Der Begriff des freien Willens in der Geschichte - Esther Fischer ...

Der Begriff des freien Willens 133
“eigenen geschlossenen Gesetzmässigkeiten” funktionierten. 84 Entsprechend hat
Kretschmer später auch seine Theorie vom alten Kleid abgelegt. 1943 sagte er in einer
Rede, die er als Dekan der medizinischen Fakultät in Marburg hielt: “Die Wissenschaft
... ist kein Schauspiel ... Für sie gibt es keine pathetische Wahrheit, die man heute bejubelt
und morgen verwirft. Für sie gibt es nur die eine klare Frage: richtig oder falsch.
Hinter dieser Frage steht der Verzicht auf alle Attrappen und hohlen Worte, der unerbittliche
Verzicht auf die bequemen Denkformen der Tagesmeinung, die unendliche
Mühsal des Suchens und die schlichte Treue der Beobachtung und des Urteils”. 85
Der junge Kretschmer hat in einer Zeit gelebt, die es als fortschrittlich empfand,
wenn ihre Medizin weniger nach wissenschaftlicher Erkenntnis und dem Wohl des
Einzelnen fragte als nach dem sozialen Ganzen. Der ältere Kretschmer hatte das Dritte
Reich gesehen und daraus seine Konsequenzen gezogen.
ANMERKUNGEN
1. Vgl. ERICHSEN, JOHN ERIC, On railway and other injuries of the nervous system. London 1866, S. 1–9.
2. Diese Entwicklung knüpft sich an die Namen HERBERT PAGE, G. L. WALTON, JAMES THOMSEN.
Vgl. ELLENBERGER, H. F., La conférence de Freud sur l’hystérie masculine. Inform. psychiat. XLIV (1968), S.
922–923;
FISCHER-HOMBERGER, ESTHER, Ursachen der traumatischen Neurose von der “Railway spine” bis nach dem
Ersten Weltkrieg. Noch unpubliziert [1975 herausgekommen als: Die traumatische Neurose. Vom somatischen
zum sozialen Leiden, Bern-Stuttgart-Wien; Neuauflage Giessen 2004].
3. OPPENHEIM, HERMANN, Wie sind die Erkrankungen des Nervensystems aufzufassen, welche sich nach
Erschütterung des Rückenmarkes, insbesondere Eisenbahnunfällen, entwickeln? Berl. klin. Wschr. (1888), S.
170 (Referat: Wie sind diejenigen Fälle von Neurasthenie aufzufassen...? Dtsche med. Wschr. XIV [1888]);
OPPENHEIM, HERMANN, Die traumatischen Neurosen nach den in der Nervenklinik der Charité in den letzten
5 Jahren gesammelten Beobachtungen. Berlin 1889.
4. Vgl. LEYDEN, ERNST VON, Klinik der Rückenmarks-Krankheiten. Bd 2, Berlin 1875, S. 93;
ERB, WILHELM, Krankheiten des Rückenmarks (=Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie, hrsg. v. H.
v. ZIEMSSEN, Bd 11, 2. Hlfte). 2. Aufl., Leipzig 1878, S. 368;
OPPENHEIM (1889) Die traumatischen Neurosen..., S. 125.
5. Diese Entwicklung knüpft sich an die Namen HERBERT PAGE, KARL MOELI, HERMANN OPPENHEIM, ADOLF
STRUEMPELL und EMIL KRAEPELIN.
6. STRUEMPELL, ADOLF, Ueber die Untersuchung, Beurtheilung und Behandlung von Unfallkranken. Münch.
med. Wschr. XLII (1895), S. 1137.
7. NAEGELI, OTTO, Unfalls- und Begehrungsneurosen (=Neue Deutsche Chirurgie, Bd 22). Stuttgart 1917;
STIER, EWALD, Die traumatischen Neurosen (=Spezielle Pathologie und Therapie innerer Krankheiten, hrsg. v.
F. KRAUS und TH. BRUGSCH, Bd 10, 3. Teil). Berlin-Wien 1924, S. 295;
PICCARD, P., Versicherungsneurosen. In: LAUBER, W., Praxis des sozialen Unfallversicherungsrechts der
Schweiz, Bern 1928, S. 309.