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Wohltemperiert in guter Stimmung

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<strong>Wohltemperiert</strong> <strong>in</strong> <strong>guter</strong> <strong>Stimmung</strong><br />

Grundlagen zu Mathematik und Musik<br />

I. EINLEITUNG<br />

Weshalb kl<strong>in</strong>gen Oktaven völlig re<strong>in</strong> und können Qu<strong>in</strong>ten<br />

beim Stimmen von Streich<strong>in</strong>strumenten absolut richtig austariert<br />

werden? Weshalb werden kle<strong>in</strong>e Sekunden oder das<br />

Drei–Ganzton–Intervall (Tritonus) <strong>in</strong> der Musik als Dissonanzen<br />

wahrgenommen? S<strong>in</strong>d das nur subjektive, beim Hören<br />

abendländischer Musik erlernte Empf<strong>in</strong>dungen oder stecken<br />

dah<strong>in</strong>ter allgeme<strong>in</strong>e Pr<strong>in</strong>zipien? In diesem Beitrag soll verdeutlicht<br />

werden, dass anhand der natürlichen Obertonreihe<br />

mathematisch begründet ist, weshalb wir Intervalle musikalisch<br />

als konsonant oder dissonant empf<strong>in</strong>den, weshalb Dur–<br />

und Moll–Tonleiter gerade so s<strong>in</strong>d, wie sie heute gebräuchlich<br />

s<strong>in</strong>d und weshalb im Laufe der Musikgeschichte die Oktave<br />

<strong>in</strong> 12 Halbtonschritte e<strong>in</strong>geteilt wurde. Die Obertonreihe ist<br />

jedoch mit unserer Empf<strong>in</strong>dung der Tonhöhe als Logarithmus<br />

der Schw<strong>in</strong>gungsfrequenz nicht <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen, was<br />

dazu führt, dass e<strong>in</strong> widerspruchsfreies musikalisches <strong>Stimmung</strong>ssystem<br />

nicht existieren kann. E<strong>in</strong>ige historische Kompromissvorschläge<br />

zur <strong>Stimmung</strong> von (Tasten–)Instrumenten<br />

werden vorgestellt und verglichen.<br />

II. FOURIER–ANALYSE VON TÖNEN, KONSONANZ UND<br />

DISSONANZ<br />

Periodische Luftdruckschwankungen werden durch unser<br />

Gehör als e<strong>in</strong> Ton wahrgenommen, wobei die Tonhöhe durch<br />

die Frequenz (= Zahl der Schw<strong>in</strong>gungsperioden je Sekunde,<br />

gemessen <strong>in</strong> Hz(Hertz)) bestimmt wird. Dabei werden jedoch<br />

sehr langsame Schalldruckschwankungen als e<strong>in</strong>zelne Ereignisse<br />

zeitlich aufgelöst wahrgenommen, während bei mehr<br />

als ca. 15 − 20 Hz sich e<strong>in</strong> Tonempf<strong>in</strong>den ergibt. Dieser<br />

Übergang zwischen der zeitlich aufgelösten Wahrnehmung<br />

und der Empf<strong>in</strong>dung als Ton ist beispielsweise beim Knattern<br />

e<strong>in</strong>es Mopedmotors im Standlauf und e<strong>in</strong>er anschließenden<br />

Erhöhung der Drehzahl bei der Abfahrt gut wahrzunehmen.<br />

Gemäß der durch Jean Baptist Joseph Fourier (1768–1830)<br />

entwickelten Fourier–Analyse kann jede periodische Funktion<br />

p(t) mit der Periodendauer T0 bzw. Frequenz f0 = 1/T0<br />

(es gilt also p(t) = p(t + kT0) für alle ganzen Zahlen k)<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von Cos<strong>in</strong>us–Schw<strong>in</strong>gungen mit Frequenzen,<br />

die ganzzahlige Vielfache der Grundfrequenz f 0 darstellen,<br />

entwickelt werden:<br />

∞�<br />

p(t) = Ci cos (2π(if0)t + φi) .<br />

i=0<br />

Dabei wird die Teilschw<strong>in</strong>gung Ci cos (2π(if0)t + φi) als die<br />

i-te Oberschw<strong>in</strong>gung des Tons mit der Amplitude C i und der<br />

Null–Phase φi bezeichnet. (C0: Gleichanteil)<br />

Johannes B. Huber<br />

Diese Reihenentwicklung hat <strong>in</strong>sofern grundsätzliche Bedeutung,<br />

dass e<strong>in</strong>erseits durch unseren Gehörs<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>e solche<br />

Zerlegung tatsächlich stattf<strong>in</strong>det, denn unser Gehör wirkt als<br />

Kurzzeit–Spektral–Analysator. Andererseits ergibt die Überlagerung<br />

von unterschiedlich großen und wechselseitig verschobenen<br />

Cos<strong>in</strong>us–Schw<strong>in</strong>gungen (z.B. durch Zeitverzögerung,<br />

vgl. Reflexionen von Schallwellen <strong>in</strong> halligen Räumen)<br />

gleicher Frequenz aufgrund der Additionstheoreme der Trigonometrie<br />

wieder e<strong>in</strong>e Cos<strong>in</strong>us–Schw<strong>in</strong>gung dieser Frequenz.<br />

(Mathematisch ausgedrückt bedeutet dies, dass Cos<strong>in</strong>us–<br />

Schw<strong>in</strong>gungen sog. Eigenfunktionen bzgl. aller l<strong>in</strong>earen, dispersiven<br />

Signaltransformationen darstellen.) Das Bild 1 zeigt<br />

als Beispiel die Zerlegung e<strong>in</strong>er Rechtecksschw<strong>in</strong>gung <strong>in</strong><br />

cos<strong>in</strong>usförmige Grund– und Oberschw<strong>in</strong>gungen.<br />

p(t) →<br />

2<br />

0<br />

A<br />

−2<br />

−2,5 0 2,5 5 7,5 10 12,5 15 17,5<br />

2<br />

0<br />

−2<br />

−2,5 0 2,5 5 7,5 10 12,5 15 17,5<br />

2<br />

0<br />

B<br />

C<br />

−2<br />

−2,5 0 2,5 5 7,5 10 12,5 15 17,5<br />

t[ms] →<br />

Abbildung 1. Approximation e<strong>in</strong>er Rechteckschw<strong>in</strong>gung (A) als Summe von<br />

5 Cos<strong>in</strong>usschw<strong>in</strong>gungen (B), die <strong>in</strong> (C) dargestellt s<strong>in</strong>d.<br />

E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Ton besteht also bereits aus vielen Teiltönen<br />

mit den Frequenzen if0 mit i =1, 2, 3, ... Sie wird als die<br />

Obertonreihe bezeichnet.<br />

Trägt man die Amplituden–Koeffizienten C i über der Frequenz<br />

der Teilschw<strong>in</strong>gungen auf, so erhält man das sog.<br />

Spektrum |P (f)| e<strong>in</strong>es Tons p(t), vgl. Bild 2:<br />

|P (f)|<br />

f0 2f0 3f0 4f0 5f0 6f0<br />

1:2<br />

Oktave<br />

2:3<br />

Qu<strong>in</strong>te<br />

3:4 4:5 5:6<br />

Quarte große Terz kle<strong>in</strong>e Terz<br />

Abbildung 2. L<strong>in</strong>ienspektrum e<strong>in</strong>es Tons und die dar<strong>in</strong> enthaltenen Grund<strong>in</strong>tervalle.<br />

6:7<br />

f<br />

1


Die Form des Spektrums, also der Gehalt von Oberschw<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ton, wird als dessen Klangfarbe wahrgenommen.<br />

Hierbei stellen sich zwischen den Teiltönen mit den<br />

Frequenzen f0, 2f0, 3f0, usw. die Frequenzverhältnisse 1:<br />

2, 2:3, 3:4e<strong>in</strong>, welche die musikalischen Grund<strong>in</strong>tervalle<br />

Oktave (2 : 1), Qu<strong>in</strong>te (3 : 2), Quarte (4 : 3), große Terz<br />

(5 : 4) usw. bilden. Die Grundelemente der musikalischen Harmonie<br />

s<strong>in</strong>d also bereits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Ton enthalten und<br />

sie folgen unmittelbar aus dem mathematischen Pr<strong>in</strong>zip der<br />

Fourier–Analyse, die wie bereits erwähnt, unserem Gehörs<strong>in</strong>n<br />

entspricht. Diese Reihe der Intervalle Oktave, Qu<strong>in</strong>te, Quarte<br />

usw. tritt auch <strong>in</strong> der Naturtonreihe von Blechblas<strong>in</strong>strumenten<br />

auf (Anregung von unterschiedlichen Schw<strong>in</strong>gungsmoden, d.h.<br />

von unterschiedlich vielen stehenden Wellen im Rohr, durch<br />

Veränderung der Lippenspannung), oder bei Flageolett–Tönen<br />

bei Saiten<strong>in</strong>strumenten (Erzeugung von Schw<strong>in</strong>gungsknoten<br />

durch leichtes Auflegen e<strong>in</strong>es F<strong>in</strong>gers bei ganzzahligen Teilen<br />

der Saitenlänge).<br />

Als dissonant wird die Überlagerung zweier Cos<strong>in</strong>us–<br />

Schw<strong>in</strong>gungen mit nahe beie<strong>in</strong>ander liegenden Frequenzen<br />

f1 und f2 empfunden, da gemäß der Additionstheoreme der<br />

Trigonometrie gilt:<br />

cos(2πf1t)+cos(2πf2t) =2cos<br />

�<br />

2π f1+f2<br />

� �<br />

2 t cos 2π f2−f1<br />

�<br />

2 t .<br />

Die rechte Seite dieser Gleichung zeigt, dass sich für das<br />

Gehör e<strong>in</strong> Ton bei e<strong>in</strong>er Tonhöhe e<strong>in</strong>stellt, die der Mittenfrequenz<br />

(f1 + f2)/2 entspricht. Dieser Ton schwillt mit der<br />

Differenzfrequenz (f2 − f1) an und ab. Ist die Differenzfrequenz<br />

(f2 − f1) kle<strong>in</strong>er als ca. 20 Hz, so f<strong>in</strong>det durch<br />

unser Gehör e<strong>in</strong>e zeitlich aufgelöste Wahrnehmung statt, was<br />

als e<strong>in</strong>e Schwebung empfunden wird. Solche Schwebungen,<br />

allgeme<strong>in</strong>er gesprochen, e<strong>in</strong>e zugleich zeitliche und spektrale<br />

Auflösung e<strong>in</strong>es Akkords, werden musikalisch als dissonant<br />

empfunden. Erkl<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Akkord mehrere Töne<br />

gleichzeitig, so entsteht durch die Oberschw<strong>in</strong>gungen zu den<br />

e<strong>in</strong>zelnen Tönen e<strong>in</strong> reichhaltiges Spektrum. Schwebungen<br />

werden dann vermieden, wenn alle diese Oberschw<strong>in</strong>gungen<br />

entweder genügend weit vone<strong>in</strong>ander entfernt auf der Frequenzachse<br />

liegen oder genau direkt aufe<strong>in</strong>ander treffen. Re<strong>in</strong><br />

gestimmte Intervalle s<strong>in</strong>d durch die Ko<strong>in</strong>zidenz von Oberschw<strong>in</strong>gungen<br />

gekennzeichnet. So fallen bei der re<strong>in</strong>en Oktave<br />

(Frequenzverhältnis 2 : 1) Grund– und Oberschw<strong>in</strong>gungen<br />

des höheren Tons exakt auf jede zweite Oberschw<strong>in</strong>gung des<br />

tieferen Tons. E<strong>in</strong>e Zuspielung e<strong>in</strong>es um e<strong>in</strong>e oder mehrere<br />

Oktaven höheren Tons verändert also nur die Amplituden<br />

von Oberschw<strong>in</strong>gungen und damit nur die Klangfarbe, nicht<br />

aber die Tonhöhenempf<strong>in</strong>dung. E<strong>in</strong>e Oktave wird somit nicht<br />

als Akkord wahrgenommen und deshalb werden Töne im<br />

Oktavabstand als harmonisch gleichwertig betrachtet. Dies<br />

wiederum erklärt, weshalb die Tonhöhe als der Logarithmus<br />

der Schw<strong>in</strong>gungsfrequenz wahrgenommen wird: Die Frequenz<br />

ist jeweils zu verdoppeln, um die Tonhöhe um e<strong>in</strong>e Oktave zu<br />

erhöhen. Allgeme<strong>in</strong> gilt:<br />

Tonhöhenempf<strong>in</strong>dung ∼ log 2 (Frequenz/Bezugsfrequenz).<br />

Um zu e<strong>in</strong>er Tonhöhe e<strong>in</strong> Intervall (z.B. um e<strong>in</strong>e große<br />

Terz) zu addieren, ist also die Schw<strong>in</strong>gungsfrequenz um e<strong>in</strong>en<br />

entsprechenden Faktor (im Beispiel mit 5/4)zumultiplizieren.<br />

Die Logarithmus–Funktion ist nämlich die e<strong>in</strong>zige Funktion<br />

R + → R (R: Menge der reellen Zahlen, R + : Menge der<br />

positiven reellen Zahlen), durch die e<strong>in</strong> Produkt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Summe<br />

abgebildet wird. Die logarithmische Tonhöhenempf<strong>in</strong>dung<br />

gehört zum sog. Weber–Fechnerschen Gesetz der logarithmischen<br />

Wahrnehmung des Menschen aus der Psychologie, das<br />

<strong>in</strong> vielen Bereichen gilt (z.B. Lautstärke, Helligkeit, aber auch<br />

z.B. bzgl. materiellen Reichtums: Bei e<strong>in</strong>er Lohnerhöhung<br />

<strong>in</strong>teressiert meist nicht deren Geldwert, sondern nur der Prozentsatz,<br />

also der Faktor der Lohnsteigerung).<br />

Bei der re<strong>in</strong>en Qu<strong>in</strong>te fällt die zweite Oberschw<strong>in</strong>gung<br />

2f2 des höheren Tons mit der Grundfrequenz f 2 genau auf<br />

die dritte Oberschw<strong>in</strong>gung 3f1 des tieferen Tons mit der<br />

Grundfrequenz f1. Es gilt also: 3f1 =2f2 bzw. f1 : f2 =<br />

2 : 3. So werden bei Streich<strong>in</strong>strumenten Qu<strong>in</strong>ten dadurch<br />

re<strong>in</strong> gestimmt, dass darauf geachtet wird, ob e<strong>in</strong>e Schwebung<br />

(d.h. e<strong>in</strong>e langsam periodische Veränderung des Höre<strong>in</strong>drucks)<br />

durch nicht genau aufe<strong>in</strong>ander fallende Oberschw<strong>in</strong>gungen<br />

wahrzunehmen ist. Bei der Quarte gilt diese Übere<strong>in</strong>stimmung<br />

zwischen der 4. und der 3. Oberschw<strong>in</strong>gung der E<strong>in</strong>zeltöne,<br />

bei der großen Terz bei der 5. und 4. Oberschw<strong>in</strong>gung usw..<br />

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die üblichen musikalischen<br />

Intervalle mittelbar aus der Zusammensetzung von<br />

periodischen Funktionen aus Grund– und Oberschw<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>in</strong> der Fourier–Analyse folgen und durch die Vermeidung von<br />

Schwebung durch Ko<strong>in</strong>zidenz von Oberschw<strong>in</strong>gungen gegeben<br />

s<strong>in</strong>d. Sie s<strong>in</strong>d somit nicht durch subjektives Empf<strong>in</strong>den<br />

sondern e<strong>in</strong>deutig mathematisch begründet. Die Konsonanz<br />

e<strong>in</strong>es musikalischen Intervalls ist durch e<strong>in</strong>e hohe Kommensurabilität<br />

der beiden Schw<strong>in</strong>gungsfrequenzen (bzw. der Saiten–<br />

oder Rohrlängen) gegeben, also durch e<strong>in</strong>e Vergleichbarkeit<br />

mit Hilfe e<strong>in</strong>es möglichst großen geme<strong>in</strong>samen Massstabes. Im<br />

Altertum wurde diese Eigenschaft der musikalischen Harmonie<br />

ausschließlich philosophisch ästhetisch begründet. Obertonreihe<br />

und Fourier–Analyse bestätigen diesen ästhetischen<br />

Anspruch mathematisch.<br />

III. MUSIKALISCHE STIMMUNGSSYSTEME<br />

A. Das System des Philolaos (ca. 450 v. Chr.)<br />

Die E<strong>in</strong>teilung e<strong>in</strong>er Oktave <strong>in</strong> Teiltöne, die Tonleiter,<br />

erfolgte mathematisch begründet wohl erstmalig <strong>in</strong> der Philosophenschule<br />

der Pythagoräer. Als erstes ist das System des<br />

Philolaos (ca. 450 v. Chr.) überliefert. Damals wurden nicht<br />

Frequenzverhältnisse sondern Verhältnisse von Saitenlängen<br />

betrachtet. Da aber bei gleichen Saitenspannungen (, was z.B.<br />

durch gleiche Zuggewichte sichergestellt werden kann,) die<br />

Schw<strong>in</strong>gungsfrequenz e<strong>in</strong>er Saite umgekehrt proportional zur<br />

Saitenlänge ist, ergibt sich e<strong>in</strong> Quotient f2/f1 zweier Schw<strong>in</strong>gungsfrequenzen<br />

als Kehrwert des Quotienten der zugehörigen<br />

Saitenlängen l2 : l1, d.h. es gilt f2 : f1 = l1 : l2. Beide<br />

Masssysteme s<strong>in</strong>d damit völlig gleichwertig. Aufgrund der<br />

größeren Anschaulichkeit und dem näheren Bezug zu Physik<br />

werden hier Intervalle ausschließlich durch Frequenzverhältnisse<br />

ausgedrückt. Für Saitenlängen–Verhältnisse (oder auch<br />

Rohrlängen–Verhältnisse bei Blas<strong>in</strong>strumenten) gelten deren<br />

Kehrwerte.<br />

2


Philolaos unterteilt die als natürliches Ur–Intervall erkannte<br />

Oktave (f2 =2f1) zunächst gemäß dem arithmetischen Mittel<br />

der Frequenzen<br />

1<br />

2 (f1 +2f1) = 3<br />

2 f1 = f2 ⇒ f2 : f1 =3:2 Qu<strong>in</strong>te<br />

und erhält dadurch die Qu<strong>in</strong>te. Ebenso wird das harmonische<br />

Mittel, das als der Kehrwert des arithmetischen Mittels der<br />

Kehrwerte def<strong>in</strong>iert ist, aus dem Oktav<strong>in</strong>tervall gebildet:<br />

1<br />

� � =<br />

1 1 1<br />

2 + f1 2f1<br />

4<br />

3 f1 = f2 ⇒ f2 : f1 =4:3 Quarte.<br />

Es entsteht damit die Quarte zum Grundton. (Dem harmonischen<br />

Mittel zweier Schw<strong>in</strong>gungsfrequenzen entspricht das<br />

arithmetische Mittel der zugehörigen Saitenlängen und umgekehrt.)<br />

Der Abstand (d.h. der Quotient der Frequenzen)<br />

zwischen Qu<strong>in</strong>te und Quarte wird als Ganzton def<strong>in</strong>iert:<br />

3<br />

2 f0 : 4<br />

3 f0 = 9<br />

8 ⇒ f2 : f1 = 9 : 8 Ganzton.<br />

Damit teilt sich die Quarte <strong>in</strong> 2 Ganztöne und e<strong>in</strong>en sog.<br />

Halbton x mit,<br />

9 9 def<br />

· · x =<br />

8 8 4 256<br />

⇒ x =<br />

3 243 ⇒ f2 : f1 = 256 : 243 Halbton<br />

die Qu<strong>in</strong>te <strong>in</strong> 3 Ganztöne und diesen Halbton. Die Dur–<br />

Tonleiter ist so durch die Def<strong>in</strong>ition von Qu<strong>in</strong>te, Quarte,<br />

Ganzton, Halbton e<strong>in</strong>deutig fixiert. Im System des Philolaos<br />

ergeben sich z.B. für C–Dur die <strong>in</strong> Bild 3 dargestellten<br />

Frequenzen (bezogen auf die Frequenz f 0 des Grundtons C<br />

(= 264 Hz)).<br />

C D E F G A H c<br />

1<br />

9<br />

8<br />

9<br />

8<br />

9<br />

8<br />

81<br />

64<br />

256<br />

243<br />

4<br />

3<br />

9<br />

8<br />

3 27<br />

2 16<br />

9<br />

8<br />

9<br />

8<br />

243<br />

128<br />

256<br />

243<br />

Abbildung 3. Frequenzskala der Dur–Tonleiter nach Philolaos.<br />

Da für alle Qu<strong>in</strong>ten und Quarten die Frequenzverhältnisse<br />

3:2bzw. 4:3vorliegen, s<strong>in</strong>d somit alle Qu<strong>in</strong>ten und Quarten<br />

re<strong>in</strong> im S<strong>in</strong>ne ko<strong>in</strong>zidierender Obertöne. H<strong>in</strong>gegen entstehen<br />

die große Terzen als zwei Ganztöne mit (9/8) 2 =81/64 um<br />

den Faktor 81/80 zu groß und kl<strong>in</strong>gen damit ziemlich unre<strong>in</strong><br />

(5 : 4 = 80 : 64 < 81/64). Dieser Fehler 81/80 = 1,0125<br />

wird als das syntonische Komma <strong>in</strong> <strong>Stimmung</strong>ssystemen bezeichnet.<br />

Des Weiteren ist der Halbton weit weniger als e<strong>in</strong><br />

halber Ganzton, da gilt: (256/243) 2 =1,1099 < 1,125 = 9/8.<br />

Insgesamt führt das System des Philolaos aufgrund dieser<br />

Schwächen zu e<strong>in</strong>em ziemlich unbefriedigenden Höre<strong>in</strong>druck.<br />

B. Chromatische Erweiterung, Pythagoreisches Komma<br />

Im System des Philolaos (bzgl. Grundton C) s<strong>in</strong>d alle<br />

e<strong>in</strong>zelnen Qu<strong>in</strong>ten <strong>in</strong> der Folge F–C–G–D–A–E–H re<strong>in</strong>. Diese<br />

Töne (bzw. ihre Schw<strong>in</strong>gungsfrequenzen bzgl. e<strong>in</strong>es Bezugstons<br />

(hier F)) s<strong>in</strong>d also durch das Aufe<strong>in</strong>andertürmen von<br />

Qu<strong>in</strong>ten (und als selbstverständlich vorausgesetzten Oktavverschiebungen)<br />

vorgegeben. Dieses Pr<strong>in</strong>zip kann zur Erzeugung<br />

2<br />

weiterer Töne fortgesetzt werden, wodurch sich nährungsweise<br />

die chromatische Halbtonreihe ergibt, denn man trifft nach 12<br />

Qu<strong>in</strong>ten knapp neben den Grundton (plus 7 Oktaven):<br />

(3/2) 12 = 129,746... �= 2 7 = 128.<br />

Diese Nähe von 12 Qu<strong>in</strong>ten zu 7 Oktaven hat dazu geführt,<br />

dass die Oktave bei großzügigem H<strong>in</strong>wegsehen über den<br />

Fehler <strong>in</strong> 12 Habtonschritte unterteilt wird, also zur gewohnten<br />

chromatischen Tonreihe. Es entsteht jedoch durch fortlaufende<br />

re<strong>in</strong>e Qu<strong>in</strong>ten ke<strong>in</strong> Qu<strong>in</strong>tenzirkel, sondern e<strong>in</strong>e sich niemals<br />

schließende Qu<strong>in</strong>tenspirale, siehe Bild 4.<br />

310 /2 15 59049<br />

32768<br />

19687<br />

16284<br />

dis<br />

ais<br />

Wolfsqu<strong>in</strong>te<br />

3 11 /2 17 eis<br />

gis<br />

6561<br />

4096<br />

F 2/3<br />

cis<br />

2187<br />

2048<br />

B 16/9<br />

Es 32/27<br />

As 128/81<br />

Des<br />

his3 12 /2 19<br />

C 1<br />

g 3/2<br />

d 9/8<br />

e 81/64<br />

Ges 1024/729<br />

h 243/128<br />

fis 729/512<br />

Abbildung 4. Spirale re<strong>in</strong>er Qu<strong>in</strong>ten (reduziert um Oktaven).<br />

a 27/16<br />

Die Abweichung zwischen 12 Qu<strong>in</strong>ten und 7 Oktaven, also<br />

der Faktor (3/2)12<br />

27 = 312<br />

219 =1,013643, wird als das Pythagoreische<br />

Komma bezeichnet. Schließt man die Qu<strong>in</strong>tenspirale<br />

an e<strong>in</strong>er Stelle, z.B. zwischen es und gis zwangsweise, so<br />

wird diese Qu<strong>in</strong>te“ von 1,5 auf 1,4798 verkle<strong>in</strong>ert und damit<br />

”<br />

extrem unre<strong>in</strong>. Dies wird als Wolfsqu<strong>in</strong>te“ bezeichnet.<br />

”<br />

Auch bei vielfachen Umläufen dieser Qu<strong>in</strong>tenspirale, also<br />

der Def<strong>in</strong>ition weiterer Töne zwischen den 12 Tönen der<br />

Klaviatur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Oktave, kann der Ausgangston (bzw.<br />

Oktavverschiebungen dazu) niemals wieder erreicht werden,<br />

denn <strong>in</strong> der Qu<strong>in</strong>te steckt der Primfaktor 3, während Oktaven<br />

als Potenzen von 2 def<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d:<br />

(3/2) k �=2 ℓ bzw. 3 k �=2 ℓ+k ∀k, ℓ ∈ N.<br />

E<strong>in</strong> widerspruchsfreies musikalisches <strong>Stimmung</strong>ssystem, das<br />

über re<strong>in</strong>en Qu<strong>in</strong>ten def<strong>in</strong>iert ist, kann aufgrund der E<strong>in</strong>deutigkeit<br />

der Zerlegung von natürlichen Zahlen <strong>in</strong> Primfaktoren<br />

somit pr<strong>in</strong>zipiell nicht existieren! Auch mit der Def<strong>in</strong>ition unterschiedlicher<br />

Tonhöhen je nach enharmonischer Darstellung,<br />

also z.B. e<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen es und dis etc., wird<br />

dieses Problem nicht endgültig gelöst. Sogenannte subsemitonische<br />

Tasten<strong>in</strong>strumente mit mehrfacher Repräsentation der<br />

e<strong>in</strong>zelnen Töne <strong>in</strong>nerhalb der chromatischen Skala, mit denen<br />

<strong>in</strong> der Renaissance– und Frühbarockzeit experimentiert wurde<br />

(z.B. das sog. ” Cembalo universale“ mit 32 Tasten je Oktave)<br />

konnten letztlich ke<strong>in</strong>e befriedigende Abhilfe schaffen. Durch<br />

professionelle Musiker erfolgt bei nicht fixierter Intonation,<br />

3


also z.B. bei Streichern oder im Chorgesang, e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> kl<strong>in</strong>gende<br />

Intonation fortlaufend fließend, also mit e<strong>in</strong>er Variabilität<br />

der Höhe für identisch notierte Töne zum Ausgleich von<br />

syntonischem und Phytagoreischem Komma.<br />

C. Das <strong>Stimmung</strong>ssystem des Archytas<br />

Archytas (ca. 420–350 v. Chr.) def<strong>in</strong>ierte e<strong>in</strong>e sog. re<strong>in</strong>e<br />

<strong>Stimmung</strong> <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Tonart, die auch als diatonische<br />

<strong>Stimmung</strong> bezeichnet wird. (Sie wird auch Didymus zugeschrieben;<br />

Didymus lebte jedoch erst ca. 300 Jahre später.)<br />

Wiederentdeckt und ausführlich diskutiert wurde dieses System<br />

durch Gioseffo Zarl<strong>in</strong>o (1517–1590, Markuskantor zu<br />

Venedig), dem wohl wichtigsten Kenner und Entwickler von<br />

<strong>Stimmung</strong>ssystemen der Musikgeschichte.<br />

Im System des Archytas werden Qu<strong>in</strong>te und Quarte wie<br />

bei Philolaos über geometrisches und harmonisches Mittel aus<br />

der Oktave bestimmt. Davon abweichend werden jedoch große<br />

und kle<strong>in</strong>e Terz als arithmetische und harmonische Mittel aus<br />

der Qu<strong>in</strong>te def<strong>in</strong>iert. Damit entsprechen diese Terzen exakt der<br />

Obertonreihe, das syntonische Komma wird vermieden.<br />

�<br />

f1 + 3<br />

2 f1<br />

1<br />

�<br />

/2 = 5<br />

4 f1 = f2 ⇒ f2 : f1 =5:4große Terz<br />

� � =<br />

1 1 2<br />

2 + f1 3f1<br />

6<br />

5 f1 = f2 ⇒ f2 : f1 =6:5kle<strong>in</strong>e Terz.<br />

Es entsteht auf diese Weise die diatonische oder auch re<strong>in</strong>“<br />

”<br />

genannte Skala, für die sich am Beispiel von C–Dur ergibt,<br />

siehe Bild 5<br />

c<br />

1<br />

groß<br />

d e f<br />

g a h<br />

kle<strong>in</strong> groß kle<strong>in</strong> groß<br />

9:8 5:4 4:3 3:2 5:3 15:8 2<br />

Abbildung 5. Frequenzskala der Dur–Tonleiter nach Archytas.<br />

Die Skala zeichnet sich dadurch aus, dass die Dur–<br />

Dreiklänge auf den Stufen 1, 4 und 5 (also die Kadenz) re<strong>in</strong><br />

erkl<strong>in</strong>gen (Frequenzverhältnisse 1, 5/4, 3/2), sowie auch<br />

die Moll–Dreiklänge der Stufen 3 und 6 (1, 6/5, 3/2). Als<br />

gravierende Nachteile s<strong>in</strong>d jedoch anzumerken: Es existieren<br />

zweierlei Ganzton–Intervalle 9 : 8 und 10 : 9, was jedoch<br />

genau der Obertonreihe entspricht. Die Differenz dieser beider<br />

Ganztonschritte (Quotient der Frequenzen) entspricht dem<br />

syntonischen Komma 81/80; die Terz wird dadurch korrigiert.<br />

Außerdem ergeben zwei Halbtöne � �<br />

16 2<br />

15 =1,1378 mehr als<br />

den großen“ Ganzton<br />

” 9<br />

8 =1,125. Die kle<strong>in</strong>e Terz auf der 2.<br />

Stufe (d–f) ist mit 32<br />

27 =1,185 anstelle von 1,2 unre<strong>in</strong>. Auch<br />

die Qu<strong>in</strong>te auf der 2. Stufe (d–a) ist mit 40<br />

27 =1,4815 um das<br />

syntonische Komma verkle<strong>in</strong>ert. Der Moll–Dreiklang auf der<br />

2. Stufe (Subdom<strong>in</strong>ante <strong>in</strong> a–Moll) ist damit auch bei der sog.<br />

” re<strong>in</strong>en“ <strong>Stimmung</strong> grob unre<strong>in</strong>!<br />

Durch Verschiebung von großen“ und kle<strong>in</strong>en“ Ganztönen<br />

” ”<br />

lässt sich auch e<strong>in</strong>e diatonische, re<strong>in</strong>e“ <strong>Stimmung</strong> für die<br />

”<br />

äolische Moll–Skala erzeugen; siehe Bild 6.<br />

Dabei entsteht jedoch nun e<strong>in</strong> grob unre<strong>in</strong>er Dur–Dreiklang<br />

auf der 7. Stufe (g–Dur bzgl. des Grundtons A)! Der gravierendste<br />

Nachteil im System des Archytas ist das Fehlen<br />

c<br />

A<br />

H C d e f g a<br />

groß kle<strong>in</strong> groß groß kle<strong>in</strong><br />

1 9:8 6:5 4:3 3:2 8:5 9:5 2<br />

Abbildung 6. Frequenzskala e<strong>in</strong>er äolischen Moll–Tonleiter nach Archytas.<br />

e<strong>in</strong>er chromatischen Erweiterung. Diese wurde im Jahr 1739<br />

durch Leonhard Euler (1702–1783), e<strong>in</strong>em der bedeutendsten<br />

Mathematiker, anhand der Erkenntnis versucht, dass <strong>in</strong><br />

der natürlichen Obertonreihe der 7., 11., 13. Oberton und<br />

alle weiteren Primzahlen entsprechenden Obertöne nach unserem<br />

musikalisch harmonischen Empf<strong>in</strong>den als sehr fremd<br />

kl<strong>in</strong>gen. Diese entsprechen nämlich nicht dem harmonischen<br />

Grundkonzept der Kadenz, das über die re<strong>in</strong>en Dreiklänge<br />

wiederum unmittelbar aus der diatonischen <strong>Stimmung</strong> folgt.<br />

Deshalb legte Euler fest, dass alle Töne e<strong>in</strong>er chromatischen<br />

Tonleiter durch Frequenzen def<strong>in</strong>iert seien, die bzgl. e<strong>in</strong>er<br />

Bezugsfrequenz ausschließlich mittels der Primfaktoren 2, 3<br />

und 5 darstellbar s<strong>in</strong>d, also durch 2 α · 3 β · 5 γ mit α, β, γ ∈ N<br />

def<strong>in</strong>iert werden. Damit ergeben sich auch für alle Intervalle<br />

Frequenzverhältnisse, bei denen Zähler und Nenner mittels<br />

dieser ersten drei Primzahlen ausdrückbar s<strong>in</strong>d. Das System<br />

von Euler ist aus mathematischer Sicht gewiss ästhetisch;<br />

es erweist sich aber für die musikalische Praxis als völlig<br />

ungeeignet, da extrem unterschiedlich große Halbtonschritte<br />

auftreten.<br />

D. Die mitteltönige <strong>Stimmung</strong><br />

In der mitteltönigen <strong>Stimmung</strong>, die wohl erstmalig von<br />

Zarl<strong>in</strong>o im Jahr 1539 vorgeschlagen wurde, wird das Problem<br />

der um das syntonische Komma zu großen Terzen im System<br />

des Philolaos auf Kosten zu kle<strong>in</strong>er Qu<strong>in</strong>ten gelöst. Da vier<br />

Qu<strong>in</strong>ten e<strong>in</strong>e große Terz (+ zwei Oktaven) ergeben, siehe Bild<br />

4, wird <strong>in</strong> der mitteltönigen <strong>Stimmung</strong> die Qu<strong>in</strong>te um den<br />

Faktor 4� 80/81 zu qm = 4� 80/81 · 3:2=1,495348 < 1,5<br />

verkle<strong>in</strong>ert.<br />

Der Fehler für die Qu<strong>in</strong>te ist also auf nur e<strong>in</strong> Viertel des syntonischen<br />

Kommas verr<strong>in</strong>gert, weshalb bei der mitteltönigen<br />

<strong>Stimmung</strong> die Dreiklänge der Kadenz als wesentlich angenehmer<br />

empfunden werden als im System des Philolaos. Jedoch<br />

ergeben 12 mitteltönige Qu<strong>in</strong>ten weniger als 7 Oktaven, da<br />

gilt:<br />

�<br />

3<br />

2 ·<br />

� � �<br />

1/4<br />

12<br />

80<br />

=<br />

81<br />

� �12 3<br />

·<br />

2<br />

� �3 80<br />

= 125 < 128 = 2<br />

81<br />

7 .<br />

Hier entsteht also e<strong>in</strong>e Qu<strong>in</strong>tenspirale nach <strong>in</strong>nen mit e<strong>in</strong>er<br />

noch gravierenderen Wolfsqu<strong>in</strong>te als im System des Philolaos.<br />

Aber solange Wolfsqu<strong>in</strong>ten vermieden werden erzeugt die<br />

mitteltönige <strong>Stimmung</strong> e<strong>in</strong> heute seltsam weich anmutendes<br />

Klangbild, das sich <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Alten Musik effektvoll<br />

e<strong>in</strong>setzen lässt. Die mitteltönige <strong>Stimmung</strong> wurde <strong>in</strong><br />

Deutschland <strong>in</strong>sbesondere durch Michael Praetorius (1571–<br />

1621) propagiert und fand zeitweise große Verbreitung. (In<br />

England gibt es angeblich heute noch Kirchenorgeln, die<br />

gemäß der mitteltönigen <strong>Stimmung</strong> <strong>in</strong>toniert s<strong>in</strong>d.)<br />

4


E. Die gleichschwebende <strong>Stimmung</strong><br />

Um den Qu<strong>in</strong>tenzirkel bei 7 Oktaven exakt zu schließen,<br />

liegt es nahe, e<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition der Qu<strong>in</strong>te gemäß<br />

q 12 =2 7 � √ �7 12<br />

⇒ q = 2 =1,4983071 < 3/2<br />

vorzunehmen. Dies entspricht zugleich e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>teilung der<br />

Oktave <strong>in</strong> 12 gleiche Halbtöne zu je p = 12√ 2=1,05946.<br />

Die Fehler von syntonischem und Pythagoreischem Komma<br />

werden gleichmäßig auf alle Intervalle verteilt. Diese<br />

als gleichschwebend bezeichnete <strong>Stimmung</strong> wurde erstmalig<br />

ebenfalls durch Gioseffo Zarl<strong>in</strong>o <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Sopplimenti musi-<br />

”<br />

cali“ von 1588 vorgeschlagen. In diesem <strong>Stimmung</strong>ssystem ist<br />

jedoch ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Intervall außer der Oktave wirklich re<strong>in</strong>!<br />

Die Frequenzverhältnisse s<strong>in</strong>d sogar alle irrational und damit<br />

grundsätzlich <strong>in</strong>kommensurabel. Die ästhetischen Ansprüche<br />

der alten Philosophen werden damit <strong>in</strong> krassester Weise verfehlt.<br />

Aus mathematischer Sicht ist jedoch die gleichschwebende<br />

<strong>Stimmung</strong> als <strong>in</strong>teressant zu bezeichnen, da bei Def<strong>in</strong>ition<br />

e<strong>in</strong>er Identität von Tönen bzgl. Oktavverschiebungen die 12<br />

Halbtöne der Oktave die höchst ästhetische Struktur e<strong>in</strong>er<br />

mathematischen Gruppe G mit 12 Elementen bilden, wobei<br />

als die Verknüpfung zwischen Elementen die Intervallbildung<br />

I dient:<br />

I = p a ◦ p b def<br />

=<br />

(a−b)mod12<br />

p ∈ G;<br />

a,b ∈{0, 1,...,11} ,p= 12√ wurden neben den bereits erwähnten unüberschaubar viele<br />

weitere Kompromisse vorgeschlagen, um dieses grundsätzliche<br />

Problem so gut wie möglich vor Musikern und Musikgenießern<br />

zu verbergen.<br />

Neben zahlreichen großen Mathematikern und Physikern<br />

wie Euler, Kepler oder Huygens haben sich auch viele<br />

berühmte Instrumentenmacher <strong>in</strong>tensiv mit diesem Problem<br />

beschäftigt. So s<strong>in</strong>d m<strong>in</strong>destens 5 Vorschläge aus der Orgelbauerfamilie<br />

Silbermann und zahlreiche weitere Vorschläge<br />

von Vorgängern, Zeitgenossen und Schülern von Johann Seb.<br />

Bach bekannt. Zum Beispiel hat alle<strong>in</strong> der Musiker und<br />

Musiktheoretiker Andreas Werckmeister (1645–1706) m<strong>in</strong>destens<br />

7 unterschiedliche <strong>Stimmung</strong>ssysteme entwickelt. In der<br />

Barockzeit war also das grundsätzliche <strong>Stimmung</strong>sproblem<br />

allgeme<strong>in</strong> bekannt und e<strong>in</strong> unter Musikern viel diskutiertes<br />

Thema. Leider ist nicht überliefert, welchem dieser vielen<br />

<strong>Stimmung</strong>ssysteme Johann Seb. Bach den Vorzug gegeben hat,<br />

die Zeugnisse se<strong>in</strong>er Schüler widersprechen sich hierzu. Die<br />

Komposition der beiden Bände des wohltemperirten Claviers“<br />

”<br />

von J.S. Bach hat aber sicherlich nicht dazu gedient, e<strong>in</strong><br />

neues, umfassendes und rund um den Qu<strong>in</strong>tenzirkel gleichermaßen<br />

e<strong>in</strong>setzbares <strong>Stimmung</strong>ssystem zu propagieren, sondern<br />

es ist eher als e<strong>in</strong> Kompendium von Referenzstücken zu<br />

verstehen, anhand dessen unterschiedliche <strong>Stimmung</strong>ssysteme<br />

verglichen werden können. Nach Ansicht des Autors ist das<br />

2.<br />

”<br />

In mathematischen Gruppen herrscht e<strong>in</strong>e hohe Symmetrie.<br />

Ausgehend von e<strong>in</strong>em Element s<strong>in</strong>d die Beziehungen zu<br />

allen anderen Elementen unabhängig vom Ausgangselement<br />

jeweils gleich. Intervalle s<strong>in</strong>d hier somit <strong>in</strong> allen Tonarten<br />

völlig identisch. Die verschiedenen Tonarten verlieren dadurch<br />

jedoch gänzlich ihre musikalischen Eigenarten und speziellen<br />

Ausdrucksmöglichkeiten. Die gleichschwebende <strong>Stimmung</strong>,<br />

die heute allen elektronischen Stimmgeräten zugrunde liegt<br />

und bei Tasten<strong>in</strong>strumenten verwendet wird, ist nicht zu verwechseln<br />

mit e<strong>in</strong>er sog. wohltemperierten“ <strong>Stimmung</strong>. Sie<br />

”<br />

ist im Gegenteil eher als kalt und unpersönlich zu charakterisieren.<br />

In der musikalischen Praxis wird auch von der<br />

gleichschwebenden <strong>Stimmung</strong> <strong>in</strong>tuitiv abgewichen, sobald die<br />

Möglichkeit für e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Fe<strong>in</strong><strong>in</strong>tonation besteht, wie<br />

bei Sängern, Streichern und Bläsern. Bei guten Interpreten<br />

entsteht e<strong>in</strong>e variable <strong>Stimmung</strong>, die sich jeweils an der<br />

aktuellen diatonischen Reihe mit möglichst re<strong>in</strong>en Qu<strong>in</strong>ten,<br />

Quarten und Terzen orientiert.<br />

F. Weitere Stimmsysteme<br />

Die Def<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong>es widerspruchsfreien musikalischen<br />

<strong>Stimmung</strong>ssystems ist aus folgendem Grund pr<strong>in</strong>zipiell<br />

unmöglich: Aus dem logarithmischen Zusammenhang zwischen<br />

Schw<strong>in</strong>gungsfrequenz und Tonhöhenempf<strong>in</strong>dung entsprechen<br />

Tonhöhenschritten Multiplikationen von Frequenzverhältnissen,<br />

während <strong>in</strong> der Obertonreihe der Fourier–<br />

Analyse jeweils die Grundfrequenz zu addieren ist, um den<br />

nächsten Oberton zu erreichen. Im Laufe der Musikgeschichte<br />

wohltemperirte Clavier“ damit also als e<strong>in</strong>e Art ” Benchmark–<br />

Test“ zum Vergleich von verschiedenen <strong>Stimmung</strong>ssystemen<br />

(, wie man Benchmark–Software für den Leistungsvergleich<br />

bei Computern e<strong>in</strong>setzt). Da die gleichschwebende <strong>Stimmung</strong><br />

bereits lange vor Werckmeister und Bach etc. bekannt war,<br />

darf man wohl mit hoher Gewissheit annehmen, dass diese<br />

für die Barockmeister und auch für spätere Musiker ke<strong>in</strong>e<br />

akzeptable Lösung darstellte. Man strebte e<strong>in</strong>e wärmere, d.h.<br />

” temperierte“ <strong>Stimmung</strong> mit Beibehaltung von Eigenarten<br />

der verschiedenen Tonarten an. Richard Wagner hat wohl<br />

h<strong>in</strong>sichtlich des E<strong>in</strong>satzes von Tonarten mit unterschiedlichen<br />

charakteristischen Färbungen als höchst effektvolles Stilmittel<br />

später die höchste Meisterschaft erreicht.<br />

Üblicherweise werden heute <strong>Stimmung</strong>ssysteme anhand ihrer<br />

Abweichung von der gleichschwebenden <strong>Stimmung</strong> charakterisiert,<br />

wobei als logarithmisches Maß für die Tonhöhe<br />

der hundertste Teil, e<strong>in</strong> Cent, e<strong>in</strong>es Halbtonschrittes der gleichschwebenden<br />

<strong>Stimmung</strong> verwendet wird:<br />

� �<br />

Tonhöhe = 1200 · log2 f/fBezug [Cent] .<br />

Der Oktave entsprechen somit 1200 Cent, der Quarte 700<br />

Cent. In Bild 7 wird die Abweichung mehrerer <strong>Stimmung</strong>ssysteme<br />

von der gleichschwebenden <strong>Stimmung</strong> <strong>in</strong> Cent für<br />

alle Töne der chromatischen Reihe dargestellt, wobei auch<br />

e<strong>in</strong>e Rekonstruktion“ der von Bach bevorzugten <strong>Stimmung</strong><br />

”<br />

gemäß Angaben von Schülern enthalten ist. Diese darf jedoch<br />

ke<strong>in</strong>eswegs als gesichert betrachtet werden.<br />

IV. ZUSAMMENFASSUNG<br />

In diesem Beitrag wurde versucht zu zeigen, dass<br />

musikalisch–ästhetisches Empf<strong>in</strong>den und mathematische Analyse<br />

<strong>in</strong> sehr enger Beziehung stehen, was übrigens auch für<br />

5


Philolaos<br />

mitteltönig<br />

Werckmeister III<br />

Silbermann II<br />

������<br />

Archytas<br />

Euler<br />

+ 30<br />

0<br />

-30<br />

0<br />

0<br />

0<br />

0<br />

0<br />

13,7<br />

-24<br />

-10<br />

-14<br />

-8<br />

3,91<br />

-6,8<br />

-8<br />

-4<br />

0<br />

-5,87<br />

10,3<br />

-6<br />

6<br />

-4<br />

7,82<br />

-13,7<br />

Abbildung 7. <strong>Stimmung</strong>ssysteme im Vergleich zur gleichschwebenden <strong>Stimmung</strong>.<br />

andere Kunstformen <strong>in</strong> gleicher Weise gilt. E<strong>in</strong>e Beschäftigung<br />

mit der Mathematik, die h<strong>in</strong>ter unseren musikalischen<br />

Hörgewohnheiten steckt, lohnt sich nicht nur aus generellem<br />

Interesse, sondern kann nach Erfahrung des Verfassers auch<br />

zu e<strong>in</strong>em gesteigerten Musikgenuss verhelfen.<br />

Die musikalischen Intervalle entsprechen rationalen Frequenzverhältnissen<br />

mit möglichst kle<strong>in</strong>en ganzen Zahlen <strong>in</strong><br />

Zähler und Nenner. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Obertonreihe, also der<br />

Folge von Schw<strong>in</strong>gungsfrequenzen, die sich aus der Fourier–<br />

Analyse periodischer Zeitverläufe bzw. direkt als Naturtonreihe<br />

von (Blech–)Blas<strong>in</strong>strumenten ergibt, auf natürliche Weise<br />

enthalten. Die E<strong>in</strong>deutigkeit der Zerlegung von natürlichen<br />

Zahlen <strong>in</strong> Primfaktoren lässt aber pr<strong>in</strong>zipiell nicht zu, dass<br />

mehrere aufe<strong>in</strong>ander gestellte gleiche Intervalle, die selbst<br />

ke<strong>in</strong>e Oktaven darstellen, sich zu Oktaven addieren. Somit<br />

können widerspruchsfreie musikalische <strong>Stimmung</strong>ssysteme,<br />

bei denen mehr als e<strong>in</strong>e Tonhöhe je Oktave zugelassen<br />

s<strong>in</strong>d, pr<strong>in</strong>zipiell nicht existieren. Die übliche Unterteilung der<br />

Oktave <strong>in</strong> 12 Halbtöne erfolgt daraus, dass sich 12 re<strong>in</strong>e<br />

Qu<strong>in</strong>ten relativ nahe zu 7 Oktaven ergeben und dadurch im<br />

sog. Qu<strong>in</strong>tenzirkel, der jedoch eigentlich e<strong>in</strong>e Spirale darstellt,<br />

zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> sehr grober Näherung e<strong>in</strong> ” abgeschlossenes System“<br />

entsteht.<br />

Im Laufe der Musikgeschichte wurde auf vielfältige Weise<br />

versucht, zu Kompromissen zu gelangen, die jeweils mit<br />

deutlich unterschiedlichen klanglichen Eigenheiten verbunden<br />

s<strong>in</strong>d. Die heute meist als selbstverständlich vorausgesetzte<br />

gleichschwebende <strong>Stimmung</strong> trifft dabei jedoch nicht die<br />

Klangvorstellungen von Musikern früherer Epochen. Sie stellt<br />

nach Me<strong>in</strong>ung des Verfassers e<strong>in</strong>e Verarmung bzgl. des musikalischen<br />

Empf<strong>in</strong>dens dar, da die unterschiedlichen Charakte-<br />

0<br />

0<br />

-29<br />

3,9<br />

3,9<br />

-25<br />

-10<br />

-8<br />

-10<br />

-14<br />

-14<br />

-1,96<br />

3,4<br />

-2<br />

2<br />

0<br />

-2<br />

-2<br />

11,7<br />

-20,5<br />

-12<br />

-12<br />

-10<br />

-10<br />

1,96<br />

-3,4<br />

-4<br />

-2<br />

0<br />

2<br />

2<br />

15,6<br />

-27,4<br />

-8<br />

-16<br />

-6<br />

-17<br />

5,87<br />

-10,3<br />

-12<br />

-6<br />

-5<br />

-13<br />

-3,91<br />

6,8<br />

-4<br />

4<br />

-2<br />

-13 -13<br />

9,78<br />

-17,1<br />

-8<br />

-10<br />

-10<br />

0<br />

0<br />

0<br />

0<br />

0<br />

1 0<br />

c cis d es e f fis g gis a b h ��<br />

ristika verschiedener Tonarten verloren s<strong>in</strong>d. Im Rahmen der<br />

heute populären Historischen Aufführungspraxis s<strong>in</strong>d daher<br />

nicht nur Tempi und Klangfarben von Instrumenten an alten<br />

Idealen auszurichten, sondern es ist auch <strong>in</strong>sbesondere das<br />

ursprünglich verwendete <strong>Stimmung</strong>ssystem e<strong>in</strong>zusetzen, um<br />

dem Orig<strong>in</strong>alklang möglichst nahe zu kommen.<br />

LITERATUR<br />

[1] G. Assayag, H.G. Feicht<strong>in</strong>ger, J.F. Rodrigues: Mathematics and Music<br />

– A Diderot Mathematical Forum; Spr<strong>in</strong>ger–Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg<br />

2002<br />

[2] Knut Radbruch: Mathematik <strong>in</strong> den Geisteswissenschaften, Vandenhoeck<br />

u. Ruprecht, Gött<strong>in</strong>gen, 1989, (Kle<strong>in</strong>e Vandenhoeck–Reihe: 1540)<br />

[3] Ambros P. Speiser: Musikalische Akustik; VCH Verlagsgesellschaft<br />

mbH, We<strong>in</strong>heim; Physik <strong>in</strong> unserer Zeit, 20. Jahrgang 1989, Nr. 5, S.<br />

138–143<br />

Johannes B. Huber ist Professor für Nachrichtentechnik<br />

an der Friedrich–Alexander–Universität<br />

Erlangen–Nürnberg und leitet dort den Lehrstuhl für<br />

Informationsübertagung (www.LNT.de/LIT). Musikalisch<br />

ist er als Amateur aktiv.<br />

1<br />

0<br />

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