentreffen”. 40

Der Begriff des freien Willens 127 Bis zum Ersten Weltkrieg wurde nun die Frage des freien Willens bei traumatischen Neurosen einigermassen im Oppenheim-Moebiusschen Sinne gelöst. Es spielte sich eine zwar wenig einheitliche aber im ganzen grosszügige Begutachtungspraxis ein. Oppenheims Buch galt als ziemlich autoritativ. Die Entlarvung von Simulanten galt dank dem Kuehn-Moebiusschen Satz nicht mehr für fein. Da brach aber 1914 der Krieg und mit ihm die erwähnte furchtbare Kriegsneurosen-Epidemie aus. Scharenweise, zu Tausenden kamen nun plötzlich die sogenannten “Kriegszitterer” in ärztliche Behandlung und verlangten, als traumatische Neurotiker infolge von Granatexplosionen und Ähnlichem dienstentlassen und entschädigt zu werden. Die deutsche Armee wäre, befürchtete man, rasch auf wenig zusammengeschmolzen und die Finanzkraft Deutschlands wäre bald erschöpft gewesen, wenn unter diesen Umständen die Lehren von Oppenheim und Moebius weiter gegolten hätten. Man konnte im Interesse des Vaterlandes die Symptome der Kriegsneurose nicht mehr als determiniert betrachten – man musste die Soldaten mit ihrem freien Willen für sie haftbar machen. Kurzentschlossen stellte man nun wieder auf eine indeterministische Theorie um: man führte, bald naturwissenschaftlich, bald offen pragmatistisch argumentierend, den freien Willen wieder ein. Es “wird uns”, schrieb Kretschmer in diesem Zusammenhang, “die bittere soziale Notwendigkeit zwingen, diesen Neubau aufzurichten. Denn der jetzige Zustand der Unklarheit …, der aus dem Gebiet der Theorie in ärztliche Begutachtungsfragen von grösster sozialer Tragweite hineingreift, ist … unerfreulich … Es ist vor allem das Simulationsproblem der wunde Punkt, an dem die hergebrachte Art der neurologischen Begutachtung bisher … versagt hat”. 41 Man wollte zwar nicht wieder von Simulation und Simulanten sprechen, aber man nannte nun alle Kriegsneurotiker Hysteriker und führte den freien Willen in die Aetiologie der Hysterie ein. Mit dieser Entwicklung eng verwoben war das Sinken des “Krankheitswerts” 42 der Hysterie, wie überhaupt die Begriffe desfreien Willens” und der “Krankheit” sich im Bezug auf ihre praktisch-soziologische Bedeutung oft kontrapunktisch bewegen. 43 Mayer-Gross konnte daher 1919 kritisch bemerken: “Zwei Begriffe sind … bei den Erwägungen über die hysterische Reaktion stark mit Wertungen durchsetzt … Zunächst der Begriff der Krankheit … Der 2. noch erheblich vieldeutigere Begriff … ist der freie Wille”. 44 Man sprach nun davon, dass die Kriegsneurose “nur auf einer gestörten Willenstätigkeit” (Struempell), 45 auf “Willensversagung” (Weygandt), “Willenshemmung” (Boettiger), “Willenssperrung” (Holzmann), 46 “Wille zur Krankheit” 47 beruhe und meinte damit, die Kriegsneurotiker seien für ihr Krankheitsbild selbst verantwortlich. “Der … Arzt …”, schreibt Martin Reichardt 1916 in diesem Sinne, “möge … nicht stets von ‘Nervenschwäche’ sprechen, wenn eine ganz gewöhnliche … Willensschwäche vorliegt”, 48 der Schweizer Otto Nägeli (1871- 1938) 1917: “Also die Leute … wollen nicht”. 49 “Die Hauptschuld bei der Entstehung der traumatischen Neurosen … fällt auf den Unfallpatienten selbst. Ihm gebricht es vielfach am guten Willen, gesund zu werden”. 50 “Das Willensproblem erscheint mir … nach den Kriegserfahrungen das wesentlichste” schreibt Karl Poenitz in

<strong>Der</strong> <strong>Begriff</strong> <strong>des</strong> <strong>freien</strong> <strong>Willens</strong> 127<br />

Bis zum Ersten Weltkrieg wurde nun die Frage <strong>des</strong> <strong>freien</strong> <strong>Willens</strong> bei traumatischen<br />

Neurosen e<strong>in</strong>igermassen im Oppenheim-Moebiusschen S<strong>in</strong>ne gelöst.<br />

Es spielte sich e<strong>in</strong>e zwar wenig e<strong>in</strong>heitliche aber im ganzen grosszügige<br />

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Entlarvung von Simulanten galt dank dem Kuehn-Moebiusschen Satz nicht mehr<br />

für fe<strong>in</strong>.<br />

Da brach aber 1914 <strong>der</strong> Krieg und mit ihm die erwähnte furchtbare<br />

Kriegsneurosen-Epidemie aus. Scharenweise, zu Tausenden kamen nun plötzlich die<br />

sogenannten “Kriegszitterer” <strong>in</strong> ärztliche Behandlung und verlangten, als traumatische<br />

Neurotiker <strong>in</strong>folge von Granatexplosionen und Ähnlichem dienstentlassen und<br />

entschädigt zu werden. Die deutsche Armee wäre, befürchtete man, rasch auf wenig<br />

zusammengeschmolzen und die F<strong>in</strong>anzkraft Deutschlands wäre bald erschöpft<br />

gewesen, wenn unter diesen Umständen die Lehren von Oppenheim und Moebius<br />

weiter gegolten hätten. Man konnte im Interesse <strong>des</strong> Vaterlan<strong>des</strong> die Symptome <strong>der</strong><br />

Kriegsneurose nicht mehr als determ<strong>in</strong>iert betrachten – man musste die Soldaten<br />

mit ihrem <strong>freien</strong> Willen für sie haftbar machen. Kurzentschlossen stellte man nun<br />

wie<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>determ<strong>in</strong>istische Theorie um: man führte, bald naturwissenschaftlich,<br />

bald offen pragmatistisch argumentierend, den <strong>freien</strong> Willen wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>.<br />

Es “wird uns”, schrieb Kretschmer <strong>in</strong> diesem Zusammenhang, “die bittere soziale<br />

Notwendigkeit zw<strong>in</strong>gen, diesen Neubau aufzurichten. Denn <strong>der</strong> jetzige Zustand <strong>der</strong><br />

Unklarheit …, <strong>der</strong> aus dem Gebiet <strong>der</strong> Theorie <strong>in</strong> ärztliche Begutachtungsfragen<br />

von grösster sozialer Tragweite h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>greift, ist … unerfreulich … Es ist vor allem<br />

das Simulationsproblem <strong>der</strong> wunde Punkt, an dem die hergebrachte Art <strong>der</strong> neurologischen<br />

Begutachtung bisher … versagt hat”. 41 Man wollte zwar nicht wie<strong>der</strong> von<br />

Simulation und Simulanten sprechen, aber man nannte nun alle Kriegsneurotiker<br />

Hysteriker und führte den <strong>freien</strong> Willen <strong>in</strong> die Aetiologie <strong>der</strong> Hysterie e<strong>in</strong>. Mit<br />

dieser Entwicklung eng verwoben war das S<strong>in</strong>ken <strong>des</strong> “Krankheitswerts” 42 <strong>der</strong><br />

Hysterie, wie überhaupt die <strong>Begriff</strong>e <strong>des</strong> “<strong>freien</strong> <strong>Willens</strong>” und <strong>der</strong> “Krankheit” sich<br />

im Bezug auf ihre praktisch-soziologische Bedeutung oft kontrapunktisch bewegen.<br />

43 Mayer-Gross konnte daher 1919 kritisch bemerken: “Zwei <strong>Begriff</strong>e s<strong>in</strong>d …<br />

bei den Erwägungen über die hysterische Reaktion stark mit Wertungen durchsetzt<br />

… Zunächst <strong>der</strong> <strong>Begriff</strong> <strong>der</strong> Krankheit … <strong>Der</strong> 2. noch erheblich vieldeutigere<br />

<strong>Begriff</strong> … ist <strong>der</strong> freie Wille”. 44 Man sprach nun davon, dass die Kriegsneurose<br />

“nur auf e<strong>in</strong>er gestörten <strong>Willens</strong>tätigkeit” (Struempell), 45 auf “<strong>Willens</strong>versagung”<br />

(Weygandt), “<strong>Willens</strong>hemmung” (Boettiger), “<strong>Willens</strong>sperrung” (Holzmann), 46<br />

“Wille zur Krankheit” 47 beruhe und me<strong>in</strong>te damit, die Kriegsneurotiker seien für ihr<br />

Krankheitsbild selbst verantwortlich. “<strong>Der</strong> … Arzt …”, schreibt Mart<strong>in</strong> Reichardt 1916<br />

<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne, “möge … nicht stets von ‘Nervenschwäche’ sprechen, wenn e<strong>in</strong>e<br />

ganz gewöhnliche … <strong>Willens</strong>schwäche vorliegt”, 48 <strong>der</strong> Schweizer Otto Nägeli (1871-<br />

1938) 1917: “Also die Leute … wollen nicht”. 49 “Die Hauptschuld bei <strong>der</strong> Entstehung<br />

<strong>der</strong> traumatischen Neurosen … fällt auf den Unfallpatienten selbst. Ihm gebricht<br />

es vielfach am guten Willen, gesund zu werden”. 50 “Das <strong>Willens</strong>problem ersche<strong>in</strong>t<br />

mir … nach den Kriegserfahrungen das wesentlichste” schreibt Karl Poenitz <strong>in</strong>

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