Der Begriff des freien Willens in der Geschichte - Esther Fischer ...

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130 Esther Fischer-Homberger Neurologe bin, so erregte wissenschaftliche Verhandlungen nie wieder erlebt, aber der Erfolg war der Mühe wert. Schon wenige Tage nach der Münchener Versammlung erklärte Oppenheim seinen Rücktritt als Vorsitzender der Gesellschaft mit der Begründung: ‘Wenn eine überwältigende Majorität meine wissenschaftlichen Erkenntnisse ablehnt, kann ich Vertrauen nicht mehr beanspruchen”. Oppenheim ist aus seinem Depressionszustand nie mehr ganz herausgekommen”. 62 Oppenheim ist 1919 gestorben. Natürlich ging es auch bei diesem Kampf gegen Oppenheims Lehre keineswegs nur um ein theoretisches Problem. Auch hier ging es um etwas sehr Konkretes: um das Vaterland. Ewald Stier (geb. 1874)schrieb 1916 über Oppenheims Annahme organischmaterieller Veränderungen bei traumatischen Nervenleiden, sie sei “geradezu verhängnisvoll in praktisch-materieller Beziehung”. 63 “Es muss mit Nachdruck den Bestrebungen Oppenheims entgegengetreten werden, die Fälle von traumatischer Neurose, Hysterie etc. den organischen Fällen anzunähern”, schrieb auch Max Lewandowsky (1876–1918) 1915. “Es liegt mir ebenso wie allen anderen Neurologen durchaus fern, die hysterisch Erkrankten oder die traumatischen Neurosen vom moralischen Standpunkt aus irgendwie zu kennzeichnen ... Für einen Gesichtspunkt ist aber doch die Auffassung dieser Dinge als rein psychisch bedingter Erkrankungen ausserordentlich wichtig, und zwar für die Bemessung der Entschädigungsansprüche durch Dienstbeschädigung. Ich bin der Ansicht, dass man bei den funktionellen Erkrankungen die Rente sehr gering festsetzen muss ...”. 64 Aehnlich äusserten sich Nonne 65 und Alfred Saenger (1860–1921). “Der jetzt wieder ausgebrochene Streit unter den Neurologen ... muss bald ausgefochten werden, damit nicht wieder ein solcher Zustand eintritt, wie wir ihn nach Erscheinen der Oppenheimschen Schrift ‘Die traumatischen Neurosen’ erlebt haben. Tausende von Unfallneurotikern sind ... viel zu weichlich, mitleidig und prognostisch falsch beurteilt worden” schrieb Saenger, und er schloss: “Es besteht ... die Gefahr, die im Kriege erworbenen Neurosen falsch zu bezeichnen... Dies schliesst ... eine grosse wirtschaftliche Schädigung unseres Vaterlandes in sich”. 66 Auch die Theorie von der Willensabhängigkeit der Kriegshysterie war nicht grau und blutleer. Sie hatte auch ihre blutigen Konsequenzen. Sie rechtfertigte eine willenskräftigende Therapie (die auch “psychische Behandlung” 67 genannt wurde) durch “kalte Duschen, kalte Packungen usw.”, 68 Isolierkuren, Urlaubsverweigerung, 69 scharfe Marschübungen und Exerzieren, 70 heilsamen Schützengraben- und Frontdienst 71 und durch die beliebte Applikation schmerzhafter elektrischer Ströme nach Kaufmann, 72 eine Therapie, die sich fundamental von der Ruhe- und Erholungstherapie der Vorkriegszeit unterschied. Für Kretschmer rechtfertigte die Theorie von der Willensabhängigkeit der Kriegsneurose vor allem die Ausschliessung der Kriegshysteriker aus dem ärztlichen Gesichtsfeld und Tätigkeitsbereich. Er sprach denn auch lieber von “physiologischer Willensübung” 73
Der Begriff des freien Willens 131 und “durchfahrende[r] Pädagogik” 74 als von Therapie. “Denn dies ist klar”, schreibt Kretschmer, “es gibt eine Grenze, wo das Recht des Hysterikers, speziell des Gewohnheitshysterikers, auf Behandlung ein Ende findet. Nicht jeder Dysbatiker, dem der schlechte Wille auf der Stirn geschrieben steht, kann verlangen, dass sich die ersten fachärztlichen Autoritäten um ihn bemühen...”. 75 Die Lehre von der Psychogenie der traumatischen Neurosen hatte sich mithin durchgesetzt. Psychogenie hiess aber zugleich: Willensabhängigkeit. Hätte man mit dem Begriff der Psychogenie die Idee eigengesetzlicher unbewusster Vorgänge verbunden, wäre der Gewinn der neuen Lehre verloren gewesen. Man wendete sich nun also nicht nur gegen die somatisch-medizinische Erschütterungstheorie, sondern auch gegen die Theorie vom Unbewussten. Dies tat charakteristischerweise wiederum vor allem Ernst Kretschmer. Schon 1917 schrieb er, er halte “die Annahme unterbewusster Vorgänge, soweit es sich nicht um klare hysterische Krankheiten, das heisst um willensmässig unerklärbare Dinge handelt, für eine überflüssige Hilfsvorstellung, nur geeignet, das feste Urteil, das wir zur Behandlung und Begutachtung des Hysterikers so notwendig brauchen, zu verwirren”. 76 Und 1918, in derselben Arbeit, in der er feststellt, die organische Theorie und die Theorie des Unbewussten träfen in praktischer Hinsicht zusammen, schreibt er, die Psychologen seien unter sich uneins. “Die eine Partei sucht möglichst ohne Umschweif bewusste Willensvorgänge in weitem Umfang als Hauptschuldige hinter den hysterischen Erscheinungsformen zu entlarven, diese letzteren also möglichst nahe an die Simulation heranzurücken... Die andere Partei sucht dagegen umgekehrt von der Annahme unbewusster Seelenvorgänge, die auf komplizierten Bahnen ihr Erfolgsorgan beeinflussen, möglichst ausgiebigen Gebrauch zu machen und so die Verantwortung für seine Symptome in demselben Mass dem Hysteriker abzunehmen, wie jene andere sie ihm zuschiebt. Diese Gedankenrichtung nährt sich vor allem aus den theoretischen Anschauungen der psychoanalytischen Schule”. 77 “Wir haben”, schreibt der Willenstheoretiker darauf, “alle ... Kausalketten pünktlich durchgesehen – und keine Lücke gefunden ... Ein hypothetisches X ist nirgends in der Rechnung aufgetreten. Weder organisch bedingte Umlagerungen und Reizvorgänge mussten zur Erklärung herangezogen werden, noch unverantwortliche Wirkungen aus den Tiefen eines abgesperrten Unterbewusstseins”. 78 1919 publizierte Kretschmer dann eine zusammenfassende Arbeit “Zur Kritik des Unbewussten”. 79 “Noch nie hat ein theoretisch konstruierter Hilfsbegriff so sehr praktisches Handeln tyrannisch beherrscht, wie dieses Unbewusste oder Unterbewusste, noch nie ist ein solcher so mit dem vollen Kurswert einer längsterkannten Wahrheit beliehen von Hand zu Hand gegangen”, schreibt er da einleitend. Am Anfang habe die Hypothese vom Unbewussten auf die Neurosenlehre befruchtend gewirkt, fährt er fort. “Verfolgt man nun aber die Entwicklung der Theorie des Unbewussten weiter, so ergibt sich, dass sie das typische Schicksal dieser Gedankendinge erlitt. Sie wurde aus einer Arbeitshypothese zu einem Schuldogma. Je mehr ihr von allen Seiten fester Wahrheitswert beigelegt wurde, desto weniger zeigte sie sich mehr heuristisch produktiv. Ueberschlagen wir jetzt am Kriegsende, was uns gegenüber den riesi-
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