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D e a t h - 3 satelliten

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Black Angeloids Death Blues<br />

Fünftes Streichquartett<br />

Opus 137<br />

Satz 3 von 4<br />

D e a t h<br />

Airto Friedenreich<br />

aka Frank Scheffler<br />

2003


Death<br />

Dies ist die Geschichte von Rocket Scientist und Jail Babe. Sie<br />

spielt in Berlin, wo mit kalten Füßen und mit überhitzten<br />

Gehirnen die Gegenwart unsicher gemacht wird. Hier geht es<br />

um künstliche Menschen, die nicht zum Patent taugen.<br />

Rocket hatte einige Versuche hinter sich, als Natur-<br />

wissenschaftler an die Wall Street zu gelangen, wo sie die<br />

Jungs, die das Jonglieren mit den Finanzströmen durch<br />

Gleichungen abfedern sollen, Rocket Scientists nennen. Sie<br />

nahmen ihn jedoch nicht auf und so gründete er leichtfertig eine<br />

Firma, um die kleinen Leute im Umgang mit Börsensoftware zu<br />

schulen. Nachdem jedoch die Spekulationsblase geplatzt war,<br />

wurde er mit Schadensersatzforderungen überschüttet und<br />

flüchtete sich in die Lektüre von Konversationslexika.<br />

Jail hatte alle Register gezogen, um bei einer Soap Opera zu<br />

landen, die im Frauenknast gedreht werden sollte, bei den Jail<br />

Babes. Es war vergeblich gewesen, und so probte sie weiter<br />

auf alten Dachböden. Täglich schluckte sie Prozac: gegen ihren<br />

übermäßigen Hintern, der ihr eine Karriere als Supermodel<br />

verbaute, gegen den Staub auf den Dachböden, und gegen den<br />

bösen Blick des Plastikskeletts, das in ihrem Flur frei<br />

aufgehängt war, und dem sie jedesmal, wenn sie vorbeiging<br />

einen Hieb an den Brustkorb verpasste.<br />

Rocket und Jail lernten sich auf einer Party kennen. Jemand<br />

feierte Geburtstag, bei geschlossenen Fenstern, zugezogenen<br />

Vorhängen und dröhnender Musik.<br />

2


Jail lehnte an einem Durchgang und ließ sich von den<br />

Vorübergehenden nachschenken. Irgendwann kam Rocket<br />

dazu und stieß mit Jail an. Ihm gefielen sofort ihre neongrün<br />

geschminkten Lippen, ihr gefiel auf Anhieb sein silberner<br />

Totenkopfring.<br />

Ich hab mich neulich piercen lassen, sagte sie und zog ihm eine<br />

Zigarette aus der Schachtel.<br />

Rocket gab Jail Feuer. Sie betrachtete seinen Ring, er<br />

begutachtete ihren Mund.<br />

Bist du allein hier?, fragte er geistvoll und überlegte, ob das<br />

Metall wohl durch Nippel oder Pussy gezogen worden war. Ihre<br />

Zunge und ihr Bauchnabel waren jedenfalls nicht durchbohrt.<br />

Six Six Six, sagte Jail und nahm einen Schluck, um die<br />

stimmungsaufhellenden Pillen auf Kurs zu bringen. Ob er Koks<br />

dabei habe?<br />

Rocket mußte verneinen.<br />

Jail schaute links und rechts an ihm vorbei, als ob sie jemanden<br />

suchen würde. Aus ihrer Handtasche lugte deutlich sichtbar ein<br />

Roman von Philip Roth heraus.<br />

Man müßte sterben wie Philip Roth, faselte Rocket, und auf den<br />

Champs Elyseé erschlagen werden von einem Ast, den der<br />

Sturm abgerissen hat.<br />

Der lebt noch, sagte Jail mit spitzen Lippen, du meinst Joseph<br />

Roth.<br />

War nur ein Test, zwinkerte Rocket ihr zu, man müßte sterben<br />

wie Joseph Roth...<br />

Falsch!, sagte Jail.<br />

Was soll daran denn falsch sein?, entgegnete Rocket.<br />

3


Es war Horvath, sagte Jail, Ödon von Horvath, der ist vom Ast<br />

erschlagen worden.<br />

Stimmt, sagte Rocket nach kurzer Überlegung, es war Horvath.<br />

Roth hat sich totgesoffen, in einem Hotel, wenn ich mich nicht<br />

irre, auf jeden Fall aber auch in Paris.<br />

Ich steh nicht auf französisch, sagte Jail lasziv, ich geh nach<br />

Amerika.<br />

Warum willst du in die Staaten?, fragte Rocket.<br />

Ich will nach New York, sagte Jail, und ich will dahin, weil es<br />

dort am geilsten ist.<br />

Ich bin Europäer, sagte Rocket, Europäer aus Prinzip, aus<br />

Überzeugung.<br />

Schwachsinn!, sagte Jail, New York ist total geil. Wir sind alle<br />

Europäer, wir sind alle Amerikaner, wir sind alle Fotzen. Six Six<br />

Six.<br />

Sie war betrunken und strahlte ihn aus verschleierten Augen<br />

an.<br />

Was machst du so?, fragte Jail nach einer Pause.<br />

Kapitalmarktanalysen, antwortete Rocket. Aber ich hab Zahlen<br />

gerade satt, nur zehn Ziffern und nur die Farben rot und<br />

schwarz, ich probiers momentan mit Buchstaben, ich lese - bis<br />

sich mein Depot wieder erholt hat.<br />

Jail war übel, sie beschloß heim zu gehen. Sie reichte Rocket<br />

einen Flyer hin.<br />

Ich singe, sagte sie. In zwei Wochen. Bekannter von mir macht<br />

ne Galerie.<br />

Rocket überflog den Flyer. Eine Blind Date Vernissage mit<br />

Sängerin. Er dankte.<br />

4


Ich muß los, sagte Jail und streichelte kurz Rockets Ring. Mein<br />

Gesangslehrer ist Satanist. Wir fangen immer um Mitternacht<br />

an, du verstehst.<br />

Ciao, sagte Rocket und blieb noch etwas länger. Ihm war nach<br />

Bier und noch nicht nach Bettlektüre.<br />

Zwei Wochen später trafen sie bei der Vernissage wieder<br />

aufeinander. Die Galerie war klein, mit Schaufenster zur Straße.<br />

Rocket stieg vom Motorrad ab, fühlte nach, ob er den Umschlag<br />

auch nicht vergessen hatte, und betrat den Laden.<br />

Die Kunst bestand aus einem einzigen Objekt. Rocket schaute<br />

es sich von allen Seiten an. Das Objekt war eindeutig und<br />

lebensgroß: der Sensenmann nimmt ein nacktes Mädchen von<br />

hinten. Sie steht vorgebeugt, mit verdrehten Augen, und das<br />

Sensenblatt schneidet ihr tief in die Mundwinkel. Aus der Kutte<br />

des grinsenden Skelettes ragen unten zwei Knochen heraus<br />

und spießen das Mädchen auf. Der Name des Werkes lautete<br />

schlicht: Todesfick. Die anderen Besucher umrundeten<br />

ebenfalls die Plastik und betrachteten den Akt.<br />

Rocket bestellte einen Sekt beim Galeristen an der Mini-Bar<br />

und fischte in Ruhe die passenden Münzen hervor, weil die<br />

Flasche sich dagegen sträubte entkorkt zu werden.<br />

Schräg gegenüber von der Bar stand ein schmales Podest und<br />

darauf ein Ständer mit Mikrofon. Es kam aber nirgends Musik<br />

heraus. Nur Kabel, die hinter ein Sofa führten, das neben dem<br />

Podest stand. Und an diesen Kabeln zupfte jemand, der halb<br />

unter dem Sofa lag. Rocket sah grasgrüne High Heels und eine<br />

enge Militaryhose, in der sich ein üppiger Hintern wölbte.<br />

5


Von euch Typen kann natürlich keiner die verfickte Anlage<br />

einstöpseln, fluchte die Stimme unter dem Sofa. Dann robbte<br />

die Lady hervor, ging auf die Knie und kam hoch. Es war Jail<br />

und es machte plopp!<br />

Der Sektkorken schoß an die Decke, aber Rocket hatte nur<br />

Augen für Jail. Sie drehte die Anlage auf, dann stellte sie sich<br />

breitbeinig hin und wippte im Takt der Rockmusik mit den<br />

Hüften. Grüner Patronengurt, knallgrünes Top, verwuschelte,<br />

grüngefärbte Haare.<br />

Gut siehst du aus, sagte er, schön grün.<br />

Grün ist die Farbe des Todes, sagte Jail.<br />

Chlorophyll?, fragte Rocket erstaunt.<br />

Nee, grinste sie ihn an, Camouflage! Warte ab, bis ich singe!<br />

Ein großer Schwarzer gesellte sich zu ihnen und legte Jail<br />

einen Arm um die Schulter.<br />

Sie mögen es, sagte er, sie drehen eine Runde nach der<br />

anderen, sie suchen nach dem Preisschild - es ist aber keins<br />

dran!<br />

Dann schüttelte er Rocket die Hand, stellte sich als Ulam vor<br />

und fletschte dabei die Zähne.<br />

Wir haben uns letzte Woche zum ersten Mal gesehen, erklärte<br />

Jail, auf der Loveparade. Wir sind beide auf demselben Truck<br />

gefahren...<br />

Sie war oben ohne, sagte Ulam und rollte mit den Augen, ein<br />

Hakenkreuz auf der linken Titte und eins auf der rechten...<br />

Er hatte eine Totenschädelmaske auf, ergänzte Jail und blickte<br />

auf Rockets Ring, und dann haben wir auf der Ladefläche<br />

gefickt...<br />

6


Sie hat mich auf die Idee gebracht und wir haben dann das<br />

Plastikskelett aus ihrer Bude zersägt. Sie ist meine Muse, sagte<br />

der schwarze Mann.<br />

Eine Muse, ein Kunstwerk, sagte Rocket trocken.<br />

Ein Fick, ein Song, ein Kunstwerk, konterte Jail, yeah!.<br />

Sie drehte sich aus Ulams Umarmung heraus und begrüßte<br />

einen Pulk Freundinnen, die gerade angekommen waren.<br />

Auf der anderen Seite steht die Zeit still, sagte der Künstler zu<br />

Rocket, die Sterbenden werden ausgebremst, einige krallen<br />

sich fest, greifen nach uns, um sich festzuhalten, das sind die<br />

Stimmen der Geister, sie sagen mir, welche Kunst ich machen<br />

soll, das sind die wahren Musen.<br />

Rocket entschuldigte sich und ging zur Mini-Bar hinüber.<br />

Jail bestieg das Podest. Man drehte sich zu ihr um. Ein harter,<br />

elektronischer Walzer setzte ein und Jail sang dazu eine Moritat<br />

über afrikanische Kindersoldaten und die Schlangen- und<br />

Spinnengifte, mit denen sie sich vor den Massakern<br />

aufputschten. Am Ende gab es bescheidenen Applaus und Jail<br />

lutschte am Mikrofon, mit geschlossenen Augen.<br />

Plötzlich waren sie in der Galerie, arabische Jugendliche, ein<br />

gutes Dutzend. Die meisten waren noch Kinder, die zwei<br />

Anführer kaum älter und mit Baseballschlägern bewaffnet.<br />

Voll schwule Scheiße, Alter!, gröhlte einer der Anführer, und<br />

bevor irgendeiner der Besucher die Lage erfaßte, trat er die<br />

beiden Knochenschwänze mit einem Karatetritt in Stücke. Der<br />

Künstler sackte ohnmächtig auf den Fußboden.<br />

Schlampe, du willst ficken, du Schlampe!?, rüpelte einer der<br />

Wichte in Jails Richtung. Er hielt ein Klappmesser, grinste frech<br />

7


und fuchtelte mit der Klinge durch die Luft. Die anderen Zwerge<br />

um ihn herum begannen hämisch zu gackern.<br />

Verpiß dich, du Scheißer!, brüllte Jail ins Mikrofon.<br />

Rocket - genauso begriffstutzig wie die übrigen Anwesenden,<br />

aber bleich vor Zorn - holte tief Luft und preschte voran. Weitere<br />

Klappmesser sprangen auf. Eine Baseballkeule traf Rocket am<br />

Oberarm und warf ihn zurück. Die Meute verzog sich durch die<br />

offene Tür ins Freie.<br />

Isch fick disch tot!, gröhlte noch einer aus dem Haufen und<br />

schon waren sie verschwunden. Der Schock war allgemein. Jail<br />

kümmerte sich um den Ohnmächtigen und fächelte ihm Luft zu.<br />

Rocket tauschte noch schnell Telefonnummern mit Jail aus. Sie<br />

winkte Rocket durch die Schaufensterscheibe nach, beim<br />

Zurückwinken schmerzte ihm die Schulter.<br />

Jail ärgerte sich, daß sie bei dem ganzen Durcheinander nicht<br />

mitbekommen hatte, ob ein Labelmensch in der Galerie<br />

gewesen war und den hübschen Skandal erlebt hatte.<br />

Außerdem ging ihr Ulam bereits auf die Nerven. Er war<br />

schweigsam und still geworden, sie trieb sich lieber mit anderen<br />

Kerlen in anderen Betten herum. Das Label hatte niemanden<br />

vorbeigeschickt. Kleinstadt!, fauchte sie nur.<br />

Rocket war von Jail fasziniert und er rief sie mehrfach in der<br />

darauffolgenden Woche an, um sie zum Essen einzuladen. Sie<br />

nahm jedoch nicht sehr oft ab, und wenn, dann war sie<br />

kurzangebunden, schlechter Laune und nicht frei. Eigentlich<br />

hatte sie ihn fast vergessen. Er mußte erst nachdrücklich auf<br />

den Umschlag zu sprechen kommen und ihr weißes Pulver<br />

8


anbieten, da reagierte sie endlich. Rocket war in Ordnung, fand<br />

Jail, aber irgendwie zu leicht zu durchschauen.<br />

Als er sie abholte, bestand Jail noch im Hausflur darauf, daß sie<br />

sich schnell etwas die Nasen pudern sollten. Dann erst setzte<br />

sie sich hinten auf die Maschine und beide genossen den<br />

warmen Fahrtwind.<br />

Hier sind verdammt viele 137!, rief Jail nach vorn.<br />

Was?, fragte Rocket mit tauber Zunge.<br />

Die Graffitis, schrie Jail, an den Häuserwänden!<br />

Wie?, fragte Rocket und schluckte.<br />

Jail beugte sich seitlich weit vor.<br />

Hier sind verdammt viele 137-Tags gesprayed!, brüllte sie ihm<br />

ins Ohr und zerrte dabei ungeschickt an ihm.<br />

Die Maschine schleuderte und nur mit äußerster Mühe bekam<br />

Rocket sie wieder in die Gewalt. Er bremste scharf und ließ<br />

einen Stoßseufzer ab.<br />

Hey, sagte er, das müssen Artgenossen von mir machen. 137<br />

ist der Kehrwert des Lichts, aber das ist zu kompliziert für dich...<br />

Hey, Quark, sagte Jail, das kommt aus New York, hat mit<br />

Hausnummern zu tun...<br />

Man kann einem Problem nicht ansehen, wie schwer es zu<br />

lösen ist, dachte Rocket, als sie in der Schwarzen Dahlie einen<br />

Aperitif nahmen. Sie saßen hinten auf einem der runden<br />

Kunstledersofas und unterhielten sich bald über Jails Prozac-<br />

Konsum.<br />

Das hast du nicht nötig, sagte er.<br />

Hey, das ist nur ein Stimmungsaufheller, sagte sie.<br />

Das ist eine dumme Mode aus USA, sagte er, und ungesund.<br />

Hey, das ist mein Ding, was ich schlucke!, patzte sie ihn an.<br />

9


Jail war sauer auf Rocket.<br />

Und deine Einladung zum Essen kannst du dir sonstwohin<br />

schieben, sagte sie. Ich hau mir lieber noch Ecstasy obendrauf,<br />

aus Protest, alles klar!?<br />

Er hatte eben null Ahnung, von ihren Gefühlen, ihren<br />

Zuständen.<br />

Rocket wußte nicht, wie er das ausbügeln sollte, und verließ<br />

besser die Bar. Er spürte, daß sie ihm kein Stück<br />

hinterherblickte. Scheißabend, dachte er.<br />

Jail war inzwischen mit wirklich allen Kerlen, die sie interessant<br />

gefunden hatte, im Bett gewesen, die Stadt wurde ihr zu eng.<br />

So eng, wie ihr die Militaryklamotten am Leibe saßen und ihren<br />

Arsch extra betonten. Sie haßte ihren fetten Arsch, nur<br />

seinetwegen hatte Jail keine Modelkarriere einschlagen<br />

können. Der Militarylook war ihre momentane<br />

Ersatzbefriedigung. Im Geiste aber blieb sie Supermodel. Und<br />

ihre Gesichtszüge ließen da auch keinerlei Zweifel zu.<br />

Rocket hatte auch eine Ersatzbefriedigung gefunden. Er ließ<br />

sich eine Rakete auf den Penis tätowieren. Eine Mischung aus<br />

den Typen Vergeltung 2 und Saturn 5. Die ersten Tage war<br />

Rocket durch die Gegend gewatschelt wie Hulk. Aber immerhin<br />

fühlte er sich auch genauso stark. Und es ließ ihn die Pleite<br />

seiner Minifirma vergessen. Absolut niemand wollte mehr den<br />

Umgang mit Börsensoftware lernen, geschweige denn den<br />

Kapitalmarkt analysiert bekommen.<br />

Einen Monat später begegneten sie sich an einer roten Ampel.<br />

Ich geh nach New York, sagte Jail.<br />

10


Ich hab mir den Schwanz stechen lassen, sagte Rocket.<br />

Um sich den Schwanz stechen zu lassen, sinnierte sie, braucht<br />

es schon eine gewisse Härte.<br />

Um in New York zu bestehen auch, gab er zurück.<br />

Ich fliege nächste Woche, sagte Jail, komm doch vorher<br />

nochmal vorbei.<br />

Gern, sagte Rocket.<br />

Was für ein Motiv?, fragte sie.<br />

Eine Rakete, antwortete er.<br />

Die Ampel sprang auf grün, so trennten sich ihre Wege wieder.<br />

Am Abend, bevor Jail nach New York flog, besuchte Rocket sie<br />

und brachte als Geschenk etwas Hasch mit. Jail gab sofort mit<br />

lauter tollen Bekannten und Freundinnen von drüben an, und<br />

Rocket tat so, als könnte ihn das überhaupt nicht beeindrucken.<br />

Sie tranken mehrere Büchsenbiere und rauchten einen Joint.<br />

Jail hatte vor kurzem ihre Magisterarbeit eingereicht.<br />

Kulturwissenschaften, und es ging darin um ferngesteuerte<br />

Mörderinnen.<br />

Lies mir aus meiner Arbeit vor, forderte sie Rocket auf und<br />

setzte sich neben ihn, fang irgendwo an!<br />

Rocket wollte Jail herumkriegen, er wußte nur noch nicht wie.<br />

Durch Vorlesen würde er etwas Zeit gewinnen, also war er mit<br />

dem albernen Vorschlag einverstanden.<br />

Okay, sagte er und begann mit schwerer Stimme vorzulesen.<br />

Jail lauschte ihm verzückt. Sie genoß tatsächlich den Klang<br />

ihrer eigenen Sätze! Rocket grinste innerlich, aber er riß sich<br />

zusammen und machte einfach weiter.<br />

11


Jail fühlte sich angenehm besoffen und bekifft. Es machte Spaß<br />

jemanden zu zwingen, aus der eigenen Magisterarbeit<br />

vorzulesen! Wenn er sich ein bißchen anstrengt, dann fick ich<br />

ihn vielleicht.<br />

Ich könnte sie küssen, dachte Rocket und verstolperte einen<br />

Satz. Die Textpassage handelte von einem Brunnen - soweit<br />

vermochte er zu folgen - und einer Farmerin, die ein Opfer in<br />

den Brunnenschacht stoßen soll.<br />

Jail blieb unentschlossen. Der Typ war ja ganz nett, aber<br />

irgendwie nicht richtig cool. Außerdem bereitete es ihr<br />

Vergnügen, ihn zu quälen. Auch wenn Rocket andauernd<br />

steckenblieb. Guter Satz, dachte sie und fand ihren Text ganz<br />

wie sich selbst: ziemlich umwerfend und reichlich gelungen. Für<br />

mich, dachte sie und rückte ihm boshaft etwas näher auf die<br />

Pelle, für mich mußt du dich schon mehr anstrengen, mein<br />

Junge.<br />

Rocket war jetzt an einer Stelle angekommen, die ihn eher<br />

interessierte. Es ging um verschiedene Stilrichtungen des<br />

Amoklaufs. Zudem hatte er sich besser eingelesen und aus der<br />

Trunkenheit eine Tugend gemacht. Er nuschelte die Sätze jetzt<br />

einfach herunter. Jail verlor hingegen das Interesse, ihn zu<br />

piesacken. Okay, sagte sie, ich kenn das Ding gut genug, okay.<br />

Und wie hat es dir gefallen?<br />

Rocket schwadronierte etwas und kam schnell zu dem Schluß,<br />

daß da mehr als nur eine Moritat drin wäre. Jail nickte, klar, ist<br />

in der Mache. Laß uns noch einen rauchen, schlug er vor. Sie<br />

war einverstanden.<br />

Das Dope turnte beide ein wenig herunter, sie dröhnten vor sich<br />

hin. Jail legte Sinatra auf und ließ ihre üppigen Hüften kreiseln.<br />

12


Rocket ergötzte sich daran, aber ganz haschischmäßig, ohne<br />

konkrete Begierde.<br />

Schließlich kramte Jail einen Karton hervor.<br />

Willst du ein paar Fotos von mir sehen?<br />

Klar, zeig her, sagte er.<br />

Die Fotos gefielen ihm. Auf manchen hatte Jail blendende<br />

Laune und frohlockte wie Marilyn Monroe. Auf anderen war sie<br />

beleidigt und schnitt Grimassen wie Marilyn Manson. Aber<br />

immer lechzten ihre Augen nach der Linse der Kamera.<br />

Eine Serie von Schnappschüssen ließ sein Herz besonders<br />

hoch schlagen: Jail beim Rodeo, mit einem weißen Cowboyhut,<br />

mit verschiedenen Hengsten, mit verschiedenen Cowboys. Auf<br />

einem Bild lehnte sie an einem Bretterzaun, den Kopf lachend<br />

in den Nacken gelegt, den Hut in die Stirn geschoben, den<br />

Busen lässig vorgestreckt.<br />

Kann ich das hier haben?, fragte Rocket. Sie hatte es doppelt,<br />

sie konnte ihm die Bitte nicht abschlagen.<br />

Na gut, maulte Jail, geht in Ordnung.<br />

Sie gab ihm das Bild, stopfte die anderen wieder in den Karton<br />

und stellte ihn zurück in den Schrank. Sie verschenkte<br />

inzwischen ungern Fotos von sich, sie hatte schon zu viele<br />

verschenkt, das war nicht gut. All die Kerle, die insgeheim ein<br />

Bild von ihr bei sich trugen! Fetisch angucken, ja. Fetisch<br />

besitzen, nein.<br />

Zeigst du mir auch noch dein Piercing?, fragte Rocket dreist<br />

und ein Schauer lief über seinen Rücken.<br />

Wenn du mir deine Rakete zeigst!, antwortete Jail trocken und<br />

setzte sich.<br />

13


Okay, sagte er, nahm einen Schluck Bier, stand auf und zog<br />

den Reißverschluß herunter. Er holte sein Glied hervor und<br />

präsentierte es in der flachen Hand. Es war nur halb erigiert,<br />

Rocket war nur halb bei Sinnen.<br />

Jail betrachtete die Rakete, als wäre sie NASA-Expertin. Sie<br />

beugte sich etwas vor, sie verspürte durchaus Lust, das<br />

schwarze Teil abschußfähig zu lutschen, aber sie gab sich<br />

einen Ruck und stand ebenfalls auf.<br />

Okay, sagte Jail und ließ die Hosen runter. Sie war rasiert und<br />

sie zeigte ihm den Ring in ihrer Pussy. Und?, fragte sie.<br />

Auch geil, sagte Rocket schlicht. Zupfen und durchbumsen,<br />

dachte er, aber sein Schwanz hielt sich zurück.<br />

So standen sie in peinlicher Stille da und waren zu cool, um<br />

übereinander herzufallen. Sie hat wohl keinen sonst für die<br />

letzte Nacht, dachte er und wollte deshalb erst recht nicht. Er<br />

soll anfangen, dachte sie, ich bin doch nicht zugewachsen.<br />

Das Telefon klingelte.<br />

Weißt du eigentlich, wie spät es ist?, bellte Jail in den Hörer und<br />

zog sich dankbar die Hose hoch.<br />

Nein, ich will dein kaputtes Kunstwerk nicht mitnehmen!<br />

Auch Rocket packte alles wieder ein.<br />

Mach deinen Scheiß ohne mich, sagte Jail eisig, und ruf mich<br />

nie mehr an! Sie legte auf.<br />

Was ist los?, fragte Rocket.<br />

Ulam steht in einer Telefonzelle, seufzte Jail. Der Idiot hat<br />

gerade einen Überfall gemacht und glaubt, er ist ein ganz<br />

schlimmer Finger.<br />

14


Rocket schlief auf der Couch. Mitten in der Nacht wachte er auf<br />

und vernahm Geräusche. Sie kamen vom Flur her, aus der<br />

Toilette. Jail übergab sich, spülte, übergab sich wieder, spülte<br />

wieder.<br />

Sie kotzt, dachte Rocket, sie muß kotzen, die wilde Braut, na<br />

also! Von wegen Saufen bis zum Umfallen.<br />

Er hörte sie zurück ins Bett stolpern und dann kehrte Stille ein.<br />

Rocket räkelte sich und betrachtete zufrieden die Zimmerdecke.<br />

Dabei schlummerte er ein.<br />

Jail lag über ihr Kopfkissen gerollt. Auch nach dem Erbrechen<br />

drehte sich das Zimmer noch, schwankte die Matratze leicht.<br />

Zum Glück ging es morgen nach New York, endlich weg aus<br />

diesem Dorf, weg von Ulam und weg von Rocket, die sie beide<br />

nervten. Ihre Knie zitterten leicht im Liegen, sie fühlte sich<br />

kraftlos, aber immerhin gereinigt. Morgen begann ein neues<br />

Leben, sie sehnte sich nach New York, sie dämmerte davon, in<br />

einen tiefen, schweren, traumlosen Schlaf.<br />

Das nieselgraue, aber dennoch helle Licht des frühen Morgens<br />

weckte ihn. Keine Vorhänge, dachte er, kein Ausschlafen. Er<br />

rollte sich auf dem schmalen Sofa auf die andere Seite und<br />

versuchte wieder einzuschlafen. Es war kühl im Zimmer.<br />

Rocket setzte sich aufrecht hin. Ihm war etwas schwindelig, ihm<br />

war ein bißchen schlecht. Er fingerte eine Zigarette heraus und<br />

blickte auf die Uhr. Schon nach Sieben, verdammt, sie hatten<br />

verpennt!<br />

Er klopfte an Jails Schlafzimmertür. Keine Reaktion. Er<br />

hämmerte ein paar Mal. Keine Reaktion. Rocket drückte die<br />

Klinke und schaute durch einen Spalt hinein. Jail lag quer im<br />

15


Bett, auf dem Bauch und schnaufte leise vor sich hin.<br />

Aufstehen!, schrie er.<br />

Im Taxi war Jail total da. Kann ich mal ihr Telefon benutzen?,<br />

fragte sie den Fahrer ohne Widerspruch zuzulassen.<br />

Dann flötete und zickte sie in den Hörer, um den Flieger<br />

nötigenfalls einige Minuten am Boden festzuhalten. Sie bekam<br />

jedoch keine direkte Verbindung. Ich halte es keinen Tag länger<br />

hier aus, dachte Jail, dieser Idiot hätte mich auch früher wecken<br />

können.<br />

Merk Dir 555...833...1250!, zischte sie Rocket an. Keine<br />

Chance, er hatte die Nummer sogleich vergessen.<br />

Ihm war der Aufbruch viel zu überstürzt gewesen. Vor allem<br />

erstaunte ihn, wie abrupt Jail sich gewandelt hatte. Von der<br />

schlaftrunkenen Schlampe zur durchorganisierten Furie. Er<br />

hatte es kaum geschafft, sich anständig anzuziehen, da stand<br />

sie schon mit ihren Koffern und Taschen im Flur und drängelte.<br />

Als der Wagen endlich in Tempelhof vorfuhr, wurde Jails Miene<br />

starr und ihre Gesten wurden zappelig.<br />

Kannst du das mal zahlen?, sagte sie und sprang hinaus, ich<br />

hab echt nur noch Dollars. Es war zwar kein Befehl, aber eine<br />

Bitte war es auch nicht.<br />

Rocket zahlte das Taxi und verzichtete auf eine Quittung. Er<br />

ärgerte sich über seine Gutmütigkeit, ließ sich jedoch nichts<br />

anmerken.<br />

Sie schleppten das Gepäck in die Halle und konnten sich bald<br />

entspannen. Der Flieger hatte Probleme und alle Fluggäste<br />

durften umbuchen. Wegen der Verspätung gab es ein<br />

Frühstück umsonst.<br />

16


Rocket paßte auf das Handgepäck auf, während Jail ins Bistro<br />

ging. Sie kam mit zwei Portionen wieder und lächelte ihn<br />

geradezu an.<br />

Na, geht doch, sagte sie und hoffte nur, daß nicht etwa noch<br />

Ulam auftauchen und Scherereien machen würde.<br />

Es hatte sie keine besonderen Mühen gekostet, aber Rocket<br />

fand es trotzdem nett. Er war versöhnt. Vielleicht würde sich die<br />

Investition sogar irgendwann bezahlt machen.<br />

Sie tranken Kaffee und aßen Brötchen mit Marmelade. Dann<br />

hielt ihm Jail beide Wangen hin und Rocket sog gierig ihren<br />

Duft ein, während er sie umarmte.<br />

Guten Flug, wünschte er.<br />

Take care, sagte sie.<br />

An der Bushaltestelle wartend suchte Rocket nach dem<br />

Rodeofoto. Er konnte es nicht finden. Das schipperte jetzt<br />

sicher durch die Stadt, und irgendein hergelaufener Idiot würde<br />

es auf dem Rücksitz des Taxis finden!<br />

Jail blickte erst dann aus dem Fensterchen, als das Flugzeug<br />

nicht mehr stieg. Six Six Six, summte sie und blinzelte in die<br />

strahlende Sonne, nur abstürzen ist schöner.<br />

Die Arbeitslosenzahlen stiegen ununterbrochen in die Höhe, die<br />

Börsenindizes gaben weiter kräftig nach und Rocket mußte sein<br />

kleines Unternehmen liquidieren. Alles ging schnell und<br />

schmerzhaft vonstatten. Am Ende mußte er auch noch sein<br />

Motorrad versetzen und fand sich in einer kleinen, häßlichen<br />

Wohnung in einem renovierungsbedürftigen Bezirk wieder. Er<br />

flüchtete von den Konversationslexika, deren Fülle ihn<br />

17


deprimierte, in die vergeistigten Räume der Zahlentheorie, wo<br />

ihm Zettel und Bleistift genügten.<br />

Jail hatte einen ganz passablen Start. Sie wohnte bei einer<br />

Bekannten in Manhattan. Sie trat im Vorprogramm kleinerer<br />

Clubs auf, die New Yorker mochten ihren Akzent und auch ihre<br />

Moritat. Sie sah Amerikanerinnen mit entsetzlich fetten Hintern.<br />

Aber dann unterlief Jail ein Patzer. Auf einer Record Release<br />

Party ließ sie alle Profis abblitzen bis auf einen. Dieser aber<br />

klatschte ihr lautstark auf den Hintern und hieß sie in Big<br />

Applebum willkommen. Im Affekt sprang Jail ihm an die Gurgel<br />

und wurde dafür genauso grob hinaus befördert. Sie begann als<br />

Domina zu jobben.<br />

Und als dann die Türme des World Trade Centers einstürzten<br />

und noch diejenigen unter Trümmern begruben, die bereits aus<br />

den abgeschnittenen Etagen in den Tod gesprungen waren, da<br />

beschäftigten sich beide mit ganz verschiedenen Dingen:<br />

Jail peitschte gerade einen morgendlichen Kunden durch, der<br />

sich anschließend mit einem Diamantencollier erkenntlich<br />

zeigte, denn sein Arbeitsplatz war bereits vom ersten Flieger<br />

atomisiert worden.<br />

Rocket hingegen verfolgte gebannt einige Finanztransaktionen,<br />

die das Desaster untermalten: Insidergeschäfte an den Börsen<br />

und Spontanüberweisungen aus den brennenden Türmen<br />

heraus.<br />

Ulam wurde depressiv. Er beging weitere Raubüberfälle,<br />

hauptsächlich Tankstellen und Videotheken. Er machte sich<br />

einen Namen. Die Boulevardblätter nannten ihn den Schwarzen<br />

Riesen. Seine Überfälle wurden immer gewagter.<br />

18


Als ihr Visum abgelaufen war, kam Jail zurück, um ihre<br />

Wohnung aufzulösen. Voller Verdruß mußte sie feststellen, daß<br />

die vermeintlichen Diamanten bloß billige Straßsteinchen<br />

waren.<br />

Ich schrei gleich!, keifte sie den Juwelier an.<br />

Ganz nach Ihnen, sagte der, das bin ich gewohnt.<br />

Zuhause grübelte Jail über die Zukunft nach und vermißte ihr<br />

Skelett. Prozac war auch alle und vom Rumsitzen wurde ihr<br />

Hintern nicht gerade weniger. Sie beschloß, einige<br />

Besorgungen zu machen.<br />

Bald bemerkte sie, daß ihr etwas folgte. Es war ein Kampfhund,<br />

der ihr hinterhertrottete, ein gesprenkelter Schweinshund, und<br />

er hatte ein mächtiges Gebiß.<br />

Jail erschrak und wich zurück. Das Kraftpaket zeigte sich<br />

jedoch unbeeindruckt und watschelte geduckt näher. Es hob<br />

sogar eine Pfote an.<br />

Was willst du?, sagte Jail erstaunt, ich hab zu tun.<br />

Am nächsten Tag begann der Rüde sie durch die Stadt zu<br />

ziehen. Er schien ihr etwas zeigen zu wollen und Jail fand<br />

Gefallen an dem Spiel. Außerdem wichen die anderen<br />

Passanten so schön ängstlich aus!<br />

Rocket war baff, als ihm Jail im Schlepptau einer gedrungenen<br />

Scheiß- und Beißmaschine entgegenlief.<br />

Ich denke, du bist drüben, sagte er und grinste.<br />

Transkontinentaler Dog Walk, näselte Jail.<br />

Sicher, meinte Rocket, der Straß steht dir übrigens gut.<br />

Jail lächelte säuerlich.<br />

Wenn du Mumm hast, dann kannst du ihm ja mal deinen Skull<br />

hinhalten!<br />

19


Rocket ging in die Hocke und näherte seine Faust der Nase<br />

des Hundes.<br />

Na, ist mein Schlagring echt?<br />

Der Rüde riß nur den Rachen auf und sprang auf ihn los.<br />

Rocket warf sich in letzter Sekunde in einen Strauch. Jail<br />

stemmte sich gegen die Leine. Das Ungeheuer schnappte ins<br />

Leere.<br />

Schon gut, keuchte Rocket, er ist ja auch nur versilbert.<br />

Sorry, winkte Jail ihm zu, wir haben noch was vor!<br />

Der Schweinshund zog sie zielstrebig in eine finstere Gegend<br />

mit eingefallenen Fabrikhallen und zerborstenen Bürgersteigen<br />

und schließlich in ein knarrendes Treppenhaus hinein.<br />

Das Gebäude schien unbewohnt. In der ersten Etage verharrte<br />

der Hund vor einer Tür.<br />

Es gab keine Klingel, Jail klopfte energisch gegen das Holz.<br />

Der Köter hechelte gespannt.<br />

Jaha, komme schon!, flötete eine Frauenstimme.<br />

Es rührte sich hinter der Tür und dann wurde sie mit einem<br />

Ruck aufgerissen.<br />

Jail blickte in die Mündung einer Maschinenpistole.<br />

Was soll die Scheiße?, brummte der Mann. Er war mit einem<br />

langen Ledermantel bekleidet und trug eine Art Grubenlampe<br />

um die Stirn gebunden.<br />

Hi, sagte Jail und verkniff sich jedes Zucken, ist das deiner?<br />

Beide blickten zu Boden: der Rüde duckte sich, winselte und<br />

wedelte mit dem Schwanz.<br />

20


Der Mann begann freundlich zu lächeln und ließ die<br />

Maschinenpistole sinken. Sein Ledermantel öffnete sich,<br />

darunter war er nackt.<br />

Komm zu Tumo!, sagte die Frauenstimme und der Hund sprang<br />

begeistert an dem Mantel auf und ab.<br />

Unten pendelte ein seltsamer Penis, oben wackelten zwei<br />

kleine Brüste.<br />

Süße, ich danke dir, komm rein!, trällerte die Frauenstimme und<br />

der Ledermantelkerl ging mit wuchtigen Stiefelschritten voran.<br />

In der Küche legte der Hermaphrodit die Uzi auf den Tisch,<br />

servierte grünen Tee und streichelte den Hund.<br />

Ich bin ein Klinefelter, sagte Tumo, ich bin ein Mann mit einem<br />

Schuß Frau oder eine Frau mit einem Schuß Mann, ich habe<br />

das dritte Auge.<br />

Er tippte sich ironisch mit dem Daumen an die Stirn.<br />

Wie wird man ein Klinefelter?, fragte Jail und blickte sich um.<br />

Durch die Küche verlief über der Spüle ein einziger großer<br />

Spiegel. Ansonsten kam ihr die Einrichtung nicht weiter<br />

ungewöhnlich vor.<br />

Ich wurde in einer Anstalt gezeugt, sagte Tumo, im Park einer<br />

Klinik, in einer lauen Sommernacht, im Mondschein.<br />

Jail nippte am Tee und schüttelte ihre Beklommenheit ab. Er<br />

hat einen Hund, er trinkt grünen Tee, dachte sie, was ist schon<br />

dabei? Sie betrachtete die Grubenlampe: das Teil wirkte eher<br />

wie eine Kamera.<br />

Mein Vater war ein Vergewaltiger, fuhr Tumo fort, meine Mutter<br />

ein Vergewaltigungsopfer, und in jener Nacht brachen beide<br />

aus der Klinik aus und trieben es auf dem mondbeschienenen<br />

Rasen.<br />

21


Das, sagte Jail, ist eine traurige Geschichte.<br />

Traurig vielleicht, sagte Tumo, aber wahr.<br />

Sie schwiegen einen Moment. Jail hörte ein kurzes Rumoren,<br />

wohl von der Spüle her. Im Spiegel sah sie Tumos Blick, der<br />

sich irgendwie an ihrem Blick entlangschlängelte...<br />

Plötzlich stand er auf, öffnete das Fenster, packte den Hund,<br />

der friedlich vor der Spüle gelegen hatte, und schleuderte ihn<br />

hinaus.<br />

Jail staunte nicht schlecht.<br />

Er mag das, sagte Tumo, überzeug dich selbst!<br />

Der Hinterhof war vergittert und Klumpen rohen Fleisches, aus<br />

denen zersplitterte Knochen ragten, waren am Boden verstreut.<br />

Der Hund hatte sich einen davon geschnappt und schüttelte ihn<br />

im Blutrausch wie frisch erlegte Beute.<br />

Was machst du sonst so?, rutschte es Jail heraus.<br />

Ich, antwortete Tumo, lese aus der Hand.<br />

Er drückte Jail auf den Stuhl zurück, schloß das Fenster und<br />

ergriff ihre Hände, um die Innenflächen zu inspizieren.<br />

Ich bin ein echter Hermaphrodit, sagte er leise zu Jail, die<br />

wissen das nicht zu würdigen. Die wollen nur ihre Soap<br />

herunterdrehen und haben keine Ahnung, wie echt ich bin.<br />

Tumo warf einen kurzen Seitenblick zum Spiegel hin.<br />

Du hast schmutzige Hände, sagte er und beugte sich tiefer.<br />

Jail rutschte auf dem Stuhl hin und her. Ihr Hintern kam ihr<br />

leicht und verletzlich vor, wie ein Schmetterling. Dieser Typ hat<br />

eine Vollscheibe! Das Teil an seiner Stirn surrte leise.<br />

Und, fragte Jail, was bringt die Zukunft?<br />

Und erzähl mir nichts von abgeschnittenen Händen!, dachte<br />

sie.<br />

22


Es gibt zwei Arten von Zellteilungen, erklärte Tumo mit<br />

gesenktem Kopf, die eine ist konservativ und die andere ist<br />

kreativ...<br />

Er verfolgte die Linien ihrer Hände mit seinem Zeigefinger und<br />

klopfte zwischendurch sanft auf Jails Fingerkuppen, als wollte<br />

er sicherstellen, daß diese Linien auch ortsfest blieben.<br />

Die kreative geht durch die Keimbahn, setzte Tumo monoton<br />

fort, und macht aus einem Bündel von vier Chromosomen erst<br />

zwei Portionen zu zwei Chromosomen und dann vier Portionen<br />

aus je einem... Aber davon haben die keinen blassen<br />

Schimmer!<br />

Jail zog ihm eine Hand weg und kratzte sich damit am Kinn.<br />

Ich bin doch nicht bescheuert, sagte sie, Mitose, Meiose, das<br />

weiß doch jedes Kind!<br />

Ihr war nur noch etwas unbehaglich zumute, aber nicht mehr<br />

unheimlich. Six Six Six, zischte sie, ich pfeif auf die Genetik!<br />

Ich nicht, sagte Tumo konzentriert und holte ihre fehlende Hand<br />

zurück ohne aufzuschauen, ich bin ein geborener Genetiker.<br />

Und wenn die Einzelportionen miteinander verschmelzen, dann<br />

geht wieder alles von vorne los: Vier Zwei Eins, Vier Zwei Eins,<br />

der unsterbliche Walzer des Todes...<br />

Langsam richtete er sich auf.<br />

Du hast merkwürdige Hände!, sagte er glucksend.<br />

Und...?, fragte Jail angespannt.<br />

Ich sehe schmutzige Füße, prustete Tumo hervor.<br />

Beide schüttelten sich in einem hysterischen Lachkrampf.<br />

Was ist mit der Soap?, fragte Jail schließlich, mit Tränen in den<br />

Augen.<br />

23


Vergiß es, entgegnete Tumo, jeder kann einen Hund dressieren<br />

und eine Art Brieftaube aus ihm machen. Ich möchte nicht<br />

darüber sprechen, es ist besser für Dich.<br />

Jail schien es, als wenn das Surren an seiner Stirn verstummt<br />

wäre. Tumo begann unter dem Mantel herumzufingern und<br />

betrachtete dabei versunken sein Spiegelbild.<br />

Ich sollte genau jetzt gehen, dachte Jail und erhob sich.<br />

Du hast da ein Schmuckstück am Hals, flötete Tumo.<br />

Ich geb dir meine Uzi dafür, brummte er hinterher.<br />

Jail willigte sofort ein.<br />

Der Ledermantel und das Straßcollier harmonierten sogar auf<br />

interessante Weise.<br />

Süße, vergiß das Wichtigste nicht, sagte der Hermaphrodit im<br />

Flur und warf ihr ein Magazin zu, draufstülpen schaffste schon<br />

selber!<br />

Jail machte, daß sie aus dieser Gegend fortkam. Überall<br />

hinkommen war schon cool, aber von überall wieder abhauen<br />

zu können, hatte auch etwas für sich.<br />

Sie trug die Maschinenpistole geschultert wie eine Handtasche.<br />

Niemand achtete besonders darauf. Jail verspürte alle Kraft der<br />

Welt in sich, sie fühlte sich geradezu gemästet mit Kraft.<br />

Hey, paßt gut zum Patronengurt!, lästerte jemand aus einem<br />

Cafe heraus. Wo ist denn der tollwütige Köter!?<br />

Rocket hob seine Kaffeetasse zum Gruß.<br />

Wenn du mir nachläufst, dann verhöker ich dich auch dorthin,<br />

feixte Jail ihn an. Sie war sehr zufrieden mit dem Tausch und<br />

ließ sich zu einem Getränk herab.<br />

Zum Abschied wisperte Jail Rocket ins Ohr, daß sie seine<br />

Rakete noch leersaugen wolle, bevor sie endgültig über den<br />

24


Großen Teich ginge. Man verblieb jedoch ohne konkrete<br />

Abmachungen.<br />

Rocket schloß sich ein und ließ nur noch Zahlen gelten. Ein<br />

Blatt Papier faßte längst nicht mehr seine Berechnungen, er<br />

ging dazu über, seine weißen Wände mit schwarzem Edding zu<br />

beschriften. Das Zahlendickicht schwoll immer mehr an und<br />

verästelte sich bereits in den Flur.<br />

Rocket hangelte sich von Zahl zu Zahl nach immer derselben<br />

simplen Vorschrift: Von einer geraden Zahl ging es hinab zur<br />

Hälfte, von einer ungeraden aus ging es hinauf zum Dreifachen<br />

plus Eins. Aber ganz gleich, bei welcher Zahl Rocket startete,<br />

immer stürzte die Reise ab. Manche Zahlen wehrten sich mit<br />

einem wilden Zick-Zack-Ritt, aber am Ende mußten auch sie<br />

sich geschlagen geben.<br />

Bald nahm Rocket einen Stuhl zu Hilfe und turnte die Wände<br />

hinauf und hinunter. Der Zahlenwust hatte inzwischen den Flur<br />

bedeckt und wucherte bereits in die Küche hinein. Rocket<br />

betrachtete fasziniert das irrsinnige Geflecht.<br />

Jede Hangelei wurde unweigerlich von einem Strudel am<br />

Grunde des Zahlenmeeres gefangen. Irgendwann erreichte<br />

man die Vier und war für immer verloren. Denn von der Vier<br />

mußte man hinunter zur Zwei, von dort zur Eins, und von da<br />

wurde man wieder zur Vier hochgeschleudert und mußte erneut<br />

den finalen Zyklus durchlaufen.<br />

Aber - und das machte Rocket rasend - warum sackte jede<br />

verdammte Zahl überhaupt so tief ab? Die Hunderter genauso<br />

unvermeidlich wie die Millionen, die Ungeraden nicht anders als<br />

die Geraden, es war ihm ein Rätsel.<br />

25


Fast wäre Rocket auf den Balkon hinausgegangen, um<br />

draußen weiterzumachen, und von dort wäre er dann wohl auf<br />

das Gestänge geklettert, mit dem die Fassade eingerüstet<br />

worden war, um endlich Platz zu haben für seine<br />

Berechnungen, als der Stift leergeschrieben war. Rocket<br />

beschloß spazieren zu gehen, um sich zu beruhigen.<br />

Beim Verlassen des Hauses bemerkte er eine leere Flasche<br />

Krimsekt, die am Boden stand. Man kann einem Problem nicht<br />

ansehen, wie schwer es zu lösen ist, dachte Rocket und ihm<br />

kam eine Idee. Da gab es doch diese Russenkneipe in seiner<br />

Straße, am anderen Ende, da würde er jetzt hingehen und sich<br />

den Laden einmal ansehen.<br />

Rocket hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und so<br />

wirkte das erste Bier auf ihn fast wie ein Keulenschlag. Das war<br />

gut, denn mehr als noch eins würde er sich hier nicht leisten<br />

können. Es war aber auch schlecht, denn das Tycobka und<br />

seine Gäste wirkten suspekt, ja gefährlich.<br />

Der Türsteher hatte Rocket kaum Platz gemacht beim<br />

Eintreten. Es stank hier förmlich nach Drogen, Waffen, Nutten<br />

und Mafia. Man betrachtete ihn mißtrauisch. Oder mitleidig.<br />

Jedenfalls wußte nicht einmal die Tresenschlampe, was der<br />

Name des Ladens eigentlich bedeutete. Bestimmt<br />

Geldwaschanlage, lästerte Rocket im Stillen.<br />

Und als er unverzeihlicherweise beim zweiten Bier saß, ließen<br />

sich zwei brutale Fressen neben ihm am Tresen nieder und<br />

machten sich breit. Rocket brachte eben sein Getränk aus der<br />

Reichweite eines Ellenbogens, als er sah, wie einer der Kerle<br />

ein zerknittertes Foto vor sich hinlegte und dem anderen zeigte,<br />

der daraufhin schmatzende Laute von sich gab.<br />

26


Rocket sah Jail und fühlte Rodeo im Herzen. Er sprach die<br />

beiden an und bat um sein Bild. Sie verstanden jedoch kein<br />

Wort. Rocket überlegte kurz, dann zeigte er auf sich und sagte<br />

Sputnik. Sie schauten ihn belustigt an. Dann zeigte er auf Jail<br />

und sagte Leika. Sie wurden nachdenklich. Und dann<br />

verschüttete er sein Bier über das Bild. Die beiden schienen nur<br />

darauf gewartet zu haben. Sie packten ihn, leerten seine<br />

Taschen, verpaßten ihm einen Satz Ohrfeigen, die sich wie<br />

Keulenschläge anfühlten und gaben ihm einen Stoß in den<br />

Rücken, der Rocket fast bis vor sein Haus stolpern ließ.<br />

Dort fiel sein Blick auf die Krimsektflasche und er rächte sich an<br />

dieser mit einem Tritt. Das Glas zersplitterte auf dem Asphalt.<br />

Als er keuchend die Wohnung betrat, zwackte ihn sein rechter<br />

großer Zeh. Rocket zog den Schuh aus: dabei konstatierte er<br />

einen Riß vorn im Leder und einen blutüberströmten Strumpf.<br />

Er kühlte die Wunde, wickelte sie in ein Handtuch ein und ließ<br />

sich ins Bett fallen. Wenigstens hatten die Scheißrussen ihm<br />

seinen Ring gelassen.<br />

Am nächsten Morgen weckte ihn ein süßlichstechender Geruch.<br />

Rocket hob den Kopf an und schnüffelte verständnislos. Hinter<br />

dem Vorhang bewegte sich jemand auf dem Gerüst, direkt<br />

hinter seinem Fenster. Was war das für ein eigenartiger<br />

Geruch? Er strömte direkt aus der Wand neben seinem<br />

Kopfkissen, es roch widerlich und irgendwie betäubend. Rocket<br />

schob den Vorhang beiseite und schaute nach draußen auf das<br />

Gerüst. Dort stand ein Mann mit geschultertem Kanister und<br />

einem Schlauch. Von dort ertönte ein sanftes Zischen. Ein<br />

Kammerjäger, dachte Rocket entsetzt, ich werde vergast!<br />

27


Mit einem Sprung war er aus dem Bett heraus und wäre fast auf<br />

die Dielen gestürzt: sein Zeh pochte! Rocket humpelte im<br />

Schlafanzug zum Balkon hinaus und lehnte sich über die<br />

Brüstung.<br />

Was machen Sie denn da?, schrie Rocket den Kammerjäger<br />

an, Sie vergiften mich ja im Bett!.<br />

Alles in Ordnung, wiegelte der Mann ab und arbeitete ungerührt<br />

weiter, da ist ein Wespennest in der Fassade. Ich hab den<br />

Auftrag von der Hausverwaltung.<br />

Das Zeug strömt durch die Wand rein!, protestierte Rocket und<br />

streckte sich nervös weiter vor.<br />

Die Wespen müssen weg, sagte der Kammerjäger ohne jede<br />

Aufregung, die sitzen in der Wand, ich komm nicht anders ran.<br />

Gleich bin ich fertig.<br />

Hören Sie sofort auf!, forderte Rocket, über meinem Kopfkissen<br />

schwebt eine Giftwolke.<br />

Der Mann rollte sorgsam seinen Schlauch zusammen und trat<br />

auf dem Gerüst zu Rocket hin.<br />

In einer halben Stunde ist alles vorbei, sagte er. Keine Sorge,<br />

ich verarbeite den Wirkstoff schon seit Jahren und hab noch nie<br />

eine Schutzmaske getragen.<br />

Das Zeug stinkt scheußlich!, beschwerte sich Rocket.<br />

Wird aus Chrysanthemen gewonnen, ein Naturstoff, erläuterte<br />

der Kammerjäger, harmlos für Menschen, aber die Insekten<br />

gehen drauf wie die Fliegen. Es zersetzt sich schnell, einfach<br />

gut durchlüften.<br />

Dann kletterte er eine Etage tiefer und verschwand.<br />

28


Rocket blieb noch einen Moment fassungslos stehen und<br />

betrachtete seinen schmerzenden Zeh. Wilde Gedanken<br />

arbeiteten in ihm.<br />

Er lüftete. Er schob das Bett fort. Er schnupperte nach einer<br />

Stunde an der Wand. Der üble Geruch war schwächer<br />

geworden, aber immer noch deutlich vorhanden. Sein Bettzeug<br />

roch danach und Rocket spürte einen ganz eigenartigen<br />

Geschmack auf der Zunge.<br />

Der Arzt hatte den Zeh behandelt und Rocket eine<br />

Tetanusspritze verabreicht. Sie könnten zur Giftberatung<br />

gehen, sagte er, aber vermutlich wird sich nichts nachweisen<br />

lassen. Drastische Nebenwirkungen sind mir nicht bekannt.<br />

Rocket humpelte langsam heim. Er fühlte sich elend, er hatte<br />

Angst, ihm schwindelte und er spürte diesen ekelhaften<br />

Geschmack im Gaumen, der sich noch auszubreiten schien.<br />

Am Abend schwebte das feinstechende Aroma immer noch im<br />

Raum. Jedenfalls roch er es, schmeckte es und ahnte seine<br />

zersetzende Aura. Ein leichter, aber fremdartiger Kopfschmerz<br />

belästigte ihn, die Nase fühlte sich taub an, und als er die<br />

Zahlenkolonnen an den Wänden abschritt, hatte Rocket den<br />

Eindruck, daß sein Lesevermögen beeinträchtigt war. Er<br />

versuchte, sich mit einem Buch zu beruhigen. Aber die Schrift<br />

schien im unscharf und er hatte Mühe sich auf den Inhalt zu<br />

konzentrieren. Er klappte das Buch zu.<br />

Dieser Idiot hat mich vergiftet, dachte Rocket, von wegen<br />

Naturstoff, von wegen wirkt nur bei Insekten!<br />

Er hatte eine schreckliche Nacht und wälzte sich in den frisch<br />

bezogenen Kissen. Aus den Daunen strömte es offenbar weiter<br />

29


hervor. Aber was sollte er machen? Selbst die Zigaretten<br />

schmeckten verseucht.<br />

Am nächsten Tag ging es Rocket leicht besser. Die Taubheit im<br />

Nasenbereich schien nachgelassen zu haben, aber er fühlte<br />

sich fahrig und wie von etwas besessen.<br />

Er kaufte sich einen neuen Edding und ein Pornomagazin. Er<br />

setzte seine zahlentheoretische Skizze fort. Das Rechnen fiel<br />

ihm schwer, er biß die Zähne zusammen. Er startete mit der<br />

Zahl 666 und hangelte sich durch die Halbierungen und die<br />

Verdreifachungen. Er fand kein Gegenbeispiel, alle Zahlen<br />

endeten in dem tödlichen Zyklus von 4 und 2 und 1, es gab kein<br />

Entkommen.<br />

Schließlich blätterte Rocket in dem Magazin. Dabei stieß er auf<br />

die Annonce: Kerl mit zwei Weibern sucht zweiten Schwanz.<br />

Nicht unter zwanzig Zentimetern. Rocket maß nach. Seine<br />

Erektionslänge lag darunter. Aber dafür konnte er eine Rakete<br />

präsentieren. Er war sich sicher, daß dies den Ausschlag geben<br />

würde.<br />

Rocket wählte die angegebene Telefonnummer. Er war<br />

aufgeregt, aber die Frau, die abnahm und ihn weiterreichte,<br />

sowie der Typ wirkten auch etwas unlocker. Obwohl alle drei<br />

betont cool taten. Sie verabredeten sich für den folgenden<br />

Abend.<br />

Danach fühlte Rocket sich befreiter. Er machte sogar eine<br />

kleine Entdeckung. Die meisten Zahlen passierten beim<br />

Herabhangeln die 137. Das war wie eine Art Trichter. Er<br />

untersuchte die Angelegenheit genauer. Nach dem 137-<br />

Durchgang gelang es manchen Zahlen fast, sich selbst aus<br />

dem Sumpf zu ziehen. Die 666 scheiterte ebenfalls knapp. Eine<br />

30


andere Rundreise als den Dreisprung am Boden konnte Rocket<br />

dabei jedoch nicht entdecken. Als der Morgen dämmerte, waren<br />

die Wände fast schwarz und Rocket begannen die Beine und<br />

die Gedanken zu zittern.<br />

Er versuchte zu schlafen. Er dachte wieder an die Worte, die<br />

Jail ihm ins Ohr geleckt hatte, und bekam eine fürchterliche<br />

Erektion. Chrysanthemen! Er träumte von einem labyrinthischen<br />

Treppenhaus: egal von welcher Höhe aus er startete, er mußte<br />

durch die 137. Etage und im Erdgeschoß erwartete ihn ein<br />

Dickicht wispernder Chrysanthemen. Erst am Nachmittag kam<br />

Rocket wieder zu sich, frühstückte eine Pizza mit<br />

Meeresfrüchten, duschte ausgiebig und machte sich auf den<br />

Weg nach Neukölln.<br />

Es war im dritten Stock einer unscheinbaren Mietskaserne. Der<br />

Mann öffnete die Wohnungstür, in Bademantel und Latschen.<br />

Sie schüttelten einander die Hände und gingen ins<br />

Wohnzimmer. Die Frau vom Telefon saß breitbeinig, aber<br />

bekleidet auf dem Sofa. Sie trug Goldkettchen, war schon älter<br />

und hatte eine gute Figur.<br />

Wir warten noch, sagte der Kerl, ich hol mal Bier, okay?<br />

Dann schlurfte er davon. Rocket lächelte die Frau an. Der Mann<br />

bewegte sich irgendwie komisch. Die Frau bot ihm eine<br />

Zigarette an, Rocket gab erst sich und dann ihr Feuer. Sie<br />

schirmte unnötigerweise die Flamme ab, indem sie ihre Hand<br />

auf seine legte. An jedem Finger trug sie einen Goldring.<br />

Danke, schnarrte sie, wir machen das auch zum ersten Mal, so<br />

anonym.<br />

31


Dann stießen sie zu dritt mit den Bierflaschen an. Rocket saß<br />

neben der Frau auf dem Sofa, der Kerl gegenüber in einem<br />

Sessel. Eine Schlagersinfonie dudelte leise im Hintergrund. Der<br />

Mann begann am Gürtel seines Bademantels zu nesteln.<br />

Ich zeig dir meinen, sagte er, und dann wollen wir deinen<br />

sehen.<br />

Es klingelte an der Wohnungstür.<br />

Ich bin schon ganz naß, sagte die Frau und erhob sich um zu<br />

öffnen.<br />

Der Kerl schlug den Bademantel auf und rubbelte sein Glied<br />

steif. Er kickte die Latschen davon, stellte sich hin und<br />

präsentierte die Latte. Sie war enorm.<br />

Zweiundzwanzig Zentimeter, sagte er mit Gewißheit.<br />

Rocket starrte zu ihm hinüber. Auf seine Füße. Sie waren aus<br />

Holz. Er trug Prothesen aus Holz. Sein Gesicht verdüsterte<br />

sich.<br />

Ein Motorradunfall, sagte er, ich bin in die Speichen gekommen,<br />

es war ihre Schuld, was solls.<br />

Ich besitze kein Motorrad mehr, sagte Rocket erleichtert.<br />

Die Frau kam wieder zurück. Sie blickte Rocket herausfordernd<br />

an. Hinter ihr betrat die andere den Raum. In Lack und Leder,<br />

eine Peitsche in der Hand und eine Maschinenpistole über der<br />

Schulter.<br />

Hi, sagte Rocket und sackte ins Sofa. Dann mußte er kichern.<br />

Jail wurde erst blass, dann rot, dann böse.<br />

Was willst du Penner denn hier?, fauchte sie ihn an.<br />

Ah, ihr kennt euch schon, sagte die Frau, um so besser.<br />

Zeig uns deinen Schwanz!, sagte der Kerl und warf Jail darauf<br />

einen funkelnden Blick zu.<br />

32


Die Frau hielt einen Zollstock hoch, schnalzte mit der Zunge<br />

und sagte: jetzt!<br />

Rocket brach in ein höllisches Gelächter aus.<br />

Jail starrte ebenfalls auf die Prothesen. Das war nicht<br />

abgemacht, sagte sie, ich will Vorkasse.<br />

Rocket japste nach Luft. Laß uns abhauen!, keuchte er.<br />

Laßt uns endlich ficken!, knarzte die Frau, flutschte aus ihrem<br />

Kleid und bückte sich über einen der Sessel.<br />

Ich will erst seinen Schwanz sehen!, brüllte der Kerl und<br />

schlüpfte zurück in die Latschen.<br />

Countdown!, fauchte Jail und hieb der blaupochenden Eichel<br />

eins über mit dem Peitschenknauf. Der Mann ging ächzend zu<br />

Boden. Jail legte ihm Handschellen an. Wenn ich Vorkasse<br />

sage, meine ich auch Vorkasse!<br />

Rocket krümmte sich im Sessel vor Lachen.<br />

Achtung!, hustete er.<br />

Die Frau riß die Uzi von hinten an sich und stieß Jail voran<br />

gegen die Schrankwand.<br />

Jetzt wird richtig gefickt!, sagte sie dumpf und entsicherte die<br />

Waffe, mach ihn wieder los, Fettarsch!<br />

Jetzt wirst du meine zweiundzwanzig Zentimeter kennenlernen,<br />

stöhnte der Mann und kam Jail auf Knien entgegen.<br />

Fettarsch ist nicht in Ordnung!, sagte Rocket und erhob sich.<br />

Was?, grunzte die Frau und stellte sich breitbeinig hin.<br />

Ich sagte, Fettarsch ist verdammt nicht in Ordnung!<br />

Rocket hörte den eisigen Klang seiner Stimme, er spürte den<br />

mechanischen Schritt seiner Füße und die ungläubigen Blicke<br />

der anderen.<br />

33


Keinen Schritt weiter!, schrie die Frau an der Waffe und ihre<br />

Pussy tropfte vor Streß.<br />

Ich hatte eine wirklich schlechte Nacht, sagte Rocket und ging<br />

geradewegs auf die Maschinenpistole los, ich bin vollgepumpt<br />

mit Insektizid, mein Zeh pocht und ich habe eine Scheißlaune.<br />

Six Six Six, sagte Jail und trat die Kette zwischen den<br />

Handschellen am Boden fest. Das Magazin ist leer. Haltet ihr<br />

mich für bescheuert?<br />

Die Frau verzog das Gesicht zu einer Fratze und drückte ab:<br />

Klick Klick Klick.<br />

Rocket marschierte weiter, wie ein Insekt durch Salzsäure.<br />

Hinter dem Sessel!, stöhnte der Kerl.<br />

Die Frau tauschte die Uzi blitzartig gegen eine Axt aus und<br />

schwang diese mit beiden Händen.<br />

Scheiße, sagte Jail und wich zurück.<br />

Scheiße, sagte Rocket und stürzte mit Knien aus Pudding<br />

gegen Jail.<br />

Scheiße, sagte die Frau und ließ die Axt niedersausen.<br />

Scheiße, sagte der Mann und wurde bewußtlos.<br />

Die Axt hatte ihm glatt die Hände abgetrennt.<br />

Während Rocket den Notarzt anrief, packte Jail die Hände ins<br />

Gefrierfach. Die Frau mußte ihrem Kerl die Arme hochhalten<br />

und die Stümpfe abpressen. Alles war besudelt, bis hinunter zu<br />

seinen Prothesen.<br />

Bei mir ist es gerade nicht so gemütlich, sagte Rocket, laß uns<br />

zu dir gehen.<br />

Okay, meinte Jail und ließ das Schlüsselchen neben die<br />

Handschellen in eine Blutlache plumpsen, bloß weg hier!<br />

34


Bei Jail saßen sie zwischen lauter halbgepackten Kartons. Aber<br />

immerhin gab es leckere Sachen im Kühlschrank. Jail benötigte<br />

einfach nur eine Stärkung. Rocket verspürte einen abnormen<br />

Heißhunger. Also stopften sie sich voll und soffen Wein dazu.<br />

Und dann gingen sie in die Kissen und fickten. Über dem Bett<br />

hing ein abscheuliches Ölgemälde, das Jails verstorbene<br />

Großmutter zeigte. Sie waren eben dabei voll loszurammeln, da<br />

segelte das rissige Gemälde vom Haken herab und wurde von<br />

Jails Stirn durchschlagen, so daß Rahmen und Leinwand ihr<br />

Gesicht umkränzten.<br />

Egal, schrie Jail begeistert und zog Rocket vor den Spiegel. Sie<br />

geriet darüber ganz in Ekstase, daß nun ihr Gesicht anstelle<br />

desjenigen ihrer Großmutter den Schinken ausfüllte.<br />

Fick mich, schieb mir deine Rakete in den Arsch, schlag mich!,<br />

befahl Jail, und Rocket ohrfeigte ihre Titten, zog an ihrem Ring<br />

und fickte ihren göttlichen, fetten Arsch durch, daß höchstens<br />

die Challengerkatastrophe damit vergleichbar war.<br />

Später lagen sie ausgestreckt nebeneinander im Bett und<br />

rauchten im Dunkeln und redeten. Die zerfetzte Großmutter<br />

hing wieder am Haken. Im Radio wurde die Nationalhymne<br />

gespielt.<br />

Wenn zwei jemanden umbringen und dann zusammen ficken,<br />

sagte Jail, dann ist das bestimmt das Allergrößte.<br />

Vor ein paar Jahren starb mein bester Freund bei einem<br />

Verkehrsunfall, sagte Rocket, und nach der Beerdigung bin ich<br />

mit seiner Flamme ins Bett gegangen. Sie hatte ein Wasserbett<br />

und die Maße von Pamela Anderson.<br />

Dann lauschten sie dem Nachrichtensprecher und malten mit<br />

der Glut ihrer Zigaretten Figuren in die Dunkelheit. In Tora Bora<br />

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wurden die letzten Schläfer wachgebombt und in Hannover<br />

hatten sie den Schwarzen Riesen geschnappt.<br />

Rocket rieb seinen silbernen Skull an Jails Pussy-Ring.<br />

Die Nacht der schlimmen Finger, witzelte er.<br />

Ulams war länger, sagte Jail. Damit das klar ist, ich schmeiß<br />

dich jetzt raus. Für immer.<br />

Sie wird noch als Assistentin bei Siegfried und Roy enden,<br />

dachte Rocket und stellte sich vor, wie ein weißer Tiger ihr den<br />

hübschen Kopf abbiß.<br />

Okay, sagte er und drückte die Zigarette aus, gib mir Prozac<br />

mit.<br />

Sie warf eine angebrochene Schachtel auf die Bettdecke und<br />

ging duschen.<br />

Jail bekam später überraschend Besuch. Es war Tumo, der sich<br />

von seinem Kampfhund hatte leiten lassen und ihr eine<br />

Anzahlung in Form von Aktien überreichte. Die Macher der<br />

Soap in spe seien begeistert von ihr, der Vertrag liege bereit.<br />

Sie müsse nicht ficken dafür, erläuterte Tumo, sie müsse sich<br />

nicht das Fett vom Hintern saugen lassen, nur wäre es gut,<br />

wenn sie keinen Respekt vor Friedhöfen habe. Und dann<br />

lachten sie miteinander, und so blieb es auch bei der<br />

Zusammenarbeit am Set. Die Soap lieferte einen annehmbaren<br />

Skandal und Jail profitierte davon. Tumo wurde ihr Manager<br />

und ersetzte Jail sogar das Prozac, denn immer wenn er mit<br />

den falschen Diamanten klöterte, fielen alle irdischen Sorgen<br />

von ihr ab.<br />

Rocket ließ sich die Rakete nicht weglasern. Im Übrigen war er<br />

wehrlos gegen die Intrigen eines früheren Kunden, dem es<br />

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selbst Monate nach Rockets Konkurs noch gelang, seine<br />

eigenen Schiebereien auf ihn abzuwälzen. Rocket kam aus<br />

dem Staunen und vorerst auch aus dem Gefängnis nicht<br />

heraus. Dort gab er eigene Moritaten zum Besten und<br />

freundete sich mit Ulam an. Dieser konnte ihm über seinen<br />

Onkel einen Job an der Wall Street beschaffen. Rocket<br />

arbeitete als Wachmann und schritt jede Nacht über das<br />

Parkett, erklomm den Thron des Aufsichtsführenden, leuchtete<br />

in den verkabelten Himmel, und schlug ganz für sich mit dem<br />

Hammer auf die Glocke, die den Arbeitstag der Börsianer<br />

beendete. Wen die Götter verarschen wollen, dachte er, dessen<br />

Wünsche veräppeln sie.<br />

So endet die Geschichte von Rocket Scientist und Jail Babe.<br />

Sie wurde 2003 verfaßt von DEATH, dem Computerprogramm<br />

DiachronieEmulator&AgentenbasierterThesaurus des Collatz<br />

Centrums für Zeitreihenanalysen in Berlin.<br />

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