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1 9 . JUNI – GRAZ - Styriarte

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Was ist Europa? Eine so einfache<br />

Frage, und doch so<br />

schwer zu beantworten.<br />

„Europa ist die alte Welt“, würde ein<br />

moderner US-Amerikaner sagen. Ein<br />

Kontinent, der sich über Jahrtausende<br />

in Kriegen und Kämpfen erschöpft<br />

hat und seine Vergangenheit nicht<br />

abschütteln kann. „Europa ist der<br />

ewige Feind“, würde ein überzeugter<br />

Islamist sagen. Eine Gesellschaft, die<br />

die Grundlagen menschlicher Würde<br />

auf dem Altar des Kommerzes verkauft<br />

und verraten hat. „Europa ist<br />

ein Verwaltungsmoloch“, würde ein<br />

beliebiger Nationalist aus Österreich,<br />

Deutschland oder England behaupten.<br />

Eine künstliche Konstruktion,<br />

die das Eigene, die Heimat zwar im<br />

Munde führt, aber letztlich doch bedrohlich<br />

schwächt.<br />

Alle diese negativen Antworten<br />

haben etwas gemein. Sie nehmen<br />

Europa als machtpolitische Einheit<br />

an. Die geistigen Gründerväter des<br />

modernen Europa, die Menschen,<br />

die als erste eine positive Vision von<br />

Europa entwickelten, bewegten sich<br />

dagegen im Reich der Ideen. Wie der<br />

große Schriftsteller Victor Hugo, der<br />

Vordenker der Europa-Bewegung,<br />

auf der ersten Europakonferenz 1849<br />

in Paris: „Wir errichten die Vereinigten<br />

Staaten von Europa, die die<br />

Alte Welt krönen werden, so wie die<br />

Vereinigten Staaten von Amerika die<br />

Neue Welt krönen. Wir werden den<br />

Eroberungsgeist in Entdeckergeist<br />

umwandeln: wir werden die großzügige<br />

Brüderlichkeit der Nationen<br />

pfl egen statt der entsetzlichen Bruderschaften<br />

der Kaiser, wir werden<br />

ein Vaterland ohne Grenzen haben,<br />

einen Staatshaushalt ohne Schmarotzertum,<br />

Handel ohne Zoll. Auf<br />

die Welt wird eine Lichtwelle treffen.<br />

Und was ist dieses Licht? Es ist die<br />

Freiheit. Und was ist diese Freiheit?<br />

Es ist der Friede.“<br />

Können wir das glauben? Wird<br />

man uns das glauben? Aus dem<br />

Weltall betrachtet, ist Victor Hugos<br />

Lichtwelle Wirklichkeit geworden,<br />

wenn auch nicht in dem Sinne, wie<br />

er es sich erträumte. Mit beiden<br />

Beinen auf der Erde aber machen<br />

wir uns auf, Spuren von Europa zu<br />

fi nden, um dem Kontinent näher zu<br />

kommen. Und schlagen zuerst einen<br />

geologischen Atlas auf.<br />

THEMA<br />

Auf der Landkarte<br />

Als sich die ersten Menschen aus<br />

Afrika aufmachten, auf zwei Beinen<br />

die Erde zu besiedeln, vor etwas mehr<br />

als einer Million Jahren, arbeiteten<br />

sie sich an Flüssen und Küsten in<br />

subtropischem Klima voran. Der<br />

Norden lag da noch unter Eis. Aber<br />

die kontinentale Gestalt war der<br />

heutigen schon sehr ähnlich. Ihr<br />

Name: Eurasien. Eine Landmasse,<br />

die nach Westen und nach Osten hin<br />

besiedelt werden konnte. In lebensfreundlich<br />

gemäßigt warmem Klima,<br />

mit frischem Wasser, mit Tälern, die<br />

Schutz boten, mit einem reichhaltigen<br />

Nahrungsangebot. Jedenfalls in<br />

guten Zeiten.<br />

Die ersten Europäer und die ersten<br />

Asiaten waren Gäste aus Afrika.<br />

Und weil die Geologie von Eurasien<br />

und das Klima so wechselhaft und<br />

veränderlich sind wie seit Urzeiten<br />

und bis heute, war die menschliche<br />

Besiedlung des Nordens ein über<br />

hunderttausende von Jahren währender<br />

Kampf zwischen Hitze und<br />

Eis, Flut und Dürre. Und was uns<br />

heute so unveränderlich, so klar umrissen<br />

und geographisch eindeutig<br />

anmutet, ist in Wirklichkeit nur ein<br />

Wimpernschlag der Weltgeschichte,<br />

ein Standbild aus einem sich ständig<br />

weiter verändernden Prozess.<br />

Wenn wir also von Europa reden,<br />

von seiner Lage, seinen Menschen,<br />

ist es gut, sich dieser grundsätzlichen<br />

Relativität bewusst zu werden.<br />

Wir bewegen uns sprichwörtlich auf<br />

dünnem Grund. Und die Mächte der<br />

Natur sind stark. Als Erwärmung<br />

und Dauerregen weite Teile der<br />

Nordseeküste wegspülen ließ, löste<br />

das vor weniger als 2000 Jahren<br />

eine Völkerwanderung aus, die die<br />

gesellschaftlichen und politischen<br />

Verhältnisse des ganzen Kontinents<br />

umstürzte. Das ist nicht einmal in<br />

menschlicher Zeitrechnung wirklich<br />

lange her.<br />

So müssen wir also, wenn wir<br />

von einem Kontinent reden, vor<br />

allem vom Wandel reden. Selbst<br />

scheinbar so klare Fakten wie die<br />

Geographie und das Klima schaffen<br />

keine Sicherheit. Unser Europa<br />

ist ein Übergangsstadium. Und wir<br />

sind Gäste. Eingewanderte, Ausgewanderte,<br />

Vertriebene, Vermischte.<br />

5<br />

Der Europäer ist ein Konglomerat.<br />

Und auf der geologischen Landkarte<br />

werden wir es nicht fi nden. Europa<br />

gibt es nicht.<br />

Wenn der Atlas aber keine Antworten<br />

gibt, muss es das Reich der Ideen<br />

sein, in dem Europa zu fi nden ist. In<br />

Geschichten, Mythen, Namen.<br />

Die beiden Europa<br />

Auf der Suche nach Europa begegnen<br />

wir einer Frau. Sie ist eine<br />

Prinzessin. Ihr Vater Phoenix nannte<br />

sie Europa. Als sie eines herrlichen<br />

Tages von Nymphen begleitet auf einer<br />

schattigen Wiese Blumen pfl ückt,<br />

entbrennt Göttervater Zeus vor<br />

Begehren. Und es geht ihr wie vielen<br />

Mädchen zuvor und danach. Der Gott<br />

muss sie haben und ersinnt eine List.<br />

Denn weder will er seine eifersüchtige<br />

Frau auf ein neues Abenteuer<br />

aufmerksam machen, noch kann<br />

eine Sterbliche den Anblick Gottes in<br />

seiner wahren Gestalt unbeschädigt<br />

aushalten. Und so verwandelt er sich<br />

in einen weißen Stier. Aus seinen<br />

Nüstern atmet er Krokusse. Und als<br />

Europa diese pfl ückt, fällt sie dem<br />

Stier anheim. Auf seinem Rücken<br />

trägt er die Schöne nach Kreta, wo<br />

sie ihm drei Söhne schenkt. Zur Tarnung<br />

seiner Begierden hat er sie mit<br />

König Asterios verkuppelt. Doch was<br />

die Welt für Königssöhne hält, sind<br />

in Wirklichkeit Götterkinder.<br />

So tritt Europa zum ersten Mal in<br />

die Geschichte. Als Erzählung. In einer<br />

Zeit, in der sich jene Gesellschaft<br />

formiert, der wir Europäer von der<br />

Philosophie über die Religion bis hin<br />

zur Demokratie unser Wesen verdanken.<br />

Das antike Griechenland ist auf<br />

dem Weg zur geistigen Weltmacht.<br />

Und ihr erster großer Dichter, Hesiod,<br />

formuliert im 7. Jahrhundert v. Chr.<br />

den Mythos von der schönen Europa<br />

zum ersten Mal. In einem Fragment<br />

ist die Geschichte erhalten, in jener<br />

Urform, die wir eben erzählten.<br />

Was für eine offene, zauberische<br />

Geschichte. Sie deutet nicht, sondern<br />

lässt der Phantasie Raum. Geht Europa<br />

freiwillig mit dem Stier? Oder<br />

wird sie geraubt? Ist sie so hingerissen<br />

von der Kraft und dem Wesen<br />

des Gottes, dass sie ihn fl ammend<br />

begehrt? Oder wird sie vergewaltigt?

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