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Der Begriff des freien Willens in der Geschichte - Esther Fischer ...

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<strong>Der</strong> <strong>Begriff</strong> <strong>des</strong> <strong>freien</strong> <strong>Willens</strong> 131<br />

und “durchfahrende[r] Pädagogik” 74 als von Therapie. “Denn dies ist klar”, schreibt<br />

Kretschmer, “es gibt e<strong>in</strong>e Grenze, wo das Recht <strong>des</strong> Hysterikers, speziell <strong>des</strong> Gewohnheitshysterikers,<br />

auf Behandlung e<strong>in</strong> Ende f<strong>in</strong>det. Nicht je<strong>der</strong> Dysbatiker, dem<br />

<strong>der</strong> schlechte Wille auf <strong>der</strong> Stirn geschrieben steht, kann verlangen, dass sich die ersten<br />

fachärztlichen Autoritäten um ihn bemühen...”. 75<br />

Die Lehre von <strong>der</strong> Psychogenie <strong>der</strong> traumatischen Neurosen hatte sich mith<strong>in</strong><br />

durchgesetzt. Psychogenie hiess aber zugleich: <strong>Willens</strong>abhängigkeit. Hätte man mit<br />

dem <strong>Begriff</strong> <strong>der</strong> Psychogenie die Idee eigengesetzlicher unbewusster Vorgänge verbunden,<br />

wäre <strong>der</strong> Gew<strong>in</strong>n <strong>der</strong> neuen Lehre verloren gewesen.<br />

Man wendete sich nun also nicht nur gegen die somatisch-mediz<strong>in</strong>ische<br />

Erschütterungstheorie, son<strong>der</strong>n auch gegen die Theorie vom Unbewussten. Dies tat<br />

charakteristischerweise wie<strong>der</strong>um vor allem Ernst Kretschmer. Schon 1917 schrieb<br />

er, er halte “die Annahme unterbewusster Vorgänge, soweit es sich nicht um klare<br />

hysterische Krankheiten, das heisst um willensmässig unerklärbare D<strong>in</strong>ge handelt,<br />

für e<strong>in</strong>e überflüssige Hilfsvorstellung, nur geeignet, das feste Urteil, das wir zur<br />

Behandlung und Begutachtung <strong>des</strong> Hysterikers so notwendig brauchen, zu verwirren”.<br />

76 Und 1918, <strong>in</strong> <strong>der</strong>selben Arbeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er feststellt, die organische Theorie und<br />

die Theorie <strong>des</strong> Unbewussten träfen <strong>in</strong> praktischer H<strong>in</strong>sicht zusammen, schreibt<br />

er, die Psychologen seien unter sich une<strong>in</strong>s. “Die e<strong>in</strong>e Partei sucht möglichst ohne<br />

Umschweif bewusste <strong>Willens</strong>vorgänge <strong>in</strong> weitem Umfang als Hauptschuldige h<strong>in</strong>ter<br />

den hysterischen Ersche<strong>in</strong>ungsformen zu entlarven, diese letzteren also möglichst<br />

nahe an die Simulation heranzurücken... Die an<strong>der</strong>e Partei sucht dagegen umgekehrt<br />

von <strong>der</strong> Annahme unbewusster Seelenvorgänge, die auf komplizierten Bahnen ihr<br />

Erfolgsorgan bee<strong>in</strong>flussen, möglichst ausgiebigen Gebrauch zu machen und so die<br />

Verantwortung für se<strong>in</strong>e Symptome <strong>in</strong> demselben Mass dem Hysteriker abzunehmen,<br />

wie jene an<strong>der</strong>e sie ihm zuschiebt. Diese Gedankenrichtung nährt sich vor allem aus<br />

den theoretischen Anschauungen <strong>der</strong> psychoanalytischen Schule”. 77 “Wir haben”,<br />

schreibt <strong>der</strong> <strong>Willens</strong>theoretiker darauf, “alle ... Kausalketten pünktlich durchgesehen<br />

– und ke<strong>in</strong>e Lücke gefunden ... E<strong>in</strong> hypothetisches X ist nirgends <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechnung<br />

aufgetreten. We<strong>der</strong> organisch bed<strong>in</strong>gte Umlagerungen und Reizvorgänge mussten<br />

zur Erklärung herangezogen werden, noch unverantwortliche Wirkungen aus den<br />

Tiefen e<strong>in</strong>es abgesperrten Unterbewusstse<strong>in</strong>s”. 78 1919 publizierte Kretschmer dann<br />

e<strong>in</strong>e zusammenfassende Arbeit “Zur Kritik <strong>des</strong> Unbewussten”. 79 “Noch nie hat e<strong>in</strong><br />

theoretisch konstruierter Hilfsbegriff so sehr praktisches Handeln tyrannisch beherrscht,<br />

wie dieses Unbewusste o<strong>der</strong> Unterbewusste, noch nie ist e<strong>in</strong> solcher so<br />

mit dem vollen Kurswert e<strong>in</strong>er längsterkannten Wahrheit beliehen von Hand zu<br />

Hand gegangen”, schreibt er da e<strong>in</strong>leitend. Am Anfang habe die Hypothese vom<br />

Unbewussten auf die Neurosenlehre befruchtend gewirkt, fährt er fort. “Verfolgt<br />

man nun aber die Entwicklung <strong>der</strong> Theorie <strong>des</strong> Unbewussten weiter, so ergibt<br />

sich, dass sie das typische Schicksal dieser Gedankend<strong>in</strong>ge erlitt. Sie wurde aus<br />

e<strong>in</strong>er Arbeitshypothese zu e<strong>in</strong>em Schuldogma. Je mehr ihr von allen Seiten fester<br />

Wahrheitswert beigelegt wurde, <strong>des</strong>to weniger zeigte sie sich mehr heuristisch<br />

produktiv. Ueberschlagen wir jetzt am Kriegsende, was uns gegenüber den riesi-

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