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Das Verhältnis von Spiel, Liebe und Alltag im Film „Jeux d'enfants“

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UNIVERSITÄT KARLSRUHE (TH)<br />

Institut für Literaturwissenschaft<br />

Hauptseminar <strong>Spiel</strong> in Literatur <strong>und</strong> <strong>Film</strong><br />

(WS 2007/08)<br />

Prof. Dr. A. Böhn<br />

<strong>Das</strong> <strong>Verhältnis</strong> <strong>von</strong> <strong>Spiel</strong>, <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> <strong>Alltag</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong> <strong>„Jeux</strong> d’enfants“<br />

Manuela Popp<br />

Gerwigstraße 20<br />

76131 Karlsruhe<br />

0721/2049755<br />

Germanistik (HF)/Mult<strong>im</strong>edia (NF); BA<br />

5. Semester<br />

Matrikelnummer:1314512


Inhaltsverzeichnis<br />

1. Einführung......................................................................................................................1<br />

2. <strong>Das</strong> Wettspiel Sophies <strong>und</strong> Juliens.................................................................................2<br />

2.1 Die Ausgangsbedingungen des <strong>Spiel</strong>s...........................................................................2<br />

2.2 Die Wetten in der Kindheit............................................................................................5<br />

2.3 Die Wetten der Jugend...................................................................................................7<br />

2.4 <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> <strong>im</strong> Erwachsenenalter.....................................................................................9<br />

2.5 Der Tod........................................................................................................................13<br />

3. <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> <strong>Spiel</strong>.............................................................................................................15<br />

3.1 <strong>Liebe</strong> als <strong>Spiel</strong>? ...........................................................................................................15<br />

3.2 <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> als Amour fou..............................................................................................16<br />

4. <strong>Alltag</strong> <strong>und</strong> <strong>Spiel</strong>............................................................................................................18<br />

4.1 Der Begriff des <strong>Alltag</strong>s.................................................................................................18<br />

4.2 Der <strong>Alltag</strong> Juliens .................................................................................................... ...20<br />

4.2.1 Beziehung zum Vater.............................................................................................20<br />

4.2.2 Juliens Privatleben <strong>und</strong> Arbeit................................................................................21<br />

4.3 Der <strong>Alltag</strong> Sophies.......................................................................................................21<br />

4.4 Die Sonderrealität des <strong>Spiel</strong>s.......................................................................................22<br />

4.5 <strong>Alltag</strong> als <strong>Spiel</strong>? ..........................................................................................................24<br />

5. <strong>Das</strong> <strong>Verhältnis</strong> <strong>von</strong> <strong>Alltag</strong>, <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> <strong>Spiel</strong>.................................................................24<br />

6. Was wäre, wenn? .........................................................................................................25


1. Einführung<br />

1<br />

Der Kinofilm Jeux d’enfants ist das Debüt des französischen Regisseurs Yann Samuell <strong>und</strong><br />

lief <strong>im</strong> Jahre 2003 in den französischen Kinos, bevor er 2004 auch in Deutschland zu sehen<br />

war. Er war jedoch in keinem der genannten Länder ein großer kommerzieller Erfolg. In<br />

Frankreich stand er in der Jahresstatistik 2003 mit 1,04 Mio. Zuschauern gerade einmal auf<br />

Platz 43 der meistbesuchten <strong>Film</strong>e. 1 Betrachtet man nur die französischen Produktionen, so<br />

steht er <strong>im</strong>merhin auf Platz 13, aber dennoch weit hinter den erfolgreichsten französischen<br />

Produktionen dieses Jahrs „Taxi 3“ (6,06 Mio. Zuschauer) <strong>und</strong> „Chouchou“ (3,80 Mio.<br />

Zuschauer). Auch bei der Kritik viel der <strong>Film</strong> durch:<br />

„La vie est cruelle, les scénaristes et les réalisateurs aussi – pour leurs personnages comme pour leur<br />

public. Tandis que se succèdent les blagues de potaches et les coups de théâtre téléphonés longue<br />

distance, il reste au spectateur la possibilité de méditer sur la résurrection des aspects les plus rances<br />

du vieux réalisme poétique.“ 2<br />

In Deutschland stellte der <strong>Film</strong> ebenfalls keinen kommerziellen Erfolg dar – aber zumindest<br />

<strong>von</strong> den Kritikern wurde er wohlwollender aufgenommen:<br />

„Aber was der französische Regisseur vorführt, <strong>von</strong> den Darstellern Guillaume Canet <strong>und</strong> Marion<br />

Cotillard in allen Phasen der Selbstentäußerung prächtig unterstützt, beweist Szene um Szene, welche<br />

w<strong>und</strong>erbaren Kinoüberraschungen die Kraft der Anarchie gebären kann.“(FAZ) 3<br />

„Samuell zeigt das Zusammenleben der beiden, das eher an ein Duell als an eine romantische Liaison<br />

erinnert, mit manchmal kitschigen, oft grandios st<strong>im</strong>mungsvollen <strong>und</strong> surrealen Bildern. Die Eleganz<br />

<strong>und</strong> Souveränität, mit der Samuell Szenen <strong>von</strong> mitreißender Magie erschafft, ist für ein Regie-Debüt<br />

bemerkenswert.“ (Münchner Merkur) 4<br />

Diesem Abwechslungsreichtum <strong>und</strong> der zynischen Subvertierung der Zuckerbäcker-Optik ist es zu<br />

verdanken, dass Jeux d’enfants so viel mehr geworden ist als eine bloße Kopie: Ein <strong>Film</strong> über das<br />

<strong>Spiel</strong>en <strong>und</strong> die <strong>Liebe</strong> - <strong>und</strong> vor allem über den Zusammenhang zwischen beidem. Ein <strong>Film</strong> auch über<br />

das Kino, über das, was man unter den Bildern etwa einer Amélie entdecken kann, wenn man nur tief<br />

genug gräbt.(filmzentrale.com) 5<br />

Es handelt sich be<strong>im</strong> <strong>Film</strong> <strong>„Jeux</strong> d’enfants“ mehr um einen Insider-<strong>Film</strong>, der <strong>von</strong> einem<br />

cineastisch versierten Publikum geschätzt wird, als um einen kanonisiert für gut bef<strong>und</strong>enen,<br />

1<br />

Statistik des centre national de la cinématographie.<br />

2<br />

Jean-Michel Frodon: Jeux d’enfants. In: Cahier du cinéma 582 (2003), S. 36.<br />

3<br />

Hans-Dieter Seidel: Schreckliche Kinder: Yann Samuells <strong>Film</strong> „<strong>Liebe</strong> mich, wenn du dich traust“. In: FAZ<br />

(11.08.2004), S. 35.<br />

4<br />

Ulricke Frick: Die heilige Dose. In: Münchner Merkur. http://www.merkuronline.de/mm_alt/nachrichten/kultur/film/art368,307983<br />

5<br />

Benjamin Happel: <strong>Liebe</strong> mich, wenn du dich traust. In: <strong>Film</strong>zentrale.<br />

http://www.filmzentrale.com/rezis/liebemichwenndudichtraustbh.htm, aufgerufen am 13.03.2008.


2<br />

erfolgreichen Kinofilm. Doch ganz unabhängig <strong>von</strong> dieser Tatsache ist er, unter dem Aspekt<br />

„<strong>Spiel</strong>“ betrachtet, ein interessantes <strong>und</strong> der Analyse berechtigtes Kunstwerk.<br />

In dieser Arbeit soll das <strong>Verhältnis</strong> <strong>von</strong> <strong>Spiel</strong>, <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> <strong>Alltag</strong> untersucht, sowie gezeigt<br />

werden, dass das <strong>Spiel</strong> zwischen Sophie <strong>und</strong> Julien eine Form der Amour fou darstellt. Diese<br />

wahnsinnige, unerfüllte <strong>Liebe</strong> ist die Gr<strong>und</strong>lage des <strong>Spiel</strong>s, mit dessen Hilfe die beiden<br />

Protagonisten ihrem als langweilig <strong>und</strong> gleichförmig empf<strong>und</strong>enen <strong>Alltag</strong> entfliehen können.<br />

2. <strong>Das</strong> Wettspiel Sophies <strong>und</strong> Juliens<br />

Der <strong>Film</strong> <strong>„Jeux</strong> d’enfants“ thematisiert eine Form des <strong>Spiel</strong>s, die sehr häufig bei Kindern<br />

anzutreffen ist: <strong>Das</strong> Wettspiel. Es handelt sich nicht um das Wetten als Form des<br />

Glücksspiels, wie es bei Erwachsenen häufig anzutreffen ist, sondern um das Abschließen <strong>von</strong><br />

Wetten zwischen zwei Parteien, deren Erfüllung <strong>von</strong> der jeweils anderen gefordert wird. Ein<br />

Teilnehmer kann somit durch sein Handeln direkt Einfluss auf das Ergebnis nehmen. Die<br />

Gr<strong>und</strong>frage lautet jedes Mal: „Wetten, dass du dich (nicht) traust?“, die der Partner durch die<br />

Ausführung eben jener Tatsache, um die es sich handelt, beantworten muss. Im Französischen<br />

wird diese Frage mit „cap ou pas cap?“ gestellt, in der deutschen Synchronisation mit „Top<br />

oder Flop?“ übersetzt. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie es zum Beginn des <strong>Spiel</strong>s<br />

zwischen Julien <strong>und</strong> Sophie kommen kann, sowie die Wetten zwischen den beiden <strong>im</strong><br />

Einzelnen vorgestellt <strong>und</strong> ihre Bedeutung für den Verlauf der Geschichte dargelegt werden.<br />

2.1 Die Ausgangsbedingungen des <strong>Spiel</strong>s<br />

Der <strong>Film</strong> beginnt nach einem kurzen Prolog, in welchem Julien aus dem Off <strong>von</strong> <strong>Spiel</strong>en <strong>im</strong><br />

Allgemeinen erzählt, mit der Erklärung, wie es zu dem <strong>Spiel</strong> zwischen ihm <strong>und</strong> Sophie kam:<br />

„Ce jeux il a commencé avec une jolie maison, un joli bus sans conducteur, une jolie boîte et<br />

une jolie copine.“ (Minute 3:10) Doch gleich darauf wendet er ein: „Non, en vérité je me<br />

trompe. Le jeux a commencé un petit peu plutôt. Il a commencé par un mot dégoûtant qui veut<br />

rien dire de tout. Un mot comme: métastases.“ (Minute 3:24)<br />

Noch bevor näher darauf eingegangen wird, um welche Art <strong>von</strong> <strong>Spiel</strong> es sich überhaupt<br />

handelt, werden zunächst dessen Hintergründe erläutert.<br />

Juliens Mutter bekommt <strong>von</strong> einem Arzt die Diagnose Krebs gestellt, was für Julien jedoch<br />

ein leerer Begriff ist. „Metastasen“ stehe für ihn auf der selben Stufe wie „Mammut“, beides


3<br />

seien Begriffe, die für ihn nichts bedeuten. Er spürt jedoch intuitiv, dass es sich bei<br />

Metastasen um etwas Negatives handelt, <strong>und</strong> projiziert diese negativen Gefühle auf den Arzt,<br />

der die Mutter zu Hause besucht. Dieser fremde Mann stört die enge Beziehung, die Julien zu<br />

seiner Mutter hat. Bei einem Hausbesuch versteckt sich der Junge unter dem Bett seiner<br />

Mutter, beobachtet den Arzt kritisch <strong>und</strong> findet seine Hose „doof“. Es ist anzunehmen, dass er<br />

den schlechten Ges<strong>und</strong>heitszustand seiner Mutter <strong>und</strong> das Auftauchen des Arztes miteinander<br />

in Verbindung setzt, womöglich sogar Ursache <strong>und</strong> Wirkung verwechselt. Die enge<br />

Beziehung zu seiner Mutter findet bald darauf durch deren Tod ein abruptes Ende.<br />

Mit einer losen Assoziation Juliens wird daraufhin Sophie in die Geschichte eingeführt. Es<br />

gebe noch andere „doofe Wörter“, wie zum Beispiel „Kowalsky“ <strong>und</strong> „Polacke“ (Minute<br />

3:51). <strong>Das</strong> Bild zeigt daraufhin, wie Sophie auf der Straße steht <strong>und</strong> auf den Schulbus wartet,<br />

umringt <strong>von</strong> ihren Mitschülern, die sie besch<strong>im</strong>pfen. Ihre Schultasche wird auf die nasse<br />

Straße ausgeleert, <strong>und</strong> die Kinder machen sich über die Herkunft des Mädchens lustig. Später<br />

erfährt man zudem, dass Sophie aus einer ärmeren Familie stammt <strong>und</strong> mit dieser in einer<br />

Sozialwohnung lebt. Diese beiden Tatsachen, ihre polnische Abstammung sowie die armen<br />

materiellen <strong>Verhältnis</strong>se, machen Sophie zu einer Außenseiterin.<br />

Beide, Julien <strong>und</strong> Sophie, sind also in ihrer Lebensrealität mit negativen Situationen<br />

konfrontiert. Diese stellen nicht nur ein kurzfristiges Problem dar, sondern haben großen<br />

Einfluss auf deren jeweiliges Leben. Resultierend daraus fühlen sie sich in diesem nicht wohl.<br />

Auch wenn es sich um verschiedene konkrete Situationen handelt, ist die empf<strong>und</strong>ene<br />

Benachteiligung gleich. Diese Gleichheit ist die Gr<strong>und</strong>voraussetzung für ein agonales <strong>Spiel</strong><br />

wie das Wettspiel, das sich zwischen Sophie <strong>und</strong> Julien entwickelt. Denn nur auf Basis einer<br />

gegebenen oder künstlich geschaffenen Gleichheit <strong>im</strong> Rahmen des <strong>Spiel</strong>s können die<br />

Handlungen der Mitspieler vergleichbar gemacht werden. Dies gilt für alle agonalen <strong>Spiel</strong>e. 6<br />

<strong>Das</strong> kindliche Wetten gehört zu dieser Form der agonalen <strong>Spiel</strong>e, das sich durch seinen<br />

Wettkampfcharakter auszeichnet.<br />

<strong>Das</strong>s das Wettspiel zwischen Julien <strong>und</strong> Sophie in die Kategorie „<strong>Spiel</strong>“ eingeordnet werden<br />

kann, lässt sich auch durch die Anwendung der drei formalen Kennzeichen des <strong>Spiel</strong>s <strong>von</strong><br />

Huizinga 7 zeigen:<br />

6 Roger Callois: Die <strong>Spiel</strong>e <strong>und</strong> die Menschen. Maske <strong>und</strong> Rausch. Frankfurt/M, Berlin 1982, S. 21.<br />

7 Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur <strong>im</strong> <strong>Spiel</strong>. Reinbek bei Hamburg 1956, S. 14 ff.


4<br />

<strong>Das</strong> erste Kriterium für ein <strong>Spiel</strong> ist die Freiheit: es muss nicht gespielt werden, aber es gibt<br />

Gründe dafür, es dennoch zu tun. Diese sind <strong>im</strong> Fall <strong>von</strong> Julien <strong>und</strong> Sophie die<br />

Unzufriedenheit mit ihrem wirklichen Leben. Sophies Angebot der ersten Wette an Julien ist<br />

ihre eigene, freie Entscheidung, die jedoch durch die Diskr<strong>im</strong>inierung durch ihrer Mitschüler<br />

ausgelöst wird.<br />

<strong>Das</strong> zweite Kriterium ist die Sonderrealität des <strong>Spiel</strong>s: „<strong>Spiel</strong> ist nicht das ‚gewöhnliche’<br />

oder das ‚eigentliche’ Leben“ 8 , vielmehr ein Heraustreten aus ihm in eine zeitweilig andere<br />

Sphäre; man „tut bloß so“. <strong>Das</strong> es sich um ein <strong>Spiel</strong> handelt, das beide wirklich ernst nehmen,<br />

aber dennoch als <strong>Spiel</strong> begreifen, wird an dem Dialog deutlich, nachdem sie sich das erste<br />

Mal küssen. Sophie fordert <strong>von</strong> Julien: „<strong>Liebe</strong> mich“, was dieser mit „Cap“ beantwortet. Was<br />

<strong>von</strong> Julien vielleicht nur als Witz gemeint war, wird <strong>von</strong> Sophie sehr ernst aufgefasst <strong>und</strong><br />

entsetzt sie. In diesem Moment wird ihr klar, dass sie Julien nicht außerhalb ihrer <strong>Spiel</strong>s<br />

vertrauen kann – nur was Teil des <strong>Spiel</strong>s ist, ist für beide verbindlich. Es ist Sophie nicht<br />

möglich, eine Forderung an Julien innerhalb der „eigentlichen“ Realität zu stellen. <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong><br />

findet in einer Sonderrealität statt, in der sich Sophie <strong>und</strong> Julien für die Zeit ihrer Wetten<br />

bewegen.<br />

<strong>Das</strong> dritte Kriterium des <strong>Spiel</strong>s ist seine Abgeschlossenheit <strong>und</strong> Begrenztheit: es wird<br />

innerhalb <strong>von</strong> best<strong>im</strong>mter Grenzen <strong>von</strong> Zeit <strong>und</strong> Raum gespielt. Dieser Punkt trifft auf das<br />

<strong>Spiel</strong> <strong>von</strong> Sophie <strong>und</strong> Julien nur teilweise zu. Sobald Sophie <strong>und</strong> Julien aufeinander treffen,<br />

treten sie automatisch in die Welt des <strong>Spiel</strong>s ein. Es ist somit auf die Zeit begrenzt, die Sophie<br />

<strong>und</strong> Julien zusammen verbringen. <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> kennt jedoch kaum eine räumliche<br />

Abgetrenntheit zur Lebensrealität der beiden <strong>Spiel</strong>er. Jeder Ort, außer dem Zuhause Sophies,<br />

was <strong>im</strong> nächsten Abschnitt genauer erläutert wird, kann sich in einen Teil des <strong>Spiel</strong>felds<br />

verwandeln, wenn eine Aufgabe gestellt wird. Voraussetzung für das <strong>Spiel</strong> ist allerdings die<br />

räumliche Anwesenheit der <strong>Spiel</strong>dose. Dies wird in der Krankenhausszene deutlich (Minute<br />

19:45): Da Julien nicht <strong>im</strong> Besitz der Dose ist, kann er seiner Mutter keine Wette stellen. Ein<br />

zeitliches Ende für das <strong>Spiel</strong> ist jedoch nicht gegeben, beziehungsweise tritt erst mit dem Tod<br />

eines der beiden Mitspieler ein. Es handelt sich um ein lebenslanges <strong>Spiel</strong>, eine Art<br />

lebenslangen Pakt.<br />

8 Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur <strong>im</strong> <strong>Spiel</strong>. Reinbek bei Hamburg 1956, S. 14.


5<br />

Jedes <strong>Spiel</strong> unterliegt Regeln. „Sie best<strong>im</strong>men, was innerhalb der zeitweiligen Welt, die es<br />

herausgetrennt hat, gelten soll. Die Regeln eines <strong>Spiel</strong>s sind unbedingt bindend <strong>und</strong> dulden<br />

keine Zweifel.“ 9 Für das <strong>Spiel</strong> Juliens <strong>und</strong> Sophies gibt es eine Hauptregel. Wer die Dose<br />

besitzt, darf dem anderen eine Wette stellen, die dieser erfüllen muss. Ausgehend <strong>von</strong> dieser<br />

Gr<strong>und</strong>regel zeigt sich <strong>im</strong> Laufe der Geschichte jedoch noch eine weitere Regel. Es gibt einen<br />

Ort, der zum Tabu gemacht wird: <strong>Das</strong> Zuhause Sophies. Sie schämt sich für ihre Herkunft <strong>und</strong><br />

will nicht, dass Julien sie dort besucht. Als dieser gegen die Regel verstößt, ändert sich das<br />

<strong>Spiel</strong>. Bislang erzeugte es Nähe zwischen Sophie <strong>und</strong> Julien <strong>und</strong> festigte ihre Bindung. Ab<br />

diesem Zeitpunkt kehrt sich das <strong>Spiel</strong> in sein Gegenteil um <strong>und</strong> wird zum trennenden Element<br />

zwischen den beiden Protagonisten. Für alle <strong>Spiel</strong>e gilt: „Sobald die Regeln übertreten<br />

werden, stürzt die <strong>Spiel</strong>welt zusammen.“ 10<br />

2.2 Die Wetten in der Kindheit<br />

<strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> beginnt mit einer Wette, die Sophie an Julien stellt, damit dieser sich seine<br />

<strong>Spiel</strong>dose zurückholen kann. Zuvor reichte er diese Sophie als Geste kindlichen Mitgefühls,<br />

nachdem deren Mitschüler ihre Schultasche auf die Straße ausleeren. Während der Busfahrer<br />

Sophie be<strong>im</strong> Aufsammeln ihrer Schulhefte hilft, löst Julien die Handbremse des Busses, der<br />

daraufhin die Straße hinunter rollt. Bereits hier wird deutlich, dass das <strong>Spiel</strong> <strong>von</strong> Sophie <strong>und</strong><br />

Julien außerhalb der Konventionen verläuft. Der Busfahrer, der sich durch seine<br />

Hilfsbereitschaft auszeichnet, <strong>und</strong> die Schüler, die Sophie besch<strong>im</strong>pft haben, sind die<br />

Leidtragenden, also diejenigen, auf deren Kosten die Wette erfüllt wird. Während dies aus<br />

Sicht Sophies <strong>und</strong> Juliens eine durchaus gerechte Rache an den Schülern ist, kann man das für<br />

den Busfahrer nicht behaupten. Er wird sozusagen für seine gute Tat bestraft. Es wird schon<br />

anhand der ersten Wette deutlich, dass sich ihr <strong>Spiel</strong> nicht an moralischen Gr<strong>und</strong>sätzen<br />

orientiert, sondern es ausschließlich um die Erfüllung der dem <strong>Spiel</strong> <strong>im</strong>manenten Regeln geht.<br />

Es ist ein typisches Charakteristikum des <strong>Spiel</strong>s, dass herkömmliche Regeln außer Kraft<br />

gesetzt werden <strong>und</strong> eigene <strong>Spiel</strong>regeln gelten. Gesellschaftliche Normen, Gesetze <strong>und</strong> Werte<br />

haben für Sophie <strong>und</strong> Julien keine Gültigkeit. Sie leben nach den Regeln ihres eigenes <strong>Spiel</strong>s,<br />

dessen <strong>Spiel</strong>feld ihr gesamtes Umfeld umfasst, <strong>und</strong> bewerten Handlungen nicht nach<br />

gesellschaftlich anerkannten Gr<strong>und</strong>sätzen.<br />

9 Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur <strong>im</strong> <strong>Spiel</strong>. Reinbek bei Hamburg 1956, S. 18.<br />

10 Ebd., S. 18.


6<br />

Die zweite, ausführlich dargestellte Wette wird <strong>von</strong> Julien an Sophie gestellt. Die beiden<br />

Kinder gehen in die selbe Schulklasse <strong>und</strong> werden dort <strong>von</strong> ihrer Lehrerin aufgefordert,<br />

Wörter, die mit dem Buchstaben „B“ beginnen, zu nennen. Sophie meldet sich, wird<br />

aufgerufen, <strong>und</strong> beginnt in der deutschen Synchronisation aufzuzählen:<br />

„Bockmist, bumsen, Busen, Biene, Bordell, borstig, brünstig, biedere Bohnenstange, blödes<br />

Biest, bumst böses Biest“ (Minute 8:25). Die Lehrerin ist sehr erbost über diese Nennungen<br />

Sophies, <strong>und</strong> schickt sie zum Direktor. An der Dose, die nach dieser Aufzählung <strong>von</strong> Julien<br />

an Sophie gegeben wird, ist zu erkennen, dass es sich um eine Wette handelte. Julien, der<br />

durch die Übergabe der <strong>Spiel</strong>dose seine Komplizenschaft zu Sophie verraten hat, wird mit<br />

zum Direktor geschickt. In dieser Szene wird die fehlende Anerkennung <strong>von</strong><br />

Autoritätspersonen deutlich. Im <strong>Spiel</strong> gelten keine in der Gesellschaft anerkannten Autoritäten<br />

oder Hierarchien, wie sie zwischen einer Lehrerin <strong>und</strong> ihren Schülern normalerweise üblich<br />

sind.<br />

Im Büro des Direktors wird der Zuschauer Zeuge der dritten Wette. Während der Direktor den<br />

beiden Kindern eine Standpauke über Disziplin <strong>und</strong> Respekt hält, willigt Julien mit einem<br />

leise zu Sophie geflüstertem „Cap“ (Die Wette gilt) in eine dem Zuschauer bis dahin<br />

unbekannte, weitere Wette ein. Kurz darauf wird klar, was der Inhalt der Wette ist: Julien<br />

uriniert durch seine Hose auf den Fußboden des Z<strong>im</strong>mers des Direktors. Auch gegenüber dem<br />

Direktor, der in der Hierarchie noch einmal höher steht, greift das Autoritätsprinzip nicht.<br />

Diese beiden Wetten werden in einem darauf folgenden Tagtraum Juliens als Puppentheater<br />

wiedergegeben, das sich christlicher Metaphern bedient. Sophie <strong>und</strong> Julien stehen als Adam<br />

<strong>und</strong> Eva <strong>im</strong> Paradies, <strong>und</strong> Sophie fordert Julien mit dem Apfel der Verführung zu einer Wette<br />

auf. Der Direktor taucht in der Gestalt Gottes auf <strong>und</strong> bestraft die Kinder für ihr <strong>Spiel</strong> mit<br />

verschiedenen Qualen des Lebens, die <strong>von</strong> Abmagerungskuren bis zu Atomkriegen reichen.<br />

Als besonders schl<strong>im</strong>me Strafe erwähnt er zuletzt hübsche, kranke Mamas. Dies ist, aus der<br />

subjektiven Perspektive Juliens, das Schl<strong>im</strong>mste, was passieren kann. Mit dem Beginn des<br />

<strong>Spiel</strong>s verlieren Sophie <strong>und</strong> Julien ihre Unschuld <strong>und</strong> treten in die Welt des Unglücks ein.<br />

Während der Hochzeit <strong>von</strong> Sophies Schwester spielen sich die nächsten Wetten ab. Die<br />

beiden Kinder haben sich unter die lange Reihe <strong>von</strong> Tischen zurückgezogen <strong>und</strong> unterhalten<br />

sich dort über ihre Zukunftspläne. Danach fordert Sophie Julien dazu auf, ihr seine<br />

Geschlechtsteile zu zeigen. Dieser erfüllt die Aufgabe <strong>und</strong> fordert Sophie dazu auf, das<br />

Gleiche zu tun. Obwohl sie anmerkt, dass es eigentlich nicht <strong>im</strong> Sinne der <strong>Spiel</strong>regeln sei,


7<br />

eine Wette „zurückzustellen“, führt sie diese aus. Sie kritisiert die Form der Wette, jedoch<br />

nicht ihren Inhalt. Passend zu der dadurch aufgebauten Int<strong>im</strong>ität versucht Julien, Sophie zu<br />

küssen. Doch diese wehrt ihn mit den Worten ab: „C’est tellement plus s<strong>im</strong>ple d’être amis.“<br />

(Minute 18:49).<br />

Daraufhin schlägt ihm Sophie sofort die nächste Wette vor. Er muss das Tischtuch, auf dem<br />

sich die Hochzeitstorte befindet, herunter ziehen. Diese Wette dient vor allem der Auflösung<br />

der unangenehmen Situation, in der sich die beiden nach diesem missglückten, kindlichen<br />

Annäherungsversuch befinden. Somit wird sofort wieder der <strong>Spiel</strong>charakter hergestellt <strong>und</strong><br />

weder den Protagonisten, noch dem Publikum Zeit gelassen, die Bedeutung dieser „Abfuhr“<br />

wahrzunehmen.<br />

Eine letzte Wette wird in der Kindheit dargestellt. Diese findet jedoch nicht zwischen Julien<br />

<strong>und</strong> Sophie statt, sondern wird <strong>von</strong> Julien an seine Mutter gerichtet. Als diese <strong>im</strong><br />

Krankenhaus liegt, richtet ihr Sohn die Worte an sie: „Tu vas guérir, non? Cap ou pas cap?“<br />

(Minute 19:47). Doch seine Mutter antwortet ihm: „C’est pas toi qui a la boîte, mon cœur.“<br />

(Minute 19:54). Ohne die <strong>Spiel</strong>dose ist es demnach nicht möglich, eine Wette an eine andere<br />

Person zu stellen. Als Julien los laufen will, um sie zu holen, wird er noch <strong>im</strong> Krankenz<strong>im</strong>mer<br />

<strong>von</strong> seinem Vater aufgehalten. Kurze Zeit später steht Sophie mit der Dose in der Hand in der<br />

Z<strong>im</strong>mertür. Doch Julien glaubt, dass sie nur gekommen sei, um ihm eine weitere Aufgabe zu<br />

stellen. Der ernst gemeinte Hintergr<strong>und</strong> des Besuchs wird <strong>von</strong> Julien nicht wahrgenommen.<br />

Dem Zuschauer erschließt sich dieser jedoch anhand eines Blumenstraußes, den Sophie,<br />

nachdem sie aus dem Z<strong>im</strong>mer gegangen ist, in den Abfalle<strong>im</strong>er wirft, <strong>und</strong> der scheinbar für<br />

Juliens Mutter best<strong>im</strong>mt war. Hier wird das erste Mal deutlich, dass es Julien <strong>und</strong> Sophie<br />

nicht möglich ist, außerhalb ihres <strong>Spiel</strong>s auf ernsthafte Weise zu kommunizieren. Der<br />

Versuch der aufrichtig gemeinten Anteilnahme muss scheitern, da er nicht den Regeln des<br />

<strong>Spiel</strong>s gehorcht. Nur Handlungen, die Teil einer Wette sind, funktionieren zwischen den<br />

beiden.<br />

2.3 Die Wetten der Jugend<br />

Die nächste Wette findet nach einem zehnjährigen Zeitsprung statt. Mittlerweile sind Sophie<br />

<strong>und</strong> Julien 18-jährige Studenten, die eine enge Fre<strong>und</strong>schaft führen. Sophie verbringt viel Zeit<br />

<strong>im</strong> Hause der Janviers <strong>und</strong> ist eine Art Ziehschwester Juliens geworden.<br />

Obwohl sie bereits sehr spät für ihre, an diesem Tag stattfindende, mündliche Matheprüfung<br />

aufgestanden ist, fordert Julien sie heraus: Die Unterwäsche über die normale Oberbekleidung


8<br />

anziehen <strong>und</strong> so vor die Prüfer treten. Zwar findet dieser Vorschlag bei Sophie keinen<br />

freudigen Anklang, doch es ist klar, dass sie die Wette erfüllt. Eine Nichterfüllung ist keine<br />

Option. Es ist ein Kennzeichen aller bisherigen Wetten, dass es außer Frage steht, ob sie<br />

erfüllt werden – unabhängig der möglichen Konsequenzen. Bisweilen scheint es sogar so, als<br />

ob möglichst drastische Folgen den Reiz der Wetten erhöhten. Dies ist ein typisches<br />

Kennzeichen für <strong>Spiel</strong>e: Es wird Spannung gesucht, denn diese bereitet Lust. Auf diesen<br />

Punkt wird in Abschnitt 4.1 genauer eingegangen.<br />

Kurz darauf zeigt sich, dass die Wetten mittlerweile auch den sexuellen Bereich umfassen.<br />

Die kindlich-neugierige Form der Körperlichkeit, wie dem Zeigen der Geschlechtsorgane, hat<br />

sich weiterentwickelt. <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> hat seine kindliche Unschuld, die es nie wirklich besaß, nun<br />

gänzlich verloren. Sophie fordert Julien dazu auf, mit Aurelie Miller, einer Kommilitonin, zu<br />

schlafen, <strong>und</strong> dieser dabei ihre Ohrringe abzunehmen. Sophie verletzt sich mit dieser Wette<br />

selbst. Denn die Unterstellung Juliens, Sophie sei eifersüchtig auf dieses Mädchen, trifft die<br />

Wahrheit. Möglicherweise hegt Sophie den Wunsch, Julien an eine Grenze zu führen, deren<br />

Überschreitung er nicht wagt. Doch er erfüllt die Wette regelgemäß. Die Ohrringe, die er<br />

Sophie später überreicht, wirft diese in den Abfluss, mit der Genugtuung, dass Aurelie nun<br />

gar nichts Wertvolles mehr besitze.<br />

Auch die nächste Wette spielt <strong>im</strong> sexuellen Bereich. Igor, der Sportlehrer, mit dem Aurelie<br />

Miller angeblich, <strong>und</strong> Sophie laut eigener Aussage ebenfalls geschlafen hat, ist das Opfer.<br />

Sophie muss Igor abwechselnd mit Julien ohrfeigen, <strong>im</strong>mer <strong>und</strong> <strong>im</strong>mer wieder. Dadurch<br />

macht Julien jede weitere sexuelle Annäherung zwischen Igor <strong>und</strong> Sophie unmöglich.<br />

Schlussendlich muss sie ihm sogar zwischen die Beine treten. Bei dieser Aufgabe zieht sie<br />

sich eine Verletzung an der Hand zu, wie man an der nächsten Einstellung erkennen kann<br />

(Minute 33:12). Während Sophie also Julien dazu auffordert, sexuell aktiv zu werden,<br />

verhindert Julien diese Aktivität Sophies durch seine Wette. Dies fördert das gängige<br />

Rollenverhalten <strong>von</strong> aktiv agierendem Mann <strong>und</strong> sich enthaltender Frau. Wie man <strong>im</strong><br />

weiteren Verlauf des <strong>Film</strong>s jedoch mitbekommt, entspricht Sophie nicht dem Typus der<br />

passiven Frau. Nur innerhalb der Wette tritt dieser Zug zu Tage. Auf die gesamte Geschichte<br />

bezogen, repräsentiert Sophie vielmehr das aktive Prinzip. Sie initiiert die erste Wette, sie<br />

bietet ihm in einer Wette die <strong>Liebe</strong>sbeziehung an, sie verhindert durch eine Wette den<br />

Kontakt zwischen den beiden für zehn Jahre.


9<br />

Die nächste Wette markiert einen Wendepunkt des <strong>Film</strong>s. Auf dem Nachhauseweg aus der<br />

Universität läuft Sophie auf der anderen Straßenseite als Julien. Sie ist sauer wegen der<br />

vergangenen Wette, bei der sie sich den Arm verletzt hat <strong>und</strong> fordert <strong>von</strong> Julien, sich bei ihr<br />

dafür zu entschuldigen. Doch er sieht dies nicht ein <strong>und</strong> argumentiert, Sophie hätte nicht<br />

wetten sollen. Dies ist jedoch nur ein Scheinargument, denn beide wissen, dass Wetten nicht<br />

abgelehnt werden. Als sich die beiden daraufhin um die <strong>Spiel</strong>dose rangeln, kommt es zur<br />

Annäherung. Ein tiefer Blick in die Augen führt zur Wette: „Embrasse-moi. Cap?“ (Minute<br />

33:45) Auf den schnellen Kuss Juliens reagiert Sophie, indem sie auf ein durch die beiden<br />

blockiertes Auto springt <strong>und</strong> Julien erneut auffordert: „J’ai dit embrasse-moi“ (Minute<br />

34:00), woraufhin dieser mit auf das Autodach steigt <strong>und</strong> Sophie leidenschaftlich küsst. Da<br />

sich der Autobesitzer über dieses Verhalten lautstark aufregt, laufen die beiden Hand in Hand<br />

da<strong>von</strong>, bis sie in einer Hauseinfahrt zum Stehen kommen. Dort fordert ihn Sophie auf: „A<strong>im</strong>e-<br />

moi.“ (Minute 34:48), was Julien mit einem „Cap“ beantwortet. Diese Antwort ist jedoch<br />

nicht das, was Sophie erwartet. Auf die Nachfrage, ob dies ein <strong>Spiel</strong> sei, antwortet Julien, dass<br />

es sich dabei um eine Wette handle, die sie ihm gerade gestellt habe. Daraufhin kippt die<br />

St<strong>im</strong>mung. Sophie wendet sich <strong>von</strong> ihm ab <strong>und</strong> verschwindet, Julien bleibt ratlos in der<br />

Einfahrt zurück. <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong>, das bislang der Annäherung der beiden diente, kehrt sich gegen<br />

sie. In der nächsten Einstellung kommentiert Julien diesen Wendepunkt mit der Bemerkung,<br />

dass es Zeit sei, erwachsen zu werden. Dies passiere nicht, wie man als Kind glaubt, ganz<br />

langsam, sondern es erwische einen wie ein Zweig, der zurückschnellt. Zudem redet ihm sein<br />

Vater ins Gewissen. Es sei genug gespielt, <strong>und</strong> er solle sich auf sein Studium konzentrieren.<br />

Die Situation zwischen den beiden eskaliert. Juliens Vater wirft diesem vor, dass seine<br />

<strong>Spiel</strong>chen seine Frau, also Juliens Mutter, umgebracht hätten. Hier kommen bislang<br />

unausgesprochene Schuldvorwürfe zum Ausdruck.<br />

2.4 <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> <strong>im</strong> Erwachsenenalter<br />

Nach der Auseinandersetzung mit seinem Vater läuft Julien zu Sophie nach Hause, obwohl er<br />

ihr versprach, dort nie vorbeizukommen. Sophie reagiert auf dieses gebrochene Versprechen<br />

überaus sauer, n<strong>im</strong>mt seinen Plan, mit ihr da<strong>von</strong> laufen zu wollen, nicht ernst <strong>und</strong> schickt ihn<br />

weg. Wie unter Punkt 2.1 bereits erwähnt, stellt das Aufsuchen <strong>von</strong> Sophies Zuhause einen<br />

Regelbruch dar. Dadurch gerät das <strong>Spiel</strong> in eine andere Bahn. Julien <strong>und</strong> Sophie spielen nicht<br />

mehr gemeinsam gegen ihre Umwelt, sondern gegeneinander. Auf seine Aufforderung, ihm<br />

zu verzeihen, reagiert Sophie nicht.


10<br />

Nach einem Zeitsprung <strong>von</strong> schätzungsweise einigen Monaten versucht Sophie, die gestellte<br />

Wette einzulösen <strong>und</strong> Julien zu verzeihen. Sie will ihn zu Hause aufzusuchen, wird dort<br />

jedoch <strong>von</strong> dessen Vater fortgeschickt. Bei ihrem zweiten Versuch trifft sie ihn in der<br />

Bibliothek, wo sie zuerst einem fremden Jungen gegenüber ihre Entschuldigung übt <strong>und</strong><br />

schließlich zu Julien geht. Doch dieser geht nicht auf Sophie ein, er müsse lernen <strong>und</strong> könne<br />

frühestens in einem Jahr mit ihr reden. In ihrem Gespräch zeigt sich, dass Sophie starke<br />

Minderwertigkeitskomplexe wegen ihrer Herkunft hat. „La HLM [habitation à loyer modéré:<br />

französische Bezeichnung für Sozialwohnung, a.d.V.] c’est mon truc“, (Minute 41:50)<br />

kommentiert Sophie ein Buch über Städtebau, aus dem Julien gerade lernt. Dieser merkt an,<br />

dass sie sich nie über ihre Zukunft unterhalten hätten, <strong>und</strong> kritisiert das Leben <strong>im</strong> <strong>und</strong> für den<br />

Augenblick, das ein Kennzeichen ihrer Beziehung zueinander sei. Nur einmal sei die Zukunft<br />

Thema gewesen, <strong>und</strong> dies treffe die Wahrheit: „Tu est en train de devenir un tyran et moi –<br />

un flan“ (Minute 42:35). Mit diesen Worten verlässt sie ihn. Doch Julien springt auf <strong>und</strong> stellt<br />

sie zur Rede. Allerdings vergrößert sich der Spalt zwischen ihnen noch weiter. Sophie<br />

behauptet, die Männer zu studieren <strong>und</strong> versucht, ihre Stärke <strong>und</strong> Härte zu demonstrieren.<br />

Daraufhin will Julien ihr eine Wette stellen <strong>und</strong> sich für ihr „Studium“ anbieten. Doch auf<br />

ihren forschen Versuch, ihm die Hose zu öffnen, reagiert er ungehalten. Sophie spielt weiter<br />

die Rolle der kaltblütigen Verführerin. „Arrête? Pourquoi? C’est juste un pari.“ (Minute<br />

43:24). Ein letztes Mal versucht Julien, die Dinge zwischen ihm <strong>und</strong> Sophie zum Guten zu<br />

wenden. Er läuft ihr nach <strong>und</strong> erreicht sie vor der Bibliothek. Doch er schafft es nicht, seine<br />

wirklichen Gefühle für sie auszusprechen. Stattdessen drückt er ihr ein Kondom in die Hand<br />

mit der Anmerkung, sie solle bei ihren weiteren Studien vorsichtig sein. Sophie kommentiert<br />

diese Handlung mit den Worten, er werde es niemals schaffen, sie zu verletzen. Dies ist die<br />

Gr<strong>und</strong>lage für die nächste Wette, die bei ihrem nächsten Zusammentreffen erfüllt werden<br />

wird. Als er schließlich dem Bus nachläuft, in den Sophie steigt, <strong>und</strong> ihm „Je t’a<strong>im</strong>e“<br />

hinterher ruft, ist dies ein weiteres Zeichen für die Unmöglichkeit einer glücklichen<br />

Beziehung. Sobald sich Julien <strong>und</strong> Sophie gegenüberstehen, passiert alles <strong>im</strong> Rahmen des<br />

<strong>Spiel</strong>s <strong>und</strong> echte Gefühle können nicht artikuliert werden. Nur in der Abwesenheit des<br />

anderen kann dies geschehen.<br />

Die ganze Szene demonstriert die Unfähigkeit einer aufrichtigen Kommunikation. Sie<br />

verletzen sich absichtlich gegenseitig, um ihre eigene Schwäche zu verbergen. Beiden<br />

verbietet es ihr Stolz, den nötigen Schritt auf den anderen zuzugehen.


11<br />

Die Erfüllung der nächsten Wette, Sophie zu verletzen, wird <strong>von</strong> Julien <strong>von</strong> langer Hand<br />

geplant. Mit der Einstiegsfrage „Tu a un robe de soirée?“ (Minute 46:40) steht er nicht wie<br />

ausgemacht ein Jahr, sondern vier Jahre später in dem Cafe, in dem Sophie mittlerweile<br />

arbeitet, vor ihr, mit der Absicht sie zum Essen einzuladen. Zuerst blockt ihn Sophie mit einer<br />

betont rationalen Haltung ab, doch Julien schafft es nach einiger Zeit, sie dazu zu bringen,<br />

ihre Meinung zu ändern. <strong>Das</strong> folgende Abendessen findet in einem gehobenen Restaurant<br />

statt. Die dabei entstehende Konversation ist darauf ausgelegt, Sophie glaubhaft zu machen,<br />

dass er sie heiraten möchte. Doch seine eigentliche Absicht ist eine andere. Julien will ihr<br />

seine zukünftige Frau Christelle vorstellen, Sophie als Trauzeugin gewinnen <strong>und</strong> das wahr<br />

machen, was sie nicht für möglich hielt: dass er sie jemals verletzen könne. Doch genau das<br />

gelingt ihm mit dieser Handlung. Es scheint so, als ob dies eine Art Rache an Sophie darstellt.<br />

Eine Rache dafür, dass sie keine Beziehung mit ihm eingehen wollte, da er seine Gefühle ihr<br />

gegenüber nie artikulieren konnte, obwohl sie doch vorhanden waren.<br />

Die Dose wird daraufhin <strong>von</strong> Sophie <strong>und</strong> Julien gemeinsam in einen Fluss geworfen, eine<br />

symbolische Handlung, die das Ende des <strong>Spiel</strong> kennzeichnen könnte. Doch dies ist nicht der<br />

Fall.<br />

Während Juliens <strong>und</strong> Christelles Hochzeit erscheint Sophie mit der <strong>Spiel</strong>dose <strong>und</strong> fordert ihn<br />

dazu auf, zu seiner Wette zu stehen, die noch aus Kindertagen offen stehe: Er müsse „Nein“<br />

vor dem Altar sagen. Doch für Julien ist das <strong>Spiel</strong> vorbei, er heiratet Christelle. <strong>Das</strong><br />

Eingreifen Sophies löst jedoch ein anderes Ereignis aus. Juliens Vater ist über ihr Auftreten so<br />

erbost, dass er sich, enttäuscht darüber, dass dieses Mädchen so viel Einfluss auf seinen Sohn<br />

hatte <strong>und</strong> ihm zufolge <strong>im</strong>mer noch hat, <strong>von</strong> diesem mit den Worten„Tu est banni de ma vie!“<br />

(Minute 56:15) lossagt.<br />

Die darauf folgende Szene zeigt den Wahnsinn des <strong>Spiel</strong>s in sehr drastischer Form. Während<br />

Julien neben den Gleisen einer Bahnstrecke sitzt, steht Sophie mit verb<strong>und</strong>en Augen zwischen<br />

diesen <strong>und</strong> versucht, ihren Auftritt während der Hochzeit zu relativieren. „C’était seulement<br />

une blague!“ (Minute 56:49). Doch Julien reagiert nicht. Es scheint, als ob er nur auf den Zug<br />

warten würde, der auf Sophie zurast. In letzter Sek<strong>und</strong>e reißt sie sich jedoch ihre Augenbinde<br />

herunter <strong>und</strong> springt zur Seite. Sein darauffolgendes „va en enfer“ beantwortet sie mit<br />

„D’accord. Mais tu es mon compagne.“ (Minute 57:57). Hier wird bereits auf den<br />

gemeinsame Tod der beiden vorausgedeutet. Die Szene wird <strong>von</strong> einer weiteren Wette<br />

Sophies abgeschlossen: zehn Jahre ohne ein Wiedersehen.


12<br />

Für Julien ist dies eine furchtbare Vorstellung. Er kann sich nicht denken, ein Leben ohne das<br />

<strong>Spiel</strong>, ohne die „Würze seines Lebens“, wie er es bezeichnet, zu führen. Wie er die darauf<br />

folgenden Jahre empfindet <strong>und</strong> wie er sich mit dem „faden Glück seines <strong>Das</strong>eins“ arrangiert,<br />

wird genauer unter Punkt 4.1 behandelt.<br />

Nach auf den Tag genau zehn Jahren erhält Julien ein Paket <strong>von</strong> Sophie mit der <strong>Spiel</strong>dose,<br />

ihrer Adresse <strong>und</strong> der Frage „Cap, pas cap?“ (Minute 70:15). Er macht sich sofort auf den<br />

Weg zu ihr <strong>und</strong> findet sie dort inmitten ihres verwüsteten Hauses vor. Als er eintritt, greift sie<br />

zum Telefon <strong>und</strong> meldet der Polizei, der Irre sei wieder bei ihr. Es dauere genau eine Minute,<br />

bis die Polizisten eintreffen, teilt sie dem zuerst überraschten, <strong>und</strong> dann in ein Lachen<br />

zwischen Wahnsinn <strong>und</strong> Freude ausbrechenden Julien mit. Während die Sek<strong>und</strong>en ticken,<br />

fügt er sich in die ihm zugeteilte Rolle des wahnsinnigen Irren ein <strong>und</strong> wirft ein wertvolles<br />

Erbstück Sophies zu Boden. Als er die Polizei vor dem Haus eintreffen hört, wendet er sich<br />

<strong>von</strong> Sophie ab, rennt zu seinem Auto <strong>und</strong> beginnt eine Hetzjagd mit den Streifenwägen. Sein<br />

währenddessen gehaltener Monolog illustriert sehr anschaulich seine Empfindungen<br />

bezüglich des <strong>Spiel</strong>s:<br />

„Sacrée Sophie, le jeu avait repris sur les chapeaux de roue. Du bonheur à l'état pur, brut, natif,<br />

volcanique, quel pied ! C'était mieux que tout, mieux que la drogue, mieux que l'héros, mieux que la<br />

dope, coke, crack, fix, joint, shit, shoot, snif, pét', ganja, marie-jeanne, cannabis, beuh, peyotl, buvard,<br />

acide, LSD, extasy. Mieux que le sexe, mieux que la fellation, soixante-neuf, partouze, masturbation,<br />

tantrisme, kama-sutra, brouette thaïlandaise. Mieux que le Nutella au beurre de cacahuète et le milkshake<br />

banane. Mieux que toutes les trilogies de George Lucas, l'intégrale des Muppet Show, la fin de<br />

2001. Mieux que le déhanché d'Emma Peel, Marilyn, la Schtroumpfette, Lara Croft, Naomi Campbell<br />

et le grain de beauté de Cindy Crawford. Mieux que la face B d'Abbey Road, les solos d'Hendrix le<br />

petit pas de Neil Armstrong sur la lune. Le Space Mountain, la ronde du Père Noël, la fortune de Bill<br />

Gates, les transes du Dalaï lama, les NDE, la résurrection de Lazare, toutes les piquouzes de<br />

testostérone de Schwarzy, le collagène dans les lèvres de Pamela Anderson. Mieux que Woodstock et<br />

les rave parties les plus orgasmiques. Mieux que la défonce de Sade, R<strong>im</strong>baud, Morrison et<br />

Castaneda. Mieux que la liberté. Mieux que la vie.“ (Minute 72:30-73:27)<br />

Diese Szene ist ein typisches Beispiel für ein Flow-Erlebnis, das eine Verschmelzung <strong>von</strong><br />

Handlung <strong>und</strong> Bewusstsein beschreibt, die zu einem gesteigerten Existenzbewusstsein führt. 11<br />

Die Verfolgungsjagd Juliens endet abrupt mit einem Unfall, bei dem sein Auto explodiert.<br />

Doch wie <strong>im</strong> Folgenden zu erkennen ist, trägt er nur leichte Schrammen da<strong>von</strong>. Zunächst wird<br />

der Zuschauer jedoch <strong>im</strong> Glauben gelassen, Julien sei bei diesem Unfall schwer zu Schaden<br />

gekommen <strong>und</strong> damit die Perspektive Sophies eingenommen. Diese erfährt telefonisch <strong>von</strong><br />

dem Unfall, wird ins Krankenhaus gerufen <strong>und</strong> bekommt dort <strong>von</strong> Julien einen bösen Scherz<br />

gespielt. Er gibt einen Patienten mit schweren Verbrennungen als sich selbst aus, indem er die<br />

11 Jürgen Fritz: <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> verstehen. Eine Einführung in Theorie <strong>und</strong> Bedeutung. Weinhe<strong>im</strong>, München 2004, S.<br />

99.


13<br />

<strong>Spiel</strong>dose neben dessen Bett stellt. Julien rechtfertigt diese Tat mit dem Kommentar, dass es<br />

nur Teil eines <strong>Spiel</strong>s sei. Doch mittlerweile klingt diese Erklärung nicht mehr überzeugend.<br />

Beide, Julien <strong>und</strong> Sophie, haben längst keine Kontrolle mehr über das <strong>Spiel</strong> <strong>und</strong> würden dafür<br />

alles riskieren. Sophie fällt zuerst auf diesen bösen Witz herein <strong>und</strong> fährt schockiert mit ihrem<br />

Mann, der sie begleitet hat, zurück nach Hause. Doch während sie <strong>im</strong> Auto weiter darüber<br />

nachdenkt, erkennt sie die Wahrheit. Auch Julien sieht ein, welchen Schock er damit Sophie<br />

angetan hat <strong>und</strong> bereut seine Handlung. In einer Art telekinetischer Kommunikation erkennen<br />

beide die Notwendigkeit, zueinander zurückzukehren <strong>und</strong> treffen vor dem Krankenhaus, <strong>im</strong><br />

klischeehaft strömenden Regen, aufeinander. Und Julien findet endlich die richtigen Worte,<br />

indem er Sophie das Lied „La vie en rose“ vorsingt, das als Motiv während des ganzen <strong>Film</strong>s<br />

auftaucht. Durch die Musik spricht er zu ihr <strong>und</strong> kann artikulieren, was ihm bislang nicht<br />

möglich war:<br />

„Quand elle me prend dans ses bras,<br />

Elle me parle tout bas,<br />

Je vois la vie en rose.<br />

Elle me dit des mots d'amour,<br />

Des mots de tous les jours,<br />

Et ça me fait quelque chose.“ (Minute 78:20)<br />

Doch die entstehende Spannung zwischen den beiden wird durch einen Faustschlag <strong>von</strong><br />

Sophies Mann zerstört. Julien fällt bewusstlos zu Boden, <strong>und</strong> Sophie kniet neben ihm nieder.<br />

Ihr Versuch ihn aufzuwecken scheitert zunächst <strong>und</strong> erst als sie ihm eine Wette stellt, kommt<br />

Julien wieder zu Bewusstsein. „Reviens! Cap ou pas cap?“ (Minute 80:22). Sophie hält<br />

Julien in ihren Armen, <strong>und</strong> zunächst scheint es, als ob die beiden endlich zueinander gef<strong>und</strong>en<br />

hätten.<br />

2.5 Der Tod<br />

Doch auf die gerade erlangte Vereinigung folgt das Ende des <strong>Spiel</strong>s. Sophie <strong>und</strong> Julien stehen<br />

auf dem Gr<strong>und</strong> einer Baugrube, eng umschlungen, <strong>und</strong> warten darauf, dass diese mit Beton<br />

aufgefüllt wird. Diese Szene rahmt den <strong>Film</strong>. Zu Beginn erzählte Julien, dass es ein <strong>Spiel</strong> gibt,<br />

das man niemals spielen solle: Sich in einen Betonblock gießen lassen. Doch genau damit<br />

endet das <strong>Spiel</strong> zwischen Sophie <strong>und</strong> Julien.<br />

„Et voilà. C’est comme ça comme on a gagné le jeux. Ensemble. Heureux. Et là en fond du béton on a<br />

enfin partagé notre rève d’enfance – un rève d’un amour sans fin.“ (Minute 82:45).<br />

In ihren letzten Minuten teilt Julien Sophie mit, welche Wetten er außerdem erfüllt hätte, die<br />

ihm Sophie jedoch nie gestellt hat. Die Letzte lautet: „T’a<strong>im</strong>er comme un fou.“ (Minute


14<br />

81:40) Hier wird explizit erwähnt, was unter Punkt 3.2 dargestellt wird: <strong>Das</strong>s es sich bei dem<br />

<strong>Spiel</strong> Sophies <strong>und</strong> Juliens um eine Form der Amour fou, der wahnsinnigen <strong>Liebe</strong>, handelt.<br />

In dem Moment, in dem sich die Beziehung <strong>von</strong> Julien <strong>und</strong> Sophie zu einer <strong>Liebe</strong>sbeziehung<br />

entwickelt, endet das <strong>Spiel</strong>. Und in dem Moment, in dem das <strong>Spiel</strong> endet, endet die Sehnsucht<br />

nach dem anderen, der Höhepunkt ist erreicht <strong>und</strong> nur der Tod kann diesen Höhepunkt ins<br />

Unendliche verlängern.<br />

<strong>Das</strong> alternative Ende, dass auf diese Szene folgt, wird unter Punkt 6 thematisiert.<br />

Die Verbindung <strong>von</strong> <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> Tod ist ein häufiges Motiv der europäischen Literatur. Tristan<br />

<strong>und</strong> Isolde, die als die „idealen <strong>Liebe</strong>nden des Abendlandes“ 12 bezeichnet werden <strong>und</strong> den<br />

gemeinsamen Tod wählen, sind das bekannteste Beispiel dafür. Nur dieser ermöglicht ihnen<br />

die Ewigkeit der <strong>Liebe</strong>, die sie <strong>im</strong> Leben nicht finden konnten. Andere bekannte Beispiele für<br />

die Verknüpfung <strong>von</strong> <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> Tod sind außerdem Shakespeares „Romeo <strong>und</strong> Julia“ oder<br />

Goethes „Die Leiden des jungen Werther“.<br />

Auch wenn man das <strong>Spiel</strong> in der Form des <strong>Liebe</strong>sspiels betrachtet, n<strong>im</strong>mt der Tod eine<br />

wichtige Rolle ein. Ein <strong>Liebe</strong>sspiel kann nur fortdauern, so lange es ein Vorspiel ist. Denn nur<br />

<strong>im</strong> Begehren <strong>und</strong> den Verführungsversuchen ist die <strong>Liebe</strong> ein <strong>Spiel</strong>, da sie nur dort den<br />

Freiraum <strong>und</strong> die Freiheit besitzt, die kennzeichnend für das <strong>Spiel</strong> sind. <strong>Das</strong> Vorspiel kann<br />

jedoch normalerweise nicht ewig verlängert werden. Aber durch das Mittel des Todes ist dies<br />

möglich. Der Tod macht das Begehren unsterblich <strong>und</strong> symbolisiert die Vereinigung des<br />

<strong>Liebe</strong>spaares. Positiv formuliert verhalten sich <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> Tod folgendermaßen zueinander:<br />

„Die <strong>Liebe</strong> in ihrer höchsten Form ist todesbereit. Sie will nicht besitzen, sondern sich<br />

schenken, alles dem Geliebten hingeben.“ 13 Die <strong>Liebe</strong>, die zum Tod bereit ist, kann jedoch<br />

auch eine Amour fou sein, die zur Selbstzerstörung der Partner führen kann:<br />

„Der <strong>Liebe</strong>stod ist der Tod der Amour fou! <strong>Das</strong> ist der Wahnsinn, der nur noch am menschlichen<br />

Leben <strong>und</strong> seiner Zerstörung gemessen werden kann. Daher ist diese Individualisierung <strong>im</strong> Zuge der<br />

Amour fou äußerst gefährlich, weil die individuelle Selbstbefreiung, die Selbstfreisetzung <strong>von</strong><br />

gesellschaftlicher Domestikation <strong>im</strong>mer zugleich in die individuelle Selbstzerstörung umschlagen<br />

kann.“ 14<br />

12 Gabriele Sorgo: Ein seltsames <strong>Spiel</strong>. <strong>Liebe</strong> zwischen Rausch <strong>und</strong> Rationalisierung. In: Bilstein, Winzen et al.<br />

(Hg.): Anthropologie <strong>und</strong> Pädagogik des <strong>Spiel</strong>s. Weinhe<strong>im</strong> 2005, S. 132.<br />

13 Gustav Bally: Vom <strong>Spiel</strong>raum der Freiheit. Basel, Stuttgart 1966, S. 109.<br />

14 Oliver Jahrhaus: Amour fou. Die Erzählung der Amour fou in Literatur, Oper <strong>und</strong> <strong>Film</strong>. Tübingen <strong>und</strong> Basel<br />

2004, S. 13.


3. <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> <strong>Spiel</strong><br />

15<br />

In welcher Weise hängen <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> <strong>Spiel</strong> nun genau zusammen? Unter welchen Umständen<br />

ist die <strong>Liebe</strong> ein <strong>Spiel</strong>? Und welche Art der <strong>Liebe</strong> existiert zwischen Julien <strong>und</strong> Sophie? Dies<br />

soll <strong>im</strong> Folgenden geklärt werden.<br />

3.1 <strong>Liebe</strong> als <strong>Spiel</strong>?<br />

Die <strong>Liebe</strong> ist, je nach Definition, das Gefühl der stärksten Zuneigung, die ein Mensch für<br />

einen anderen Menschen empfinden kann. Aber <strong>Liebe</strong> muss vermittelt werden. Ohne<br />

gegenseitige Zuwendung kann keine <strong>Liebe</strong> bestehen. Jede noch so starke <strong>Liebe</strong> n<strong>im</strong>mt durch<br />

das Fehlen <strong>von</strong> Kommunikation mit dem Geliebten ab, bis sie schließlich versiegt. Wäre dies<br />

nicht so, würde jede Trennung <strong>von</strong> einem geliebten Menschen weitere <strong>Liebe</strong>sbeziehungen<br />

verunmöglichen. <strong>Liebe</strong> muss gelebt werden <strong>und</strong> sie benötigt einen int<strong>im</strong>en Rahmen, in dem<br />

sie stattfinden kann. Außerdem führt die <strong>Liebe</strong> dazu, dass sich die <strong>Liebe</strong>nden in ihrer tiefsten<br />

Individualität wahrnehmen, sie erfahren sich als Subjekte <strong>und</strong> gleichzeitig als Teil eines<br />

Ganzen. 15<br />

Diese letzten beiden Punkte sind es, die am deutlichsten die Parallelen zwischen <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Spiel</strong> zeigen. Auch das <strong>Spiel</strong> baut eine eigene Welt auf, einen int<strong>im</strong>en Rahmen, in den nur die<br />

Mitspieler eintreten dürfen. Und auch hier nehmen sich die Teilnehmer in ihrer Individualität<br />

wahr. Jedes eigene Handeln erzeugt eine Reaktion be<strong>im</strong> Gegenüber <strong>und</strong> das Handeln des<br />

anderen wird zur Vorlage für eigenes Tun. Und gleichzeitig erfolgt eine Ausweitung des<br />

Selbst durch den Bezug auf den anderen, <strong>im</strong> <strong>Spiel</strong> genauso wie in der <strong>Liebe</strong>. 16<br />

Trotz dieser Parallelen ordnet Huizinga in seinem Standardwerk zum <strong>Spiel</strong> „Homo ludens“<br />

die <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> das Erotische nicht dem <strong>Spiel</strong> zu:<br />

„Wenn man alles genau betrachtet, scheint man gerade mit Rücksicht auf die erotische Bedeutung des<br />

Worts <strong>Spiel</strong>en, so allgemein verbreitet sie ist <strong>und</strong> so nahe sie bei der Hand liegt, <strong>von</strong> einer typischen<br />

<strong>und</strong> bewussten Metapher sprechen zu müssen.“ 17<br />

Huizinga bezieht das <strong>Liebe</strong>sspiel vor allem auf den Paarungsakt. Dieser hat für ihn keine<br />

spielerischen Elemente. Einige <strong>Spiel</strong>momente gesteht er jedoch dem Vorspiel dieses<br />

biologischen Paarungsakts zu. Je nachdem, was man unter <strong>Liebe</strong>sspiel verstehen möchte,<br />

15<br />

Oliver Jahrhaus: Amour fou. Die Erzählung der Amour fou in Literatur, Oper <strong>und</strong> <strong>Film</strong>. Tübingen <strong>und</strong> Basel<br />

2004, S. 27.<br />

16<br />

Johannes Biltstein et al.: Anthropologie <strong>und</strong> Pädagogik des <strong>Spiel</strong>s. Weinhe<strong>im</strong> <strong>und</strong> Basel 2005, S. 7.<br />

17<br />

Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur <strong>im</strong> <strong>Spiel</strong>. Reinbek bei Hamburg 1956, S. 49.


16<br />

macht der eigentliche Akt jedoch nur einen kleinen Teil des Ganzen aus. <strong>Das</strong> Reizen, das<br />

Verführen <strong>und</strong> das Austesten <strong>von</strong> Grenzen können sehr wohl unter die Kategorie <strong>Spiel</strong> fallen.<br />

Allerdings betont Huizinga, dass das Wort „<strong>Spiel</strong>en“ für erotische Beziehungen verwendet<br />

werden kann, die aus dem Rahmen der sozialen Norm fallen. Der Beziehung <strong>von</strong> Julien <strong>und</strong><br />

Sophie würde er mit Sicherheit das Potential einer Beziehung außerhalb der sozialen Norm<br />

zusprechen.<br />

Kommen wir nun zu der Verknüpfung <strong>von</strong> <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> <strong>Spiel</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong> Jeux d’enfants. Er zeigt<br />

offensichtlich keine gelebte <strong>Liebe</strong>sbeziehung zwischen Julien <strong>und</strong> Sophie. Dieser Platz wird<br />

stattdessen vom <strong>Spiel</strong> eingenommen. Es stellt die Verbindung zwischen den beiden<br />

Protagonisten her, die in einer Beziehung innerhalb des Rahmens der sozialen Norm <strong>von</strong> der<br />

<strong>Liebe</strong> eingenommen werden würde. Solch eine <strong>Liebe</strong>sbeziehung außerhalb der sozialen Norm<br />

kann als Amour fou bezeichnet werden. <strong>Das</strong>s diese hier vorliegt <strong>und</strong> das <strong>Spiel</strong> zwischen<br />

Julien <strong>und</strong> Sophie eine Form der Amour fou darstellt, soll <strong>im</strong> Folgenden gezeigt werden.<br />

3.2. <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> als Amour fou<br />

Eine Amour fou ist eine wahnsinnige <strong>Liebe</strong>, eine <strong>Liebe</strong>, die nicht mehr <strong>im</strong> sozialen Rahmen<br />

stattfindet. Sie ist eine verhängnisvolle <strong>und</strong> eine leidenschaftliche <strong>Liebe</strong>.<br />

Wenn sich zwei <strong>Liebe</strong>nde in einer Amour fou verstrickt haben, übt die Gesellschaft keine<br />

Macht mehr über die Individuen aus. Es lässt sich sagen: „Mit der Amour fou verliert die<br />

Gesellschaft ihre Kraft zur Sozialisation <strong>und</strong> Domestikation.“ 18<br />

Genau dies findet sich <strong>im</strong> <strong>Spiel</strong> Juliens <strong>und</strong> Sophies wieder. Egal, wie sehr <strong>und</strong> wie oft diese<br />

bestraft werden, sie lassen nicht <strong>von</strong> ihrem <strong>Spiel</strong> ab. Die Gesellschaft, in Form der Eltern, der<br />

Schwester, des Direktors oder der Lehrerin, hat keinen Einfluss auf das <strong>Spiel</strong> der beiden<br />

Kinder. <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> gibt die Regeln vor, nicht die Gesellschaft.<br />

Eine <strong>Liebe</strong>sbeziehung kann <strong>von</strong> Sophie <strong>und</strong> Julien jedoch nicht gelebt werden, aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

Unfähigkeit, sich gegenseitig ihre wahren Gefühle zu gestehen. <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> eröffnet ihnen die<br />

Möglichkeit, trotzdem in intensiver Weise zu kommunizieren <strong>und</strong> sich <strong>und</strong> den anderen in<br />

seiner Individualität wahrzunehmen. <strong>Liebe</strong> ist, wie bereits erwähnt, eine<br />

Kommunikationsform <strong>und</strong> für Julien <strong>und</strong> Sophie ist das <strong>Spiel</strong> der Rahmen, in dem diese<br />

Kommunikation stattfinden kann.<br />

18 ebd., S. 12.


17<br />

Um zu zeigen, dass es sich be<strong>im</strong> <strong>Spiel</strong> um eine Form der Amour fou handelt, wird versucht,<br />

die Kriterien einer Amour fou auf das <strong>Spiel</strong> zwischen Sophie <strong>und</strong> Julien zu übertragen.<br />

Die Kennzeichen der Amour fou sind ihre Nähe zum Wahnsinn <strong>und</strong> zum A-sozialen. Im<br />

Gegensatz zu der Ruhe eines liebenden Paares ist die Amour fou <strong>von</strong> einer unstillbaren<br />

Dynamik gekennzeichnet. Außerdem lässt sich folgendes Gr<strong>und</strong>prinzip erkennen:<br />

„Die Partner sind entweder nicht gleichrangig in der Kategorie, die dabei jeweils herausgehoben<br />

wird, oder aber sie sind gleichrangig <strong>und</strong> <strong>von</strong> daher eigentlich ideale Partner, aber dennoch ohne die<br />

Möglichkeit, dieses Ideal auch zu verwirklichen <strong>und</strong> zu leben. Den <strong>Liebe</strong>nden in der Amour fou ist es<br />

nicht vergönnt, zu einem liebenden Paar zu werden.“ 19<br />

Diese vier Kriterien lassen sich jeweils auch <strong>im</strong> <strong>Spiel</strong> Sophies <strong>und</strong> Juliens wiederfinden. Je<br />

eine Wette soll dafür als Beleg dienen. Der Wahnsinn lässt sich beispielsweise in der Szene<br />

nach Juliens Hochzeit erkennen. Sophie steht mit verb<strong>und</strong>en Augen auf Bahnschienen <strong>und</strong><br />

versucht, ihre Störung der Hochzeit zu erklären, während Julien einige Meter <strong>von</strong> ihr entfernt<br />

sitzt. Es wird nicht wirklich deutlich, ob diese Situation Teil einer Wette ist, doch die<br />

<strong>Spiel</strong>dose, die vor Sophie auf dem Boden steht, ist ein Indiz dafür. Mit der Zeit wird Sophie<br />

misstrauisch. Sie weiß nicht, wo sie ist <strong>und</strong> warum sie dort stehen bleiben soll, wie Julien es<br />

ihr befohlen hat. Daraufhin zoomt die Kamera in den Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> der Zuschauer sieht,<br />

dass ein Zug auf Sophie zurast. Doch Julien schweigt weiterhin. Wenige Augenblicke, bevor<br />

der Zug Sophie überrollen würde, reißt sie sich die Augenbinde vom Kopf <strong>und</strong> rettet sich<br />

durch einen Sprung zur Seite. Julien setzt in dieser Szene also bewusst Sophies Leben aufs<br />

<strong>Spiel</strong> <strong>und</strong> handelt wahnsinnig.<br />

<strong>Das</strong>s die Amour fou a-sozial ist, bedeutet, dass sie sich jeder Gesellschaft <strong>und</strong> jeder<br />

Vergesellschaftung entzieht. 20 Sie funktioniert nicht nach den Regeln der Gesellschaft. Und<br />

genau hier wird die Parallele zum <strong>Spiel</strong> offensichtlich. Denn auch das <strong>Spiel</strong> funktioniert nicht<br />

nach den Regeln der Gesellschaft, sondern nach denen, die es <strong>von</strong> den <strong>Spiel</strong>ern<br />

vorgeschrieben bekommt. Und besonders <strong>im</strong> Fall <strong>von</strong> Sophie <strong>und</strong> Julien zeichnen diese sich<br />

durch Asozialität, durchaus auch <strong>im</strong> pejorativen Sinn dieses Wortes, aus. Exemplarisch<br />

hierfür ist die Szene <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer des Direktors. Julien <strong>und</strong> Sophie werden zu diesem gebracht,<br />

nachdem Sophie durchaus auch als „asozial“ zu bezeichnende Worte <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer<br />

aufgezählt hat. <strong>Das</strong> Urinieren auf den Boden ist eine unzivilisierte Handlung, die nicht als<br />

Kinderstreich zu deklarieren ist. Ein Mensch, der sich an die Regeln der Gesellschaft hielt,<br />

würde so etwas nicht tun. Diese Handlung kann dem Bereich des A-sozialen <strong>und</strong> Asozialen<br />

zugerechnet werden.<br />

19 Oliver Jahrhaus: Amour fou. Die Erzählung der Amour fou in Literatur, Oper <strong>und</strong> <strong>Film</strong>. Tübingen <strong>und</strong> Basel<br />

2004, S. 38.<br />

20 ebd. S. 13.


18<br />

Die Dynamik ist ebenfalls ein Kennzeichen des <strong>Spiel</strong>s. Ein <strong>Spiel</strong> kann eine Sogwirkung<br />

entwickeln, so dass die <strong>Spiel</strong>er zu „<strong>Spiel</strong>bällen“ des <strong>Spiel</strong>s werden <strong>und</strong> <strong>von</strong> dessen Dynamik<br />

mitgerissen werden. Vor allem be<strong>im</strong> <strong>Spiel</strong> in Form des „ilinx“ ist dies der Fall.<br />

Im <strong>Verhältnis</strong> <strong>von</strong> Sophie <strong>und</strong> Julien lässt sich ebenfalls das Gr<strong>und</strong>prinzip der Amour fou<br />

erkennen. Sie sind gleichrangige <strong>und</strong> ideale Partner, „aber dennoch ohne die Möglichkeit,<br />

dieses Ideal auch zu verwirklichen <strong>und</strong> zu leben“. Sie gleichen sich in ihren<br />

Ausgangsbedingungen, wie unter Punkt 1.1 beschrieben. Die Disposition der beiden<br />

Protagonisten macht eine glückliche <strong>Liebe</strong>sbeziehung jedoch unmöglich, ist also den<br />

Charakteren <strong>im</strong>manent. Weil sie so sind, wie sie sind, können sie keine <strong>Liebe</strong>sbeziehung<br />

führen. Dies ist eine besonders tragische Form der Amour fou, da die Hindernisse nicht <strong>von</strong><br />

der Gesellschaft gemacht sind, sondern aus den Individuen selbst entspringen.<br />

Die Amour fou ist besonders eng mit dem Tod verb<strong>und</strong>en, denn wie bereits erwähnt ist „der<br />

<strong>Liebe</strong>stod [...] der Tod der Amour fou!“ 21 Dies ist möglicherweise das deutlichste Zeichen<br />

dafür, dass das <strong>Spiel</strong> die Rolle einer Amour fou einn<strong>im</strong>mt. Die letzte Wette, das Eingießen<br />

lassen in Beton, führt Julien <strong>und</strong> Sophie endlich zusammen <strong>und</strong> hier sind Amour fou <strong>und</strong><br />

<strong>Spiel</strong> eins.<br />

Sophie <strong>und</strong> Julien sind also ein Paar, das alle Kriterien einer Amour fou erfüllt. Sie leben<br />

diese Amour fou jedoch nicht in einer erotischen Weise aus, sondern in Form ihres <strong>Spiel</strong>s, auf<br />

welches alle Merkmale der Amour fou übertragen werden können.<br />

4. <strong>Alltag</strong> <strong>und</strong> <strong>Spiel</strong><br />

In diesem Kapitel möchte ich zuerst zeigen, in welchem <strong>Verhältnis</strong> <strong>Spiel</strong> <strong>und</strong> <strong>Alltag</strong> stehen.<br />

Der soziale <strong>Alltag</strong> Juliens <strong>und</strong> Sophie soll dargestellt, die Sonderrealität des <strong>Spiel</strong>s damit<br />

verglichen <strong>und</strong> zuletzt die Frage gestellt werden, ob es möglich ist, <strong>Alltag</strong> als <strong>Spiel</strong> zu leben.<br />

4.1 Der Begriff des <strong>Alltag</strong>s<br />

Was bezeichnet der Begriff <strong>Alltag</strong>? Zunächst ist <strong>Alltag</strong> ein wertneutraler Begriff, <strong>und</strong><br />

bezeichnet die vornehmliche <strong>und</strong> ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen. 22 Er beinhaltet<br />

in einer etwas engeren Definition alle wiederholt ablaufenden Tätigkeiten, einerseits auf<br />

21<br />

Oliver Jahrhaus: Amour fou. Die Erzählung der Amour fou in Literatur, Oper <strong>und</strong> <strong>Film</strong>. Tübingen <strong>und</strong> Basel<br />

2004, S. 13.<br />

22<br />

Ralf Schnell (Hrsg.): Metzler-Lexikon Kultur der Gegenwart. Stuttgart, We<strong>im</strong>ar 2000, S. 16.


19<br />

einzelne Tage als auch auf längere Zeiträume, also wöchentliche, monatliche oder jährliche<br />

Wiederholungen, bezogen.<br />

Die Wiederholung <strong>und</strong> die Routine machen den <strong>Alltag</strong> vorhersagbar. Einerseits führt dies zu<br />

Entlastung, Sicherheit <strong>und</strong> stabilen Kommunikationsstrukturen, andererseits aber auch zu<br />

Langeweile <strong>und</strong> profanem, geistlosen Handeln. Genau dies ist der Punkt, der <strong>im</strong> <strong>Film</strong> Jeux<br />

d’enfants besonders betont wird. Die Wiederholungen <strong>und</strong> das Erleben des Immergleichen<br />

führen zu Unlust. Diese Unlust kann nur durch das <strong>Spiel</strong> beseitigt werden. Deshalb wird der<br />

<strong>Alltag</strong> ohne das <strong>Spiel</strong> <strong>von</strong> Julien als „fades Glück seines <strong>Das</strong>eins“ empf<strong>und</strong>en.<br />

Eine Möglichkeit, Unlust <strong>und</strong> Lust zu erklären, bietet die „Erholungstheorie“ 23 . Diese besagt,<br />

dass die Erschöpfung einseitig überbeanspruchter Kräfte zu Unlustgefühlen führt. Durch die<br />

Wiederholung alltäglicher Routinearbeiten kann dieser Fall eintreten. <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> kann diese<br />

Unlusterfahrung beseitigen, da in diesem andere Tätigkeiten verfolgt werden, so dass sich<br />

währenddessen die übermäßig beanspruchten Kräfte, die <strong>im</strong> <strong>Alltag</strong> gefordert sind, erholen<br />

können. Natürlich kann man argumentieren, dass nicht notwendigerweise das Wettspiel<br />

zwischen Sophie <strong>und</strong> Julien diese Funktion übernehmen muss, sondern dass auch <strong>im</strong> Sport<br />

oder durch andere Freizeitaktivitäten dieser Effekt erzielt werden kann. Doch Julien ist mit<br />

diesem <strong>Spiel</strong> aufgewachsen <strong>und</strong> kennt die lustvolle Wirkung des <strong>Spiel</strong>s aus seiner Erfahrung.<br />

Somit steht dieses <strong>Spiel</strong> für ihn an erster Stelle <strong>und</strong> alles andere würde als minderwertige<br />

Kopie empf<strong>und</strong>en werden.<br />

Der Begriff <strong>Alltag</strong> kann <strong>im</strong> <strong>Film</strong> erst ab dem Eintritt ins Erwachsenenalter angewendet<br />

werden. Der kindliche <strong>Alltag</strong> ist zwar genauso durch wiederholte Handlungen strukturiert.<br />

Aber er ist <strong>von</strong> vielen Situationen durchsetzt, die zum ersten Mal auftreten, <strong>und</strong> somit den<br />

Reiz des Neuen tragen. Langeweile kann sich nicht einstellen, so lange eine Person <strong>im</strong>mer<br />

wieder mit neuen Dingen konfrontiert wird. Durch das Älterwerden <strong>und</strong> die damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Erfahrungen kommt es <strong>im</strong>mer seltener zu neuartigen Erlebnissen.<br />

Thomas Anz schreibt: „Im <strong>Spiel</strong> der Kunst sucht der Erwachsene nach dem verlorenen Glück<br />

seiner Kindheit.“ 24 Für Sophie <strong>und</strong> Julien übern<strong>im</strong>mt das Wettspiel diese Funktion. Dieser<br />

Gedanke ist auch bei Freud, Nietzsche <strong>und</strong> Huizinga zu finden: Für diese stelle das <strong>Spiel</strong> eine<br />

Art Entschädigung <strong>und</strong> Ersatz für das mit der Zivilisierung des Subjekts einhergehende<br />

Unglück dar. Dieses Unglück wird <strong>im</strong> <strong>Film</strong> Jeux d’enfants als Gefühl der Langeweile,<br />

Routine <strong>und</strong> Unfreiheit dargestellt.<br />

23 Thomas Anz: Literatur <strong>und</strong> Lust. München 1998, S. 62.<br />

24 ebd.


4.2 Der <strong>Alltag</strong> Juliens<br />

20<br />

In den zehn Jahren, die Julien ohne Sophie <strong>und</strong> das <strong>Spiel</strong> verbringt, führt er eine Ehe, der zwei<br />

Kinder entstammen, arbeitet in leitender Position <strong>im</strong> Baubetrieb. Er präsentiert dem<br />

Zuschauer in einer Aufzählung sein Leben mit 35 Jahren. Er habe alles: Eine Frau, zwei<br />

Kinder, drei Kumpel, vier Darlehen, fünf Wochen Ferien, sechs Dienstjahre, sieben mal sein<br />

Gewicht in Hi-Fi, acht Mal Verkehr pro Quartal, neun Mal den Erdumfang in Haushaltsmüll.<br />

Diese quantitative Aufzählung zeigt die Mechanisierung <strong>und</strong> Strukturierung seines <strong>Alltag</strong>s.<br />

Ironisch bezeichnet er diesen <strong>Alltag</strong> als Glück <strong>und</strong> Erfüllung seines Kindheitstraums: Ein<br />

mächtiger Tyrann zu sein.<br />

Charakterisierend für das Erwachsensein sei dies für ihn: „Avoir un compteur qui fait de zéro<br />

a deux cent dix et ne jamais faire que de soixante.“ (Minute 62:30). Er empfindet seinen<br />

<strong>Alltag</strong> als Einschränkung. Juliens Leben ist ein Beispiel für das wie bereits oben erwähnte<br />

„mit der Zivilisierung des Subjekts einhergehende Unglück“.<br />

Julien beschreibt sein Leben an dem Tag, als das letzte Treffen mit Sophie genau zehn Jahre<br />

vorüber ist. Dies ist der Anlass für ihn, über sein unerfülltes Leben zu reflektieren. Als letzten<br />

Punkt in seinem Monolog erwähnt er außerdem die zehn Jahre ohne seinen Vater. Dessen<br />

Abwesenheit beeinflusst Juliens Leben <strong>und</strong> erinnert ihn <strong>im</strong>mer wieder an Sophie, die<br />

Schuldige dieser Trennung.<br />

4.2.1. Beziehung zum Vater<br />

Obwohl die Beziehung zu seinem Vater in Juliens <strong>Alltag</strong> nicht gelebt wird, beeinflusst sie<br />

diesen in großem Maß. Eigenen Worten zufolge habe er ungefähr 40 Mal versucht, mit<br />

diesem in Kontakt zu treten, scheiterte jedoch jedes Mal, indem er beispielsweise wie <strong>im</strong><br />

gezeigten Fall, das Telefon auflegt, ohne sich zu melden. Für Julien war sein Vater <strong>im</strong>mer<br />

eine Person, die sich zwischen ihn <strong>und</strong> andere Menschen stellte sowie <strong>von</strong> Beginn an<br />

versuchte, das <strong>Spiel</strong> zu unterbinden. Die enge Bindung Juliens an seine Mutter wurde <strong>im</strong>mer<br />

wieder <strong>von</strong> seinem Vater einzuschränken versucht. Als dieser ihn zum Beispiel nach einer<br />

Wette aus dem Z<strong>im</strong>mer des Direktors abholt, versucht er zu verhindern, dass Julien sofort zu<br />

seiner kranken Mutter läuft (Minute 11:20). Ebenso versucht er das Wettspiel einzuschränken.<br />

Immer wieder erhält er <strong>von</strong> ihm dafür Strafen (zum Beispiel Minute 6:45 oder 11:00). Und<br />

obwohl Sophie eine zeitlang bei Julien <strong>und</strong> seinem Vater wohnt, hat Julien das Gefühl, dieser<br />

habe Sophie nie wirklich gemocht (Minute 6:40). Später stellt er Julien sogar vor die Wahl:<br />

„Choisis. C’est elle ou moi.“ (Minute 36:24). Doch trotz dieser Konflikte versucht Julien,<br />

nach der Trennung zu diesem <strong>im</strong>mer wieder den Kontakt herzustellen. Sein Vater kann als


21<br />

eine Art Gegenspieler zu Sophie <strong>und</strong> Julien gesehen werden. Somit ist er auch Teil des <strong>Spiel</strong>s,<br />

der, ohne es zu beabsichtigen, die Bindung zwischen den beiden stärkt, indem sie ihn als<br />

gemeinsamen Gegner empfinden.<br />

4.2.2. Juliens Privatleben <strong>und</strong> Arbeit<br />

Zwei konstituierende Elemente des <strong>Alltag</strong>s sind das Privatleben in Form <strong>von</strong> Ehe <strong>und</strong> Familie<br />

sowie die Erwerbsarbeit. In diesen beiden Bereichen wird Julien als passiver Mensch<br />

dargestellt, der Aufgaben <strong>von</strong> seiner Frau entgegenn<strong>im</strong>mt (Minute 60:35), <strong>von</strong> seinen Kindern<br />

als <strong>Spiel</strong>zeug benutzt wird (Minute 68:15), sowie stark <strong>von</strong> seinem Chef abhängig ist, so dass<br />

Christelle sogar meint, er solle eher mit diesem als mit ihr verheiratet sein (Minute 69:10).<br />

Julien besitzt keine Autonomie <strong>im</strong> <strong>Alltag</strong>, ganz <strong>im</strong> Gegensatz zur Welt des <strong>Spiel</strong>s, in dem das<br />

Erleben der eigenen Autonomie einen zentralen Punkt darstellt. 25<br />

Kontrastierend zu seinem passiven Verhalten <strong>im</strong> <strong>Alltag</strong>, wurde er in seiner Jugend als<br />

unbeschwerter Verführer dargestellt, der das Leben nicht sehr schwer n<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> gerne<br />

Grenzen überschreitet. Es ist da<strong>von</strong> auszugehen, dass diese Wesenszüge <strong>im</strong>mer noch in ihm<br />

vorhanden sind, jedoch unterdrückt werden. In seinen Tagträumen <strong>von</strong> möglichen Wetten mit<br />

Sophie, zeigen sie sich in übersteigerter, gewalttätiger Form: Als der Tyrann, der er <strong>im</strong>mer<br />

sein wollte, erhängt er einen Mann, der zuvor gefesselt <strong>und</strong> geknebelt in seinem Kofferraum<br />

lag. Da es Julien nicht gelingt, seinen <strong>Alltag</strong> aktiv zu gestalten, sondern sich diesem<br />

ausgeliefert fühlt, stellt für ihn das abwesende <strong>Spiel</strong> einen Idealzustand <strong>von</strong> Freiheit <strong>und</strong><br />

Rausch dar.<br />

4.3 Der <strong>Alltag</strong> Sophies<br />

Den <strong>Alltag</strong> Sophies erfährt der Zuschauer nur aus der Perspektive Juliens. Da Sophies<br />

Ehemann mittlerweile ein gefeierter Fußballstar ist, der auf zahlreichen Werbeplakaten zu<br />

sehen ist, wird Julien <strong>im</strong>mer wieder an seine einstige <strong>Spiel</strong>partnerin erinnert. Er geht jedoch<br />

selbst da<strong>von</strong> aus, dass sie ihn vergessen habe (Minute 65:21). Julien stellt sich Sophies <strong>Alltag</strong><br />

als glückliches Leben an der Seite ihres Ehemanns vor. Dieser gebe ihr gewiss alles, was sie<br />

<strong>von</strong> einer Beziehung erwarte. Im Gegensatz zu seinem Leben n<strong>im</strong>mt das <strong>Spiel</strong> – in einer<br />

anderen Form – noch <strong>im</strong>mer einen Platz in ihrem Leben ein. Über ihren Mann hat sie Anteil<br />

an der Welt des Fußballspiels, das ihr die Erfahrung des Siegens <strong>und</strong> Verlierens an seiner<br />

Seite ermöglicht. Auch die Kommunikation zu ihrem Ehemann stellt sich Julien spielerisch<br />

25 Thomas Anz: Literatur <strong>und</strong> Lust. München 1998, S. 68.


22<br />

vor (Minute 67:55). Sie hat sich in seiner Phantasie Elemente des <strong>Spiel</strong>s in ihrem Leben<br />

erhalten können <strong>und</strong> ist deswegen nicht mehr auf ihn angewiesen.<br />

Umso mehr ist Julien deswegen <strong>von</strong> dem Paket, was er nach genau zehn Jahren <strong>von</strong> Sophie<br />

erhält, überrascht <strong>und</strong> schockiert. Aus den weiteren Handlungen Sophies kann geschlossen<br />

werden, dass ihr Leben nicht so glücklich verlaufen ist, wie sich Julien dies vorgestellt hat.<br />

Spätestens durch die gemeinsame Einbetonierung mit Julien wird klar, dass Sophie ähnliche<br />

Erfahrungen des <strong>Alltag</strong>s wie Julien gemacht haben muss. Auch für sie stellt das <strong>Spiel</strong> mit<br />

Julien einen Idealzustand dar, der sich nur <strong>im</strong> Tod verewigen lässt.<br />

4.4 Die Sonderrealität des <strong>Spiel</strong>s<br />

In der Phase der Kindheit kann das <strong>Spiel</strong> als natürliches, wenn auch übersteigertes Element<br />

<strong>und</strong> als Teil des Leben der beiden gesehen werden. <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> n<strong>im</strong>mt bei Kindern einen<br />

großen Platz ein <strong>und</strong> ist ein gewöhnlicher, wünschenswerter Vorgang. Bereits damals entstand<br />

das <strong>Spiel</strong> jedoch nicht nur aus der Lust an ihm heraus, sondern auch aufgr<strong>und</strong> der<br />

empf<strong>und</strong>enen Unlust in der eigentlichen Realität (siehe 4.1). Es fügte sich aber in den<br />

kindlichen <strong>Alltag</strong> ein <strong>und</strong> kann als „normale“, typische Form des <strong>Spiel</strong>s bezeichnet werden.<br />

Dies ändert sich jedoch, als die Protagonisten erwachsen werden. Nach dem zehnjährigen<br />

Zeitsprung vom Leben der Achtjährigen zum Leben der Achtzehnjährigen, kann es nicht mehr<br />

als gewöhnliche Form des <strong>Spiel</strong>s bezeichnet werden. Dadurch, dass die Form des <strong>Spiel</strong>s<br />

gleich bleibt, die Lebensrealität sich aber durch das Älterwerden ändert, passt es nicht zum<br />

erwachsenen <strong>Alltag</strong> der Beiden. Auch Julien erkennt dies, <strong>und</strong> kommentiert es mit den<br />

Worten:<br />

„La règle du jeu était demeurée, rien a changé. Elle se bien pouvait appeler taquinerie lorsque nous<br />

étions gamins, devait à présence s’appeler perversion. Vous savez ce que c’est la perversion? C’est<br />

qu’une affaire du goût. Comme le goût chinois. On a<strong>im</strong>e ou on a<strong>im</strong>e pas. L’empêche que quand on est<br />

chinois on n’a pas le choix.“ (Minute 27:00)<br />

Obwohl er also die Perversion ihres <strong>Spiel</strong>s erkennt, sieht er keine Alternative. Sophie <strong>und</strong><br />

Julien werden zu diesem Handeln gezwungen, da sie – wie ein Chinese bei der Auswahl des<br />

Essens – keine Wahlmöglichkeit haben. <strong>Das</strong>s Julien ihr Handeln als pervers, also als <strong>von</strong> der<br />

Norm abweichend, bezeichnet, macht den Status des <strong>Spiel</strong>s als Sonderrealität deutlich.<br />

Einerseits erkennen die Protagonisten den Wahnsinn ihres <strong>Spiel</strong>es an, der <strong>im</strong>mer stärker wird,<br />

je länger das <strong>Spiel</strong> andauert. Aber sie sind so sehr dem Sog des <strong>Spiel</strong>es verfallen, dass sie sich<br />

nicht aus ihm befreien können. In der Kindheit herrschte, wie bereits unter Punkt 2.1 erwähnt,


23<br />

das Element des „agon“ 26 vor. Im Verlauf des <strong>Spiel</strong>s wird jedoch das Element des „ilinx“<br />

zunehmend stärker. Diese Kategorie beschreibt <strong>Spiel</strong>e, die<br />

„auf dem Begehren nach Rausch beruhen <strong>und</strong> deren Reiz darin besteht, für einen Augenblick<br />

die Stabilität der Wahrnehmung zu stören <strong>und</strong> dem klaren Bewusstsein eine Art wollüstiger<br />

Panik einzuflößen.“ 27<br />

Je älter Sophie <strong>und</strong> Julien werden, desto stärker steht der Wunsch nach Rausch <strong>im</strong> Gegensatz<br />

zur Realität des <strong>Alltag</strong>s <strong>und</strong> wird mit der Lebensrealität unvereinbar. Im „ilinx“ schwingt die<br />

Nähe zum Tod bereits mit. Durch eine starke körperliche Erfahrung wird das Bewusstsein für<br />

den Körper <strong>und</strong> die eigene Sterblichkeit erhöht. Besonders deutlich wird dies in der Szene, in<br />

der Julien vor der Polizei flieht (Minute 72:30).<br />

Mit dem körperlichen Rausch geht außerdem ein Rausch moralischer Art einher. 28 Der Hang<br />

der Menschen zu Unordnung <strong>und</strong> Zerstörung, der <strong>im</strong> <strong>Alltag</strong> normalerweise unterdrückt wird<br />

<strong>und</strong> durch kulturelle Formen sozialisiert wurde, gelangt hier zum Vorschein. Die Amoralität<br />

ist dem <strong>Spiel</strong> <strong>von</strong> Sophie <strong>und</strong> Julien bereits ab der ersten Wette inne. Moralische Regeln sind<br />

innerhalb des <strong>Spiel</strong>s außer Kraft gesetzt. Es wird also eine Sonderrealität aufgebaut, in der<br />

gesellschaftliche Maßstäbe keine Geltung haben.<br />

Die Welt des <strong>Alltag</strong>s steht der Welt des <strong>Spiel</strong>s konträr gegenüber. Die <strong>Spiel</strong>welt bietet eine<br />

Alternative zur realen Welt, die als unbefriedigend empf<strong>und</strong>en wird. Normalerweise ist dies<br />

ein Merkmal <strong>von</strong> Kinderspielen.<br />

„Auf der Folie <strong>von</strong> Erfahrungen in der realen Welt inszeniert das Kind in seinen <strong>Spiel</strong>welten<br />

phantasievolle Begebenheiten <strong>und</strong> schlüpft in attraktive Rollen. Es erfüllt sich in den <strong>Spiel</strong>prozessen<br />

Wünsche, die ihm die reale Welt bislang versagt hat: mächtig zu sein, hilfreiche Fre<strong>und</strong>e an der Seite<br />

zu wissen, Neues <strong>und</strong> Unbekanntes zu entdecken, Gefahren zu meistern.“ 29<br />

Doch da sich das <strong>Spiel</strong> in seiner Form nicht ändert, überträgt sich diese Funktion auch auf das<br />

<strong>Spiel</strong> <strong>im</strong> Erwachsenenalter. Man kann also behaupten, dass es Julien <strong>und</strong> Sophie nicht gelingt,<br />

erwachsen zu werden. Sie schaffen es nicht, ihre Wünsche in die Realität umzusetzen <strong>und</strong><br />

bleiben deswegen in ihrer Welt des <strong>Spiel</strong>s gefangen.<br />

26<br />

Roger Caillois: Die <strong>Spiel</strong>e <strong>und</strong> die Menschen. Maske <strong>und</strong> Rausch. Frankfurt/M, Berlin 1982, S. 21.<br />

27<br />

Ebd., S. 32.<br />

28<br />

Ebd., S. 33.<br />

29<br />

Jürgen Fritz: <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> verstehen. Eine Einführung in Theorie <strong>und</strong> Bedeutung. Weinhe<strong>im</strong>, München 2004, S.<br />

156.


4.5 <strong>Alltag</strong> als <strong>Spiel</strong>?<br />

24<br />

Wir stellen uns wieder die gleiche Frage wie bereits bei dem <strong>Verhältnis</strong> <strong>von</strong> <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> <strong>Spiel</strong>:<br />

Kann <strong>Alltag</strong> als <strong>Spiel</strong> aufgefasst werden? Es gibt soziologische Theorien, wie zum Beispiel<br />

<strong>von</strong> Pierre Bourdieu, die den <strong>Alltag</strong> als <strong>Spiel</strong> beschreiben. Da der Begriff „<strong>Spiel</strong>“ eine breite<br />

semantische Spannweite hat, kommt es auf die Definition <strong>von</strong> „<strong>Spiel</strong>“ an, ob dies zutreffend<br />

ist, oder nicht. Bourdieu meint mit diesem Begriff vor allem das <strong>Spiel</strong> der gesellschaftlichen<br />

Klassen, die um Distinktion spielen. 30 Für den <strong>Film</strong> Jeux d’enfants sind seine Beschreibungen<br />

nicht besonders hilfreich. Sie deuten aber auf eine Interpretationsebene hin, die ich hier nur<br />

kurz erwähnen will. Sophie gehört einer anderen Gesellschaftsschicht als Julien an. Sie<br />

stammt aus einer ausländischen Familie, die in einer Sozialwohnung lebt. Julien dagegen ist<br />

ein Kind des Mittelstandes, das in einem sauberen Vorort mit freistehenden Häusern<br />

aufgewachsen ist. Sophie gehört also einer niedrigeren Schicht als Julien an. <strong>Das</strong> Wettspiel,<br />

das sich zwischen den beiden entwickelt, nivelliert diese Schichtunterschiede. Doch Sophie<br />

thematisiert ihre Herkunft <strong>im</strong>mer wieder. Inwieweit sie damit zur Zerstörung des <strong>Spiel</strong>s<br />

beiträgt, ist eine Frage, die hier ob der Begrenztheit der Arbeit keine Antwort erhalten kann.<br />

5. <strong>Das</strong> <strong>Verhältnis</strong> <strong>von</strong> <strong>Alltag</strong>, <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> <strong>Spiel</strong><br />

Im Folgenden soll abschließend der Versuch unternommen werden, die drei Bereiche <strong>Spiel</strong>,<br />

<strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> <strong>Alltag</strong> zusammenzuführen.<br />

Die <strong>Liebe</strong> findet in Jeux d’enfants als Form der unerfüllten <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> der Amour fou statt.<br />

Der <strong>Alltag</strong> bildet dazu den Gegenpol, der alles Rationale, Vernünftige <strong>und</strong> Langweilige<br />

umfasst. <strong>Das</strong> <strong>Spiel</strong> steht zwischen diesen beiden Bereichen <strong>und</strong> ist einerseits Teil der Amour<br />

fou, andererseits Teil des <strong>Alltag</strong>s. Es deutet jedoch in Richtung Amour fou <strong>und</strong> stellt damit<br />

eine Bedrohung für den <strong>Alltag</strong> dar. Je größer der Bereich des <strong>Alltag</strong>s wird, desto extremer<br />

wird das <strong>Spiel</strong>. Julien <strong>und</strong> Sophie nehmen <strong>im</strong>mer häufiger die Nähe zum Tod in Kauf, der ein<br />

Element der Amour fou ist. Doch sie haben keine Wahl. Die Amour fou ist wie ein Virus, den<br />

beide in sich tragen <strong>und</strong> deren Symptom das <strong>Spiel</strong> ist. Auch andere Symptome für diesen<br />

Virus wären denkbar. Doch der <strong>Film</strong> Jeux d’enfants wählt das Beispiel „<strong>Spiel</strong>“, <strong>und</strong> zeigt<br />

daran, wie er die Infizierten bis in den Tod führt.<br />

30 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main, 1982, S. 389.


6. Was wäre, wenn?<br />

25<br />

Zum Schluss soll noch knapp das alternative Ende des <strong>Film</strong>s betrachtet werden. Denn der<br />

<strong>Film</strong> endet nicht mit dem Eingießen in den Betonblock. Es folgt ein Gedankenexper<strong>im</strong>ent, in<br />

warmes, gelbes Licht getaucht. <strong>Das</strong> „Was-wäre-wenn?“ einer glücklichen <strong>Liebe</strong>. Es werden<br />

zwei alte Menschen gezeigt, die eine glückliche Beziehung führen, <strong>im</strong>mer noch Wetten<br />

abschließen <strong>und</strong> aussprechen können, was Sophie <strong>und</strong> Julien nie möglich war: „Je t’a<strong>im</strong>e“. In<br />

Rückblenden sieht man, wie sich Julien <strong>und</strong> Sophie in Situationen küssen, in denen sie in der<br />

ersten Version Distanz gewahrt haben, in denen es jedoch genauso gut zu einer Annäherung<br />

hätte kommen können – hätten sie nur den Mut dazu gehabt. Dies erinnert in der Gr<strong>und</strong>idee<br />

an Tom Tykwers „Lola rennt“. Wie in einem Computerspiel mit mehreren Leben können<br />

wenige, andere Entscheidungen zu einem völlig anderen Ende führen. Doch ist dieses Ende<br />

nicht konsequent. So wie die Charaktere <strong>von</strong> Julien <strong>und</strong> Sophie angelegt sind, wäre es ihnen<br />

nicht möglich gewesen, eine glückliche Beziehung <strong>im</strong> <strong>Alltag</strong> zu führen. <strong>Das</strong> gegenseitige<br />

Verletzen, die Unmöglichkeit der ernst gemeinten Kommunikation <strong>und</strong> die Leidenschaft der<br />

Amour fou, die zwischen den beiden besteht, hätten keine dauerhafte, glückliche Verbindung<br />

zugelassen. Die Beziehung <strong>von</strong> Julien <strong>und</strong> Sophie lebt durch <strong>und</strong> in der Distanz <strong>und</strong> ist nicht<br />

mit dem <strong>Alltag</strong> vereinbar.<br />

So ist die Variation des Endes womöglich eine versöhnliche Geste an den Zuschauer <strong>und</strong> der<br />

Versuch, diesen mit einem guten Gefühl aus dem Kino zu entlassen. Denkbar ist außerdem<br />

ein appellativer Hintergr<strong>und</strong>: Zeigt euch eure wahren Gefühle <strong>und</strong> sprecht aus, was ihr über<br />

einander denkt, damit ihr eine glückliche Beziehung führen könnt. Alles andere führt zur<br />

Zerstörung <strong>und</strong> der Unmöglichkeit glücklicher <strong>Liebe</strong>.


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