Charcot und die Ätiologie der Neurosen - Esther Fischer-Homberger
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weil sie seit LOCKE <strong>und</strong> HERBART von <strong>der</strong> Psychologie gepachtet worden<br />
waren, son<strong>der</strong>n auch, weil sie eigentlich einem psychologischen Bezugssystem<br />
ent stammten. Die psychologische Antwort auf <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Ursache <strong>der</strong><br />
Hy sterie konnte aber für CHARCOT, <strong>der</strong> <strong>die</strong> materiellen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> Hysterie<br />
suchte, nicht genügen. Psychologie konnte ihm höchstens Methode, aber<br />
nicht Ziel <strong>der</strong> Erkenntnis sein.<br />
In einem Teilgebiet aber hat CHARCOT psychologisches Denken doch als tragenden<br />
Teil in <strong>die</strong> Hysterielehre eingebaut: im Gebiet <strong>der</strong> traumatisch entstandenen<br />
<strong>Neurosen</strong>. Die infolge eines Unfalles entstandenen <strong>Neurosen</strong> hatten in<br />
England seit den sechziger Jahren, in Deutschland seit den siebziger Jahren,<br />
im Zusammenhang mit dem Aufkommen von Unfall-Haftpflichts- <strong>und</strong> Versicherungsgesetzen,<br />
zunehmend das Interesse von Ärzten <strong>und</strong> Nichtärzten auf<br />
sich gezogen. Einer Anregung amerikanischer Autoren (WALTON, PUTNAM)<br />
folgend 22 , faßte CHARCOT <strong>die</strong>se Krankheitsbil<strong>der</strong> als traumatische Hysterien<br />
– das waren im wesentlichen CHARCOTS männliche Hysterien – auf. Er<br />
befaßte sich mit ihrem Studium vor allem in den Jahren 1884 <strong>und</strong> 1885, aber<br />
auch später. Nicht zufällig hat FREUD <strong>die</strong>se Forschungen 1893 als CHARCOTS<br />
weittragendste bezeichnet 23 . Auch ELLENBERGER rechnet sie zu CHARCOTS<br />
«most spectacular achie vements». 24 Denn in <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> traumatischen<br />
Hysterie spielten nun tatsächlich <strong>die</strong> Suggestion <strong>und</strong> <strong>die</strong> (unbewußten)<br />
pathogenen Vorstellungen führende Rollen. Und damit wurde CHARCOTS<br />
Lehre von <strong>der</strong> traumatischen Hysterie zu einem Kristallisationskern <strong>der</strong> späteren<br />
gesamten <strong>Neurosen</strong>lehre. CHARCOTS Modellfall <strong>der</strong> traumatischen Hysterie<br />
war <strong>die</strong> traumatisch entstandene hysterische Lähmung. Diese entstand so:<br />
Ein Patient erhielt zum Beispiel einen Schlag gegen seinen Arm. Dieses Trauma<br />
vermochte den Arm nicht ernsthaft zu verletzen, doch versetzte es den Betroffenen<br />
in einen Schreck- o<strong>der</strong> «Schockzustand». Dieser Zustand, <strong>der</strong> als Analog<br />
zur Hypnose gelten kann, war dadurch charakterisiert, daß das «Ich» des<br />
Patienten benebelt <strong>und</strong> geschwächt war. In <strong>die</strong>sem Zustand war das «Ich» des<br />
Patienten außerstande, <strong>die</strong> in <strong>der</strong> Vorstellung desselben vielleicht flüchtig entstandene<br />
Idee, <strong>der</strong> vom Trauma betrof fene Arm könnte nun gelähmt sein, als<br />
unrealistisch von sich zu weisen. Auf dem Weg <strong>der</strong> Autosuggestion konnte <strong>die</strong>se<br />
Idee vielmehr direkt in das unbewußte Vorstellungsleben, in das Gehirn des<br />
22 CHARCOT, Leçons, Band 3, 1887, S. 250.<br />
23 FREUD, Sammlung kleiner Schriften, S. 11.<br />
24 ELLENBERGER, S. 90.<br />
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