Der Begriff des freien Willens in der Geschichte - Esther Fischer ...
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<strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-Homberger<br />
und die Betroffenen wurden entsprechend dienstentlassen und mit Renten versorgt.<br />
Bald aber wurde es offensichtlich, dass nicht die Granatexplosion, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Wunsch<br />
nach Dienstfreiheit die hauptsächliche Ursache <strong>der</strong> Kriegshysterie sei. Entsprechend<br />
wurde nun e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Art von Behandlung <strong>der</strong> Kriegszitterer üblich: Dienstentlassung<br />
und Entschädigung kamen nicht mehr <strong>in</strong> Frage, die rationale Therapie war nun<br />
Austreibung <strong>der</strong> pathogenen Rückzugswünsche und Stärkung <strong>des</strong> Kampfwillens. Wir<br />
werden weiter unten hierauf zurückkommen.<br />
So s<strong>in</strong>d den traumatischen Neurotikern durch den Krieg die Vorteile wie<strong>der</strong><br />
entzogen worden, die ihnen die Eisenbahnunfall-Haftpflicht gebracht hatte. Im<br />
Zusammenhang damit war nach dem Ersten Weltkrieg die traumatische Neurose nicht<br />
mehr so häufig und nicht mehr so vieldiskutiert wie vorher. Sie war nun auch, da sie<br />
eher als soziologisches denn als mediz<strong>in</strong>isches Phänomen aufgefasst wurde, nicht<br />
mehr so sehr e<strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>isches, als vielmehr e<strong>in</strong> juristisches, versicherungstechnisches<br />
und soziologisches Problem. In e<strong>in</strong>em gewissen S<strong>in</strong>ne war ihre <strong>Geschichte</strong> um<br />
1930 abgeschlossen.<br />
Es soll nun hier speziell über die Rolle <strong>des</strong> <strong>Begriff</strong>s <strong>des</strong> <strong>freien</strong> <strong>Willens</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> traumatischen Neurose berichtet werden.<br />
Die Frage nach <strong>der</strong> <strong>Willens</strong>freiheit wird heute seltener gestellt als zur Blütezeit<br />
<strong>der</strong> traumatischen Neurose. Wohl steht sie noch immer h<strong>in</strong>ter vielen Diskussionen<br />
über Krankhaftigkeit, Schuldhaftigkeit, Verantwortlichkeit <strong>des</strong> Verhaltens psychiatrischer<br />
Patienten, wohl taucht sie noch heute, beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> Spannungssituationen,<br />
bei Angehörigen, Mitpatienten, Pflegepersonal und auch bei Aerzten immer wie<strong>der</strong> –<br />
meist gleichzeitig mit Strafimpulsen – auf: ist <strong>der</strong> Patient vielleicht gar nicht krank?<br />
Macht er alles absichtlich? Fehlt ihm nichts als <strong>der</strong> gute Wille? Von <strong>der</strong> Praxis losgelöst<br />
und pr<strong>in</strong>zipiell wird die Frage nach <strong>der</strong> ursächlichen Beteiligung <strong>des</strong> <strong>freien</strong> <strong>Willens</strong><br />
an psychiatrischen Krankheitsbil<strong>der</strong>n heute aber nicht mehr häufig diskutiert. Sie gilt<br />
vielfach als theoretisch unlösbar, unwichtig o<strong>der</strong> falsch gestellt.<br />
Zur Blütezeit <strong>der</strong> traumatischen Neurose war das ganz an<strong>der</strong>s. Gerade von <strong>der</strong> Mitte<br />
<strong>des</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts an bis <strong>in</strong> die 1930er Jahre war die menschliche <strong>Willens</strong>freiheit<br />
ganz generell e<strong>in</strong> sehr häufig und äusserst <strong>in</strong>tensiv diskutiertes Thema. Schon Kant<br />
und Schopenhauer hatten die Frage, ob und <strong>in</strong>wieweit <strong>der</strong> Mensch willensfrei sei,<br />
für ihre Zeit neu belebt. Zwischen etwa 1880 und dem Ersten Weltkrieg aber wurde<br />
e<strong>in</strong>e nie vorher und auch seither nicht mehr gesehene Menge von Literatur über<br />
diese Frage publiziert. Das 19. und <strong>der</strong> Anfang <strong>des</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts waren von <strong>der</strong><br />
Idee <strong>des</strong> Determ<strong>in</strong>ismus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ausmass, von dem wir uns heute kaum mehr e<strong>in</strong>e<br />
Vorstellung machen, fasz<strong>in</strong>iert. Nicht nur physikalisches und chemisches Geschehen<br />
sollte fest determ<strong>in</strong>iert se<strong>in</strong>, auch h<strong>in</strong>ter biologischen und historischen, ja überhaupt<br />
h<strong>in</strong>ter allen Phänomenen witterte man nun unausweichliche Naturgesetze. Es war die<br />
Zeit <strong>der</strong> Darw<strong>in</strong>schen Evolutionslehre, <strong>des</strong> physiologischen Determ<strong>in</strong>ismus von Claude