Der Begriff des freien Willens in der Geschichte - Esther Fischer ...

Der Begriff des freien Willens in der Geschichte - Esther Fischer ... Der Begriff des freien Willens in der Geschichte - Esther Fischer ...

fischer.homberger.ch.galvani.ch.meta.net
von fischer.homberger.ch.galvani.ch.meta.net Mehr von diesem Publisher
21.01.2013 Aufrufe

124 Esther Fischer-Homberger wenn die Staatsbürger nicht … tief durchdrungen sind, von der … Wahrheit, dass ihnen ein freier Wille gegeben ist …”. 18 Eine Schwierigkeit stand der indeterministischen Interpretation der traumatischen Neurose immer wieder in Gestalt von Symptomen entgegen, die nicht als willensabhängig gelten konnten. Diese Schwierigkeit wurde in verschiedener Weise gelöst. Man führte solche Symptome zum Beispiel auf eine neben der Simulation bestehende echte Krankheit zurück oder man schrieb sie der Gewissensangst der Simulanten zu – wie zum Beispiel Friedrich Schultze (1848-1934), der mit den 30 bis 50% Simulanten, die er unter den traumatischen Neurotikern fand, akademischer Hauptopponent Oppenheims war. 19 Den Indeterministen unter den Aerzten standen die Aerzte gegenüber, die kaum je eine simulierte Unfallneurose fanden. Sie hielten dieses Krankheitsbild für determiniert. Selbst eine allfällige Neigung der Unfallneurotiker zu Krankheits- Vorspiegelung hielten sie für ein regelrechtes Krankheitszeichen und notwendige Folge des Unfalles. 20 Doch gab es zweierlei Typen von solchen Deterministen: die einen dachten somatisch-medizinisch, die anderen psychologisch. Zu den Somatikern gehörte der bereits genannte Neurologe Hermann Oppenheim. Oppenheim hielt die von ihm so genannte traumatische Neurose für ein mit der Neurasthenie und der Hysterie verwandtes, aber nicht identisches Leiden. 21 Von J. M. Charcot (1825- 1893) und Karl Westphal (1833-1890) beeinflusst, 22 war er überzeugt, dass ihr ein alteriertes Nervengewebe zugrunde liege. Bei der hystero-traumatischen Lähmung zum Beispiel dachte er an “moleculare Umlagerung” “im peripherischen Nervenapparat”. 23 Auch bei der Hysterie nahm Oppenheim Veränderungen in der Nervenstruktur an. Es sei schwer, schreibt er, sich die Erscheinungen der Hysterie zu erklären, die “so ganz unter dem Einflusse der Willkür zu stehen scheinen … Sehr verbreitet ist denn auch noch unter Aerzten und Laien die Vorstellung, welche in dem Symptomenbild der Hysterie ein Product der Simulation erblickt … Auch der vorsichtige Arzt wird diesen Erscheinungen gegenüber immer wieder von Zweifeln ergriffen und kann beim Anblick eines an hysterischen Lähmungs- oder Krampfzuständen leidenden Individuums zuweilen die Erwägung nicht unterdrücken: ‘Wenn du anders wolltest, du könntest anders’.” Nichtsdestoweniger seien die Symptome der Hysterie reell, wahrscheinlich liege ihnen eine “erhöhte Labilität, eine verminderte ‘innere Reibung’ der Molecule … durch welche Erregungen leichter ausgelöst werden”, zugrunde. Der Hysteriker könne eben nicht mehr wollen. “Die hysterische Lähmung ist eine echte Lähmung, dort, wo der Wille auf die motorische Sphäre übergreift, muss ein Leitungshinderniss und zwar nach unserer Vorstellung ein moelculares (eine moeculare Umlagerung?) vorliegen ...”. 24 Für Oppenheim war also, was anderen als Produkt eines betrügerischen Willensaktes erschien, notwendige Folge körperlicher Gegebenheiten. Entsprechend fand er unter seinen traumatischen Neurotikern kaum je einen Simulanten. Er setzte sich damit bewusst in Gegensatz zum Bahnarzt Rigler und allen anderen Autoren, die hohe Prozentsätze von Simulation konstatierten. 25 Er

Der Begriff des freien Willens 125 geriet damit auch in heftigen Streit mit Adolf Seeligmüller, welcher ihm gerade dies als “bedauerliche Lücke in seinen Erfahrungen und … nicht zu verschweigenden Mangel seines Buches” brandmarkte. 26 Man musste die Symptome der traumatischen Neurose aber nicht unbedingt auf somatische Veränderungen zurückführen, um sie als notwendige Folgen eines Traumas auffassen zu können. Man konnte sie auch für psychologisch determiniert ansehen. Dies tat zum Beispiel Paul Julius Moebius (1853-1907). Moebius, der ursprünglich Theologie und Philosophie studiert hatte und bei Struempell Assistent gewesen war, 27 stand also auf anderen theoretischen Grundlagen als Oppenheim, aber doch auf Oppenheims Seite. Für ihn war die traumatische Neurose ganz einfach eine traumatische Hysterie. Die Hysterie aber war für ihn eine seelische Krankheit. Ihre Ursachen waren für ihn nicht somatisch-medizinisch, sondern nur psychologisch erfassbar. “Hysterisch”, so lautet seine berühmt gewordene Definition, “sind alle diejenigen krankhaften Veränderungen des Körpers, welche durch Vorstellungen verursacht sind.” 28 Damit allein wäre den hysterischen Neurotikern die Verantwortlichkeit für ihr Krankheitsbild allerdings noch nicht abgenommen gewesen. Denn sind “Vorstellungen” nicht durch den bewussten Willen, den doch gerade die Psychologie als eine unreduzierbare Grösse anerkennen muss, modifizierbar? Ist überhaupt eine psychologische Kausalreihe denkbar, die mit Notwendigkeit von einer Vorstellung zu einem Symptom führt? Eine solche Kausalreihe ist allerdings denkbar – falls sie ihren Weg durch einen psychischen Bereich nimmt, der dem Zugriff des Bewusstseins und damit des bewussten Willens entzogen ist: falls sie durch das “Unbewusste” führt. So schrieb auch Moebius, seine Ansicht präzisierend: “Der Vorgang, durch welchen die Vorstellung die Lähmung oder was sonst bewirkt, liegt ausserhalb des Bewusstseins.” Die hysterischen Erscheinungen werden “vom Kranken nicht absichtlich hervorgerufen”. 29 Dass Moebius die traumatische Neurose als eine Form von Hysterie betrachtete, war in diesem Sinne alles andere als eine zufällige terminologische Einzelheit. Die Hysterie ist ja bekanntlich gerade in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zum Paradigma eines Krankheitsbildes geworden, bei dessen Entstehung unbewusst Psychisches eine zentrale Rolle spielte. 30 Nicht zufällig hat Pierre Janet (1859-1947) sich für die Hysterie speziell interessiert. Im Studium der Hysterie haben ja auch Charcot, Joseph Breuer (1842-1925) und Sigmund Freud (1856-1939) ihre Konzeptionen von einem Unbewussten entwickelt. 31 Die Hysterie war zur Zeit, da Moebius arbeitete, ein psychisches Leiden, das vom freien Willen des Betroffenen ganz wesentlich unabhängig war. Dies wurde 1893 durch Freud und Breuers Begriff des hysterischen Gegenwillens 32 noch unterstrichen. So konnte Moebius, wiewohl er über die Natur der traumatischen Neurose ganz anders dachte als Oppenheim, sich genau wie dieser in Gegensatz zu den Simulantenjägern stellen. Tatsächlich hat er 1890 und 1891 zwei Artikel gegen Seeligmüller verfasst. 33 Die meisten Patienten, die für Simulanten erklärt würden,

124 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-Homberger<br />

wenn die Staatsbürger nicht … tief durchdrungen s<strong>in</strong>d, von <strong>der</strong> … Wahrheit, dass<br />

ihnen e<strong>in</strong> freier Wille gegeben ist …”. 18<br />

E<strong>in</strong>e Schwierigkeit stand <strong>der</strong> <strong>in</strong>determ<strong>in</strong>istischen Interpretation <strong>der</strong> traumatischen<br />

Neurose immer wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Gestalt von Symptomen entgegen, die nicht als willensabhängig<br />

gelten konnten. Diese Schwierigkeit wurde <strong>in</strong> verschiedener Weise<br />

gelöst. Man führte solche Symptome zum Beispiel auf e<strong>in</strong>e neben <strong>der</strong> Simulation<br />

bestehende echte Krankheit zurück o<strong>der</strong> man schrieb sie <strong>der</strong> Gewissensangst <strong>der</strong><br />

Simulanten zu – wie zum Beispiel Friedrich Schultze (1848-1934), <strong>der</strong> mit den 30<br />

bis 50% Simulanten, die er unter den traumatischen Neurotikern fand, akademischer<br />

Hauptopponent Oppenheims war. 19<br />

Den Indeterm<strong>in</strong>isten unter den Aerzten standen die Aerzte gegenüber, die<br />

kaum je e<strong>in</strong>e simulierte Unfallneurose fanden. Sie hielten dieses Krankheitsbild<br />

für determ<strong>in</strong>iert. Selbst e<strong>in</strong>e allfällige Neigung <strong>der</strong> Unfallneurotiker zu Krankheits-<br />

Vorspiegelung hielten sie für e<strong>in</strong> regelrechtes Krankheitszeichen und notwendige<br />

Folge <strong>des</strong> Unfalles. 20<br />

Doch gab es zweierlei Typen von solchen Determ<strong>in</strong>isten: die e<strong>in</strong>en dachten<br />

somatisch-mediz<strong>in</strong>isch, die an<strong>der</strong>en psychologisch. Zu den Somatikern gehörte<br />

<strong>der</strong> bereits genannte Neurologe Hermann Oppenheim. Oppenheim hielt die von<br />

ihm so genannte traumatische Neurose für e<strong>in</strong> mit <strong>der</strong> Neurasthenie und <strong>der</strong><br />

Hysterie verwandtes, aber nicht identisches Leiden. 21 Von J. M. Charcot (1825-<br />

1893) und Karl Westphal (1833-1890) bee<strong>in</strong>flusst, 22 war er überzeugt, dass ihr<br />

e<strong>in</strong> alteriertes Nervengewebe zugrunde liege. Bei <strong>der</strong> hystero-traumatischen<br />

Lähmung zum Beispiel dachte er an “moleculare Umlagerung” “im peripherischen<br />

Nervenapparat”. 23 Auch bei <strong>der</strong> Hysterie nahm Oppenheim Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Nervenstruktur an. Es sei schwer, schreibt er, sich die Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>der</strong> Hysterie<br />

zu erklären, die “so ganz unter dem E<strong>in</strong>flusse <strong>der</strong> Willkür zu stehen sche<strong>in</strong>en …<br />

Sehr verbreitet ist denn auch noch unter Aerzten und Laien die Vorstellung, welche<br />

<strong>in</strong> dem Symptomenbild <strong>der</strong> Hysterie e<strong>in</strong> Product <strong>der</strong> Simulation erblickt …<br />

Auch <strong>der</strong> vorsichtige Arzt wird diesen Ersche<strong>in</strong>ungen gegenüber immer wie<strong>der</strong><br />

von Zweifeln ergriffen und kann beim Anblick e<strong>in</strong>es an hysterischen Lähmungs-<br />

o<strong>der</strong> Krampfzuständen leidenden Individuums zuweilen die Erwägung nicht unterdrücken:<br />

‘Wenn du an<strong>der</strong>s wolltest, du könntest an<strong>der</strong>s’.” Nichts<strong>des</strong>toweniger<br />

seien die Symptome <strong>der</strong> Hysterie reell, wahrsche<strong>in</strong>lich liege ihnen e<strong>in</strong>e “erhöhte<br />

Labilität, e<strong>in</strong>e verm<strong>in</strong><strong>der</strong>te ‘<strong>in</strong>nere Reibung’ <strong>der</strong> Molecule … durch welche<br />

Erregungen leichter ausgelöst werden”, zugrunde. <strong>Der</strong> Hysteriker könne eben<br />

nicht mehr wollen. “Die hysterische Lähmung ist e<strong>in</strong>e echte Lähmung, dort, wo<br />

<strong>der</strong> Wille auf die motorische Sphäre übergreift, muss e<strong>in</strong> Leitungsh<strong>in</strong><strong>der</strong>niss und<br />

zwar nach unserer Vorstellung e<strong>in</strong> moelculares (e<strong>in</strong>e moeculare Umlagerung?)<br />

vorliegen ...”. 24 Für Oppenheim war also, was an<strong>der</strong>en als Produkt e<strong>in</strong>es betrügerischen<br />

<strong>Willens</strong>aktes erschien, notwendige Folge körperlicher Gegebenheiten.<br />

Entsprechend fand er unter se<strong>in</strong>en traumatischen Neurotikern kaum je e<strong>in</strong>en<br />

Simulanten. Er setzte sich damit bewusst <strong>in</strong> Gegensatz zum Bahnarzt Rigler und<br />

allen an<strong>der</strong>en Autoren, die hohe Prozentsätze von Simulation konstatierten. 25 Er

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!