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Heiner Müller - Landestheater Detmold

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REGIE ANDREAS INGENHAAG<br />

BÜHNE UND KOSTÜME DIANA PÄHLER<br />

DRAMATURGIE CHRISTIAN KATZSCHMANN<br />

MERTEUIL GABY BLUM<br />

VALMONT JOACHIM RUCZYNSKI<br />

REGIEASSISTENZ/<br />

SOUFFLAGE J A N A KL I M CZ A K<br />

TECHNIK DIETER R A SCHKE/ECKH A RT TÖLLE<br />

Gewisse Verbrechen sind ihrer Genese und Ausführung nach<br />

mit einer sexuellen Auslösung und Entladung vergleichbar,<br />

deren Ablauf und brutalen Ausgang sie haben – ja sogar die<br />

fi nale Erleichterung.<br />

Es ist unbegreifl ich, dass es Menschen gibt, deren Denken<br />

ganz aus dem besteht, was wir missbilligen, wenn es<br />

an unserer Denken gelangt, und dem wir nur so lange<br />

ausgesetzt sind, als Zeit nötig ist, um es zu unterdrücken.<br />

Paul Valéry<br />

Das Böse scheint fassbar, aber nur in dem Maße,<br />

wie das Gute den Schlüssel dazu liefert. Wenn die<br />

leuchtende Intensität des Guten der Nacht des Bösen<br />

nicht ihre Schwärze verliehe, besäße das Böse keine<br />

Anziehungskraft mehr. Diese Wahrheit ist schwer zu<br />

verkraften. Etwas empört sich in dem, der sie vernimmt.<br />

Dabei wissen wir, dass die stärksten Eindrücke auf die<br />

Empfi ndsamkeit von Kontrasten herrühren.<br />

Georges Bataille<br />

Aufführungsrechte: Henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH<br />

Aufführungsdauer: 1 1/2 Stunden - Keine Pause<br />

PREMIERE: Freitag, 16. November 2007, 20.00 Uhr<br />

Grabbe-Haus <strong>Detmold</strong><br />

Fotografi eren sowie Film- und Tonaufnahmen während der Vorstellung<br />

sind nicht gestattet. Mobiltelefone bitte ausschalten!<br />

Technische Leitung Klaus E. Kobisch Leitung der Bühnentechnik Erwin<br />

Schultz Leitung der Beleuchtungstechnik Walter Muschmann Leitung<br />

der Tonabteilung Frank Niebuhr Leitung der Maskenbildnerei Elke Böttcher<br />

Leitung der Requisite Detlef Hagemann Herstellung der Dekoration<br />

und der Kostüme in den Werkstätten des <strong>Landestheater</strong>s <strong>Detmold</strong>,<br />

Ausstattungsleitung Petra Mollérus Werkstattleitung Klaus Borrmann<br />

Leitung des Malsaals Hans-Günther Säbel Leitung der Tischlerei Andrea<br />

Dalbkermeyer Leitung der Kostümabteilung Claudia Schinke<br />

KALTBLÜTIGE EXPERIMENTE HEINER MÜLLER<br />

Wandelt einen eine echte Empfi ndung an, so beeilt man sich,<br />

sie dadurch zu rechtfertigen, dass man sie ausnutzt. Man<br />

hat Nerven und kann im Lauf einer kaltblütig eingeleiteten<br />

Verführungsszene in ehrliche Tränen ausbrechen. Einem Valmont<br />

aber fällt, noch während sie rinnen, ein, welche Wendung sie der<br />

Szene geben können, und er spielt in dieser Richtung weiter.<br />

Auch ihm kann geschehen, dass er sich verliebt und eine Frau<br />

glücklich machen möchte: aber doch nicht um ihretwillen. (...)<br />

Das Experiment soll herausbringen, was aus einer schüchternen<br />

und leidenschaftlichen, sehr frommen und bis dahin streng<br />

tugendhaften Frau, die sich ihm endlich hingab, wohl wird, wenn<br />

man sie auf dem Gipfel des Glückes plötzlich mit einem Fußtritt<br />

entlässt.(...) Wie bös diese Zeiten waren! Welches niemals<br />

aussetzende Bewusstsein der Feindschaft von Mensch zu Mensch, welche Gefeitheit<br />

gegen jeden Anfl ug von Wohlwollen muss damals einem Manne eigen gewesen sein,<br />

damit er kalten Blutes eine Unglückliche aus einem mörderischen Affekt in den anderen<br />

hetzen, dem Instrument dieser Seele Melodien der Qual entlocken konnte - zu seinem<br />

Ruhm! (...) Aber die Marquise von Merteuil hätte in ihrem geschulten Gesicht keine<br />

Miene verzogen. (...) Die Merteuil erst, das weibliche Genie, erhebt die Liebesintrige<br />

zur hohen Philosophie und zürn großangelegten Spiel um die Macht. (...) Nur sie sieht<br />

klar in allen und ist gerüstet, jeden zu treffen. Sie gelangt, libertine in jedem Sinn,<br />

im Lauf ihrer lasterhaften Überlegungen zu den vorgeschrittensten Maximen. Sie ist<br />

Ästhetin; (...) sie hat einen Künstlerhass auf die Plattheit und auf jene Frauen, die<br />

leichtsinnig aus Dummheit und nichts weiter sind als Amüsiermaschinen. (...) Diese<br />

Frau ist unberührbar; das letzte Laster ist unberührbar gleich der äußersten Reinheit.<br />

Es gäbe nichts, woran sie zugrunde gehen könnte; nur ihr eigener Stolz bringt sie um.<br />

(...) Nie war das Böse heftiger als in der Merteuil; und da für die Kunst Intensität alles<br />

ist, kann man zu dem Glauben kommen, die Merteuil sei eine der großen Gestalten<br />

der Weltliteratur.<br />

Heinrich Mann<br />

wird am 9. Januar 1929 in Eppendorf/Sachsen geboren. 1944<br />

zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, macht <strong>Müller</strong> nach<br />

Kriegsende sein Abitur und arbeitet zunächst als Hilfsbibliothekar<br />

im sächsischen Frankenberg. 1949 nimmt er an einem<br />

Schriftstellerlehrgang in Radebeul teil, 1951 zieht er nach Berlin,<br />

wo er für die Zeitschriften „Sonntag“ und „Neue Deutsche Literatur“<br />

Rezensionen schreibt; Heirat mit Rosemarie Fritzsche<br />

und Geburt der Tochter Regine. 1954 Scheidung der Ehe und<br />

Heirat mit Ingeborg Schwenkner, mit der <strong>Müller</strong> gemeinsam<br />

seine ersten Stücke „Der Lohndrücker“ und „Die Korrektur“<br />

schreibt. Von 1954 bis 1955 arbeitet <strong>Müller</strong> als wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter des Schriftstellerverbandes, danach als Redakteur<br />

der Monatszeitschrift „Junge Kunst“. Ab 1958 ist er<br />

Dramaturg am Maxim Gorki Theater Berlin. 1959 zusammen<br />

mit Inge <strong>Müller</strong> mit dem Heinrich-Mann-Preis der Akademie der<br />

Künste ausgezeichnet, wird 1961 sein Stück „Die Umsiedlerin“<br />

nach der Uraufführung verboten und <strong>Müller</strong> aus dem Schriftstellerverband<br />

ausgeschlossen. Auch das Stück „Der Bau“ stößt<br />

1965 auf Kritik der SED-Kulturfunktionäre, erst 1980 kommt die<br />

Uraufführung zustande. 1966 Selbstmord von Inge <strong>Müller</strong>. 1968<br />

wird „Philoktet“ in München uraufgeführt. Ab 1970 arbeitet <strong>Müller</strong><br />

als Dramaturg am Berliner Ensemble, von 1982 an der Berliner<br />

Volksbühne. „Mauser“, 1970 geschrieben und für Aufführungen<br />

in der DDR verboten, wird 1975 in Austin/Texas uraufgeführt.<br />

<strong>Müller</strong> heiratet 1976 Ginka Tscholakowa. 1978 Uraufführung des<br />

Schauspiels „Germania Tod in Berlin“ in München, für das <strong>Müller</strong><br />

1979 den Mülheimer Dramatikerpreis erhält. „Leben Gundlings<br />

Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“ wird 1979 in<br />

Frankfurt/Main, „Die Hamletmaschine“ in Saint-Denis bei Paris<br />

uraufgeführt. 1980 Uraufführung von „Der Auftrag“ an der Berliner<br />

Volksbühne, 1982 wird „Quartett“ in Bochum uraufgeführt.<br />

1985 erhält <strong>Heiner</strong> <strong>Müller</strong> den Georg-Büchner-Preis, 1990 den<br />

Kleist-Preis, 1991 den Europäischen Theaterpreis. 1991 Scheidung<br />

der Ehe. Von 1990 bis 1993 ist er letzter Präsident der<br />

Akademie der Künste/Ost, ab 1992 Leitungsmitglied des Berliner<br />

Ensembles. 1992 Heirat mit Brigitte Maria Mayer, Veröffentlichung<br />

der Autobiographie „Krieg ohne Schlacht“. 1993 inszeniert<br />

<strong>Müller</strong> bei den Bayreuther Festspielen Richard Wagners<br />

Oper „Tristan und Isolde“. 1995 übernimmt er die künstlerische<br />

Leitung des Berliner Ensembles. <strong>Heiner</strong> <strong>Müller</strong> stirbt am 30. Dezember<br />

1995 in Berlin, beigesetzt wird er auf dem Dorotheenstädtischen<br />

Friedhof.<br />

Impressum: Herausgeber <strong>Landestheater</strong> <strong>Detmold</strong><br />

Intendant Kay Metzger, Spielzeit 2007/20078<br />

Redaktion Dr. Christian Katzschmann<br />

Fotos Michael Hörnschemeyer, Münster<br />

Grafi k Michael Hahn, Hamburg, Druck K 2 <strong>Detmold</strong><br />

Quellen: Georges Bataille, Die Literatur und das Böse, München 1987.<br />

Albert Caraco, Prolog, in: Richard von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis,<br />

München 1997. Guido Ceronetti, Epilog, in: ebd. Michel Houellebecq,<br />

Plattform, Reinbek bei Hamburg 2003. Heinrich Mann, Essays, Hamburg<br />

1960. Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme<br />

Phänomene, Berlin 1992. Volkmar Sigusch, Self-Sex, in: Frankfurter<br />

Rundschau, 18. Januar 2006. Paul Valéry, Werke Bd. 5, hrsg. von Jürgen<br />

Schmidt-Radefeldt, Zur Theorie der Dichtkunst und Vermischte Gedanken,<br />

Frankfurt/Main 1991.<br />

In der Inszenierung sind Ausschnitte aus „Quadrivium für 4 Schlagzeuger<br />

und 4 Orchestergruppen“ von Bruno Maderna zu hören.<br />

LWL. Gefördert<br />

durch den Landschaftsverband<br />

Westfalen-Lippe Kulturpartnerschaft<br />

6


SALON VOR DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION/<br />

BUNKER NACH DEM DRITTEN WELTKRIEG<br />

Grenzenlos ist die Verruchtheit, boshaft sind die Ränke der<br />

Marquise de Merteuil und ihres früheren Liebhabers Vicomte<br />

de Valmont, doch mit bewundernswertem Raffi nement werden<br />

sie ins Werk gesetzt: Die jung-naive Cecile de Volanges ist<br />

frisch aus dem Kloster einem der abtrünnigen Liebhaber der<br />

Merteuil versprochen, der, soviel Rache-Vergnügen muss sein,<br />

in der Hochzeitsnacht mit einer bereits entjungferten Braut<br />

überrascht werden soll. Was für ein perfi der Spass! Nach Wunsch<br />

der Merteuil ist Valmont der Richtige für diese Aufgabe. Eine<br />

leichte Prüfung für diesen, leichter jedenfalls als die Eroberung<br />

der Madame de Tourvel, welche er sich justament vornimmt. Die<br />

ist nämlich ihrem Gatten treu und zudem vor dem abgefeimten<br />

Verführer bereits gewarnt...<br />

Als Stückvorlage für „Quartett“ nutzte <strong>Heiner</strong> <strong>Müller</strong> Choderlos<br />

de Laclos‘ berühmten Briefroman „Gefährliche Liebschaften“,<br />

eine bitterböse Abrechnung mit dem sterbenden Rokoko<br />

aus dem Jahr 1782. <strong>Müller</strong> beschränkt die Handlung in seiner<br />

Theaterbearbeitung auf die Gegenspieler Merteuil und Valmont.<br />

Vier Figuren werden bei ihm von zweien gespielt. Merteuil und<br />

Valmont erleben in fortwährenden Rollenwechseln das Trauma<br />

ihrer Liebe nach. Rücksichtslos zynisch ist der Dialog, den sie<br />

sich über Verführung, Verrat und Tod liefern. Stolz auf ihre<br />

brutale Offenheit und Gefühlskälte bestätigen sie sich die<br />

völlige Kontrollierbarkeit ihrer Gefühlsregungen. Je kälter der<br />

Ton dabei wird, desto mehr entsteht der Eindruck, dass hinter<br />

der Maske virtuoser Verachtung die Leidenschaft tobt.<br />

DIE WOLLUST, DIE LEERE, DER SEX, DAS BÖSE, DAS NICHTS<br />

ES KO M M T G A R M A N CHES IN DE N<br />

SCH W A NG, D A S U NS A N F RE M DET, W E N N W IR<br />

ES ERFAHREN, UND UNS ANHEIMELT, WENN WIR ES<br />

ERGRÜNDE N , D A RU M BL EIBE ES JEDE M ÜBERL A SSE N ,<br />

DER W OL L US T BEIZU TRETE N , JE N A CH DER A R T SEINER<br />

N AT UR , DE N N SO NST K A N N A UF DER ERDE NI M M ER<br />

FRIEDEN HERRSCHEN. WO MAN SICH NÄMLICH<br />

Z W A NG A N T U T, D A W Ä CHS T D A S BÖSE<br />

M EHR A LS A L L E W ER TE , U N D U M ES<br />

KURZ ZU FASSEN: ES STEHT UNS<br />

AN, DIE HÖLLE UND DEN HIMMEL<br />

ZU M A US TR A G ZU BRINGE N , FA L LS<br />

WIR NICHT AN DEM UNTERSCHIED<br />

VERGEHEN WOLLEN.<br />

ALBERTO CARACO<br />

Einst war der Körper die Metapher<br />

für die Seele, dann für den Sex, heute ist er Metapher für gar nichts mehr,<br />

ist er Ort der Metastase, der maschinellen Verkettung all seiner Vorgänge, einer unendlichen<br />

Programmierung ohne Symbolbildung, ohne transzendentes Ziel, in reiner Promiskuität mit sich<br />

selbst, zugleich die der Netze und integrierten Schaltkreise. Jean Baudrillard<br />

Vergeblich und sinnlos ist jeder Diskurs über die Liebe, wenn<br />

er sich nicht an eine begrenzte, gehobene Gesellschaft<br />

richtet. Wenn man ihn auf zu viele Leute ausweitet, weiß<br />

man nicht mehr, wovon man spricht. Um heute zu den<br />

Massen von der Liebe sprechen zu können, nehmen die<br />

Erotographen als sicheren Orientierungspunkt ihre Gesten<br />

und Dünste, die aus Hodensäcken herstammen, überzeugt,<br />

von allgemeinen Verhaltensweisen und von Anzeichen,<br />

die für alle erkennbar sind, zu sprechen. Doch um ein<br />

allgemeines Verstehen dieser scheinbar so elementaren<br />

und universalen Sprache zu schaffen, braucht es eine<br />

universelle pornologische Bildung, eine Massenbekehrung<br />

zur Scham- und Analgegend, die das ganze Leben ins Visier<br />

von Erregung und Orgasmus rückt.<br />

Guido Ceronetti<br />

Apropos innere Leere. Sie wird besonders gern bei<br />

Perversen diagnostiziert. Doch es gibt Perverse,<br />

deren seelische Leere geringer und vorübergehender<br />

ist als die mancher Nichtperverser. Um das<br />

zu erkennen, genügte es eigentlich, sich den Sucht-<br />

oder Leerecharakter des üblichen Alltagslebens<br />

anzuschauen. Volkmar Sigusch<br />

„Die Sache ist einfacher, als man denkt“, sagte ich<br />

schließlich. „Es gibt die Sexualität der Menschen, die sich<br />

lieben, und die Sexualität der Menschen, die sich nicht<br />

lieben. Wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, sich mit<br />

dem anderen zu identifi zieren, dann bleibt als einzige<br />

Modalität das Leiden und die Grausamkeit übrig.“ (...)<br />

„Wir leben in einer seltsamen Welt“, sagte sie. (…) Sie<br />

fügte hinzu: „Ich mag die Welt nicht, in der wir leben.“<br />

Michel Houellebecq

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