Klangzentren und Tonalität - Musiktheorie / Musikanalyse ...
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<strong>Klangzentren</strong> <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong><br />
Über die Bedeutung der Zentralklänge in der<br />
Musik des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
Dieter Kleinrath<br />
Betreuer: Univ. Prof. Dr. phil. Christian Utz<br />
Juni 2010<br />
Masterarbeit der Studienrichtung <strong>Musiktheorie</strong> (V 066 702)<br />
am Institut für Komposition, <strong>Musiktheorie</strong>, Musikgeschichte <strong>und</strong> Dirigieren<br />
Kunstuniversität Graz
meinen Eltern
ABSTRACT<br />
„<strong>Tonalität</strong>“ ist ein vielschichtiger <strong>und</strong> mehrdeutiger Terminus, der in der Musikgeschichte<br />
mehrere Veränderungen erfahren hat. Als wesentliche Bedingung der<br />
europäischen Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> wird meist ein Zentralklang – die Tonika – angegeben,<br />
auf den sich die übrigen Harmonien beziehen. Die Tonika erfüllt dabei die<br />
Funktion der formalen Gliederung <strong>und</strong> sorgt als harmonischer Ruhepunkt für das<br />
Gefühl der Abgeschlossenheit eines Werkes. 1927 führt Hermann Erpf den Begriff<br />
„Klangzentrum“ ein, um damit eine Kompositionstechnik atontaler Musik zu bezeichnen,<br />
in der ein Klang als zentraler Bezugspunkt eine vergleichbare Funktion erfüllt wie<br />
die Tonika dur-moll-tonaler Musik. Die vorliegende Arbeit untersucht zunächst den<br />
Begriff „<strong>Tonalität</strong>“ in seiner historischen Entwicklung <strong>und</strong> stellt anschließend Erpfs<br />
Begriff des Klangzentrums der dur-moll-tonalen Tonika gegenüber. Die vordergründigen<br />
Fragestellungen sind dabei, ob sich dur-moll-tonale Musik tatsächlich aus Sicht<br />
eines einzelnen Zentralklangs beschreiben lässt <strong>und</strong> in wie weit Erpfs „Technik des<br />
Klangzentrums“ als Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien angesehen werden kann.<br />
Abschließend werden die <strong>Klangzentren</strong> dur-moll-tonaler Musik unter anderem an den<br />
Beispielen Richard Wagners (Tristan-Vorspiel, Parsifal-Vorspiel 3. Akt) <strong>und</strong> Arnold<br />
Schönbergs (Verklärte Nacht op. 4, Kammersymphonie op. 9) diskutiert.<br />
*<br />
„Tonality“ is an ambiguous term that changed its meaning multiple times throughout<br />
the course of music history. Most of the time the main characteristic for European<br />
major-minor tonality is said to be the unifying so<strong>und</strong> of the tonic, that serves as the<br />
point of reference for the other so<strong>und</strong>s. The function of the tonic is to produce formal<br />
structure and closure by providing a resting point for the harmonic progressions. In<br />
1927 Hermann Erpf defined the term „Klangzentrum“ (central so<strong>und</strong>) to analyze atonal<br />
music that exposes a central so<strong>und</strong> which serves the same function as the tonic in majorminor<br />
tonality. This article examines the historic development of the term „tonality” and<br />
compares Erpf’s „Klangzentrum“ with the tonic of major-minor tonality. The questions<br />
to be answered are, if it is actually possible to describe major-minor-tonality with a<br />
single unifying so<strong>und</strong> and, if Erpf’s „Klangzentrum“ may be considered a continuation<br />
of tonal principles in 20 th century music. Finally I will discuss the central so<strong>und</strong>s of<br />
major-minor tonality by examples of Richard Wagner (preludes to Tristan and Parsifal<br />
3rd act) and Arnold Schoenberg (Verklärte Nacht op. 4, chamber symphony op. 9).
INHALTSVERZEICHNIS<br />
EINLEITUNG 1<br />
I. ÜBER DEN BEGRIFF „TONALITÄT“ 6<br />
1.1 Begriffsbildung im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert 6<br />
1.2 François-Joseph Fétis 8<br />
1.3 <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Tonart im deutschsprachigen Raum 16<br />
1.4 Hauptmann – Helmholtz – Oettingen 27<br />
1.5 Riemann <strong>und</strong> Schenker 33<br />
1.6 Die Auflösung der <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Arnold Schönberg 38<br />
1.7 Der <strong>Tonalität</strong>sbegriff im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert 44<br />
1.8 Der Begriff des „Klangzentrums“ bei Erpf <strong>und</strong> Lissa 55<br />
1.9 Schlussfolgerungen 68<br />
II. ANALYTISCHE KONSEQUENZEN 75<br />
2.1 <strong>Klangzentren</strong> der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> 75<br />
2.2 Richard Wagner: Einleitung zu Tristan <strong>und</strong> Isolde 89<br />
2.3 Richard Wagner: Parsifal, Vorspiel zum dritten Akt 100<br />
2.4 Arnold Schonbergs Frühwerk 116<br />
SCHLUSSWORT 124<br />
QUELLENVERZEICHNIS 128<br />
ABBILDUNGSVERZEICHNIS 135<br />
ANHANG 137<br />
a) Weiterführende Literatur 137<br />
b) Sonstiges 139
DANKSAGUNG<br />
Mein besonderer Dank gilt Univ. Professor Dr. Christian Utz für seine w<strong>und</strong>erbare <strong>und</strong><br />
selbstlose Betreuung während des Studiums <strong>und</strong> während der Erstellung der vorliegenden<br />
Arbeit. Ohne seine fachliche Präzision <strong>und</strong> Kompetenz sowie seine ausgewogene<br />
Kritik, wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen.<br />
Weiters bedanke ich mich bei Univ. Professor Clemens Gadenstätter für sein künstlerisch-kreatives<br />
Feedback während der Studienzeit <strong>und</strong> die unkonventionelle Sichtweise<br />
auf musikalischer Probleme, die er mir beigebracht hat.<br />
Schließlich gilt mein Dank auch dem gesamten Institut für Komposition, <strong>Musiktheorie</strong>,<br />
Musikgeschichte <strong>und</strong> Dirigieren für die fortwährende Unterstützung <strong>und</strong> das angenehm<br />
fre<strong>und</strong>schaftliche Klima während des Studiums, das mir immer gerne in Erinnerung<br />
bleiben wird.<br />
ii
„Die Wege der Harmonie sind verschlungen; führen kreuz <strong>und</strong> quer; nähern sich einem<br />
Ausgangspunkt <strong>und</strong> entfernen sich von ihm immer wieder; führen irre, indem sie einem<br />
anderen Punkt eine augenblickliche Bedeutung verleihen, die sie ihm bald darauf wieder<br />
nehmen; erzeugen Höhepunkte, die sie zu übertreffen wissen; rufen Wellenberge<br />
hervor, die verebben, ohne dass die Welle zum Stillstand kommt.“ 1<br />
1 Arnold Schönberg, Der musikalische Gedanke <strong>und</strong> die Kunst, Logik <strong>und</strong> Technik seiner Darstellung<br />
[1934], http://www.schoenberg.at (1.6.2010), S. 203.<br />
iii
EINLEITUNG<br />
Der Begriff <strong>Tonalität</strong> gehört seit seinem Aufkommen zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts 2<br />
wohl zu den am häufigsten verwendeten <strong>und</strong> zugleich ambivalentesten Termini der<br />
<strong>Musiktheorie</strong>. Carl Dahlhaus schreibt diesbezüglich: „Der Terminus <strong>Tonalität</strong> ist<br />
vieldeutig, <strong>und</strong> [...] es [dürfte] vergeblich sein, eine Norm des Wortgebrauchs festsetzen<br />
zu wollen.“ 3 Das Verständnis von <strong>Tonalität</strong> hat im Laufe der Musikgeschichte viele<br />
Wandlungen erfahren. Unterschiedliche Autoren hoben dabei jeweils unterschiedliche<br />
Aspekte tonaler Musik hervor <strong>und</strong> es entwickelte sich so eine Begriffsvielfalt, die in<br />
ihrer ganzen Komplexität heute kaum überschaubar ist. Insbesondere sind dabei zwei<br />
Definitionsbereiche zu unterscheiden: 4<br />
(1) die skalenbezogene Definition von <strong>Tonalität</strong> als die Beziehungen zwischen den<br />
Tönen einer Skala;<br />
(2) die akkordbezogene Definition von <strong>Tonalität</strong> als die Beziehungen der Harmonien<br />
auf einen Zentralklang, die Tonika.<br />
Diese beiden Definitionen stehen sich jedoch keineswegs diametral gegenüber, sondern<br />
sie ergänzen <strong>und</strong> bedingen sich gegenseitig. So ist auch bei den meisten skalenbezogenen<br />
Definitionen durchaus die I. Stufe als ein Zentralton gegeben. Brian Hyer stellt<br />
fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff <strong>Tonalität</strong> auseinander setzt, der einen<br />
oder anderen Tradition zugewiesen oder als ein Hybrid beider Auffassungen angesehen<br />
werden kann. Die beiden musiktheoretischen Hauptströmungen innerhalb dieser Traditionen<br />
sind laut Hyer die Stufentheorie von Gottfried Weber <strong>und</strong> Heinrich Schenker<br />
(skalenbezogen) auf der einen Seite sowie Hugo Riemanns Funktionstheorie (akkordbezogen)<br />
auf der anderen Seite. 5<br />
François-Joseph Fétis verstand unter „tonalité“ 1844 noch primär die „Zusammenstellung<br />
der notwendigen Beziehungen simultan oder sukzessiv angeordneter Tonleiter-<br />
2<br />
Nach heutiger Kenntnis findet sich der erste Beleg für den Begriff bei A. É. Choron in seiner 1810<br />
erschienenen Sommaire de l’histoire de la musique. Vgl. Michael Beiche, <strong>Tonalität</strong>, in: Handwörterbuch<br />
der musikalischen Terminologie, Stuttgart: Steiner 1999, S. 2.<br />
3<br />
Carl Dahlhaus, <strong>Tonalität</strong>, in: Die Musik in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der<br />
Musik, Kassel: Bärenreiter 1989, S. 623.<br />
4<br />
Vgl. ebda.; Brian Hyer Tonality, in: Grove Music Online, http://www.oxfordmusiconline.com<br />
(1.6.2010).<br />
5<br />
Hyer, Tonality.<br />
1
töne“ 6 <strong>und</strong> fasst dabei die für eine <strong>Tonalität</strong> unabdingbaren Skalen <strong>und</strong> Tonsysteme 7<br />
„nicht als natürliche Gegebenheit auf, sondern begründet sie anthropologisch als auf<br />
geschichtlichen <strong>und</strong> ethnischen Voraussetzungen beruhend.“ 8 Fétis unterscheidet dem<br />
entsprechend noch zwischen unterschiedlichen „types de tonalités“, von denen die<br />
„tonalité moderne“ – die harmonische <strong>Tonalität</strong> des 17. bis 19. Jahrh<strong>und</strong>erts 9 – eine<br />
Möglichkeit sei. 10 Dabei hebt Fétis die Bedeutung der Dominante <strong>und</strong> ihrer Auflösung<br />
in die I. Stufe als konstitutive Momente der „tonalité moderne“ besonders hervor <strong>und</strong><br />
trägt so entschieden zu der mehrdeutigen Verwendung des Begriffs bei. Fast alle weiteren<br />
Auseinandersetzungen mit dem Begriff beziehen sich später in der einen oder<br />
anderen Weise auf Fétis’ <strong>Tonalität</strong>sbegriff. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
wird der Begriff vorwiegend auf die europäische Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> angewendet 11 <strong>und</strong><br />
erfährt dabei unterschiedliche Erweiterungen. Die Skala als Gr<strong>und</strong>bedingung von<br />
<strong>Tonalität</strong> wird dabei auf die diatonischen Dur- <strong>und</strong> Moll-Skalen eingeschränkt <strong>und</strong> die I.<br />
Stufe der Tonleiter gewinnt als zentraler Bezugston oder -akkord eine zunehmende<br />
Bedeutung. Insbesondere im romanischen <strong>und</strong> angelsächsischen Sprachbereich wird der<br />
Begriff zuweilen auch als Synonym für den Begriff Tonart verwendet. 12<br />
Eine weitreichende Uminterpretation erfährt der Begriff <strong>Tonalität</strong> seit den 1870er<br />
Jahren durch Hugo Riemann, der darunter die „Bezogenheit [der Akkorde] auf einen<br />
Hauptklang, die Tonika“ versteht. 13 Nachdem für Riemann die Bedeutung der Akkorde<br />
in deren Funktionen ausgedrückt wird, ist für ihn <strong>Tonalität</strong> der „Inbegriff der Akkordfunktionen“.<br />
14 Zudem war Riemann im Gegensatz zu Fétis davon überzeugt, „daß die<br />
‚types de tonalités‘ auf ein einziges ‚natürliches System‘ [...] reduzierbar seien.“ 15 Diese<br />
Riemanns <strong>Tonalität</strong>sbegriff anhaftende Naturbezogenheit führte in der Musikwissenschaft<br />
zu kontroversen Diskussionen <strong>und</strong> wurde laut Carl Dahlhaus „von Historikern<br />
6<br />
Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 3f.<br />
7<br />
Vgl. ebda., S. 5<br />
8<br />
Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“. Die Ambivalenz der <strong>Tonalität</strong> in Werk <strong>und</strong><br />
Lehre Arnold Schönbergs, Mainz: Schott 2008, S. 72; Vgl. Carl Dahlhaus, Untersuchungen über die<br />
Entstehung der harmonischen <strong>Tonalität</strong>, Kassel: Bärenreiter 1988, S. 1 0.<br />
9<br />
Vgl. Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10.<br />
10<br />
Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 5.<br />
11<br />
Vgl. ebda., S. 6.<br />
12<br />
Vgl. ebda., S. 7f.<br />
13<br />
Hugo Riemann, <strong>Tonalität</strong>, in: Hugo Riemann Musik-Lexikon. Sachteil [Leipzig: Bibliographisches<br />
Institut, 1882], Mainz 1967, S. 923f.<br />
14<br />
Dahlhaus, Untersuchungen, S. 9.<br />
15 Ebda., S. 7.<br />
2
<strong>und</strong> Ethnologen, die den Systemzwang scheuten, als empirisch unbegründbares Dogma<br />
verworfen.“ 16<br />
Im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert setzten sich auch einige Komponisten in ihren Lehrwerken mit dem<br />
Begriff <strong>Tonalität</strong> auseinander, wie beispielsweise Arnold Schönberg in seiner Harmonielehre<br />
(1911) <strong>und</strong> Paul Hindemith in seiner Unterweisung im Tonsatz (1939). Schönberg<br />
verwendet den Begriff dabei in einer ambivalenten Weise, die leicht zu Missverständnissen<br />
<strong>und</strong> Fehlinterpretationen führen kann. Während der Begriff <strong>Tonalität</strong> bis<br />
dahin hauptsächlich unter systematischen <strong>und</strong> historischen Gesichtspunkten verstanden<br />
wurde, wird er von Schönberg auch als eine „formale Möglichkeit“ 17 beschrieben, von<br />
der ein Komponist Gebrauch machen kann oder auch nicht. 18 <strong>Tonalität</strong> wird damit<br />
gewissermaßen auf eine Kompositionstechnik, einen handwerklichen Kniff, reduziert.<br />
Damit stellt sich Schönberg entschieden gegen naturalistische <strong>und</strong> evolutionistische<br />
Theorien, die davon ausgehen, dass <strong>Tonalität</strong> das natürliche Ergebnis einer historischen<br />
Entwicklung sei. Bei der Bewertung von Schönbergs <strong>Tonalität</strong>sbegriff muss allerdings<br />
berücksichtigt werden, dass Schönberg wenig daran lag, den Begriff aus Sicht der<br />
<strong>Musiktheorie</strong> zu differenzieren. Vielmehr nutzte er ihn vorrangig, um seine eigene<br />
Musik zu legitimieren <strong>und</strong> seinen Schülern einen künstlerisch freien Zugang zur<br />
Kompositionstechnik zu ermöglichen. Dabei verwendet Schönberg in seinen Analysen<br />
dur-moll-tonaler Musik gerne Begriffe wie „schwebende <strong>Tonalität</strong>“, „erweiterte <strong>Tonalität</strong>“<br />
oder „aufgelöste <strong>Tonalität</strong>“ <strong>und</strong> trug damit entschieden zu der Vorstellung bei, die<br />
<strong>Tonalität</strong> hätte sich mit der Musik der Wiener Schule „aufgelöst“. Damit hat Schönberg<br />
(bewusst oder unbewusst) auch eine Polarisierung der Musik nach 1910 heraufbeschworen.<br />
Komponisten, die nach wie vor dur-moll-tonale Musik schrieben, wurden in weiterer<br />
Folge oft als konventionell <strong>und</strong> regressiv abgestempelt.<br />
Nachfolgende Musiktheoretiker hatten es unter diesen Voraussetzungen schwer den<br />
<strong>Tonalität</strong>sbegriff neutral <strong>und</strong> werturteilsfrei weiterzudenken. Dies mag einer der Gründe<br />
dafür gewesen sein, weshalb Hermann Erpf 1927 den Begriff „Klangzentrum“ einführte,<br />
um damit einen „funktionslosen Satztypus“ zu beschreiben:<br />
16 Ebda. S. 17.<br />
17 Arnold Schönberg, Harmonielehre [1911], Wien: Universal Edition 2001, S. 27.<br />
18 Vgl. ebda.<br />
3
Die Technik des Klangzentrums hat als wesentliches Merkmal einen [...] Klang, der im<br />
Zusammenhang nach kurzen Zwischenstrecken immer wieder auftritt. Dadurch gewinnt dieser<br />
Klang [...] in einem gewissen primitiven Sinn den Charakter eines klanglichen Zentrums [...].<br />
Die Zwischenpartien heben sich kontrastierend ab, dem dominantischen Heraustreten aus der<br />
Tonika vergleichbar, so daß ein gewisser Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika zustande kommt<br />
[...]. 19<br />
Des inhärenten Widerspruchs, die Eigenschaften eines „funktionslosen Satztypus“ mit<br />
den Begriffen der dur-moll-tonalen Funktionstheorie zu beschreiben, war sich Erpf<br />
wahrscheinlich bewusst. Er entschloss sich aber, offenbar in Ermangelung einer besseren<br />
Alternative, diesen Kompromiss einzugehen. Interessanterweise geht Erpfs Definition<br />
der „Technik des Klangzentrums“ jedoch durchaus konform mit Riemanns Definition<br />
von <strong>Tonalität</strong> als die Beziehung von Funktionen auf eine Tonika. So gesehen<br />
handelt es sich dabei um eine Form der <strong>Tonalität</strong>, deren Zentralklang anstelle eines Durbeziehungsweise<br />
Moll-Dreiklangs auch andere Formen annehmen kann.<br />
*<br />
Die vorliegende Arbeit vertritt die These, dass eine ausschließlich monozentrische<br />
Sichtweise dur-moll-tonaler Musik, welche <strong>Tonalität</strong> auf einen einzigen Zentralklang –<br />
die Tonika – reduziert, aus heutiger Sicht nicht mehr haltbar ist. An der Entwicklung<br />
der Harmonik im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert lässt sich verfolgen, dass weitere Zentralklänge immer<br />
mehr an Bedeutung gewannen <strong>und</strong> oft gleichberechtigt nebeneinander eingesetzt<br />
wurden. In hochromantischer Musik wird dabei insbesondere die Dominante, meist in<br />
Form von verminderten Septakkorden oder übermäßigen Dreiklängen, häufig als<br />
eigenständiger Zentralklang behandelt <strong>und</strong> dient auch in größeren Abschnitten als<br />
zentraler Bezugspunkt der restlichen Harmonien. Auch die der <strong>Tonalität</strong> zugr<strong>und</strong>e<br />
liegenden Skalen haben sich in diesem Prozess gewandelt. So nehmen beispielsweise<br />
die oktatonische Skala oder die Ganztonskala in vielen Werken des ausgehenden 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts eine zentrale Rolle ein. Manchmal scheint es sogar der Fall zu sein, dass<br />
nicht ein oder mehrere Akkorde oder Töne die Zentralklänge eines Werkes darstellen,<br />
sondern die Skala selbst die Rolle des Klangzentrums übernimmt <strong>und</strong> damit den<br />
Gesamtklang entschieden beeinflusst. Erpfs „Technik des Klangzentrums“, die in<br />
19<br />
Hermann Erpf: Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik der neueren Musik, Leipzig: Breitkopf &<br />
Härtel 1927, S. 122.<br />
4
mehreren Werken des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts nachgewiesen werden kann, stellt also in vieler<br />
Hinsicht ein Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien dar. Es wäre falsch generell zu<br />
behaupten, dass sich die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> mit der Wiener Schule „aufgelöst“ hätte.<br />
Vielmehr ist es notwendig zu untersuchen, welche Prinzipien in post-tonaler Musik<br />
tatsächlich nicht mehr vorhanden sind <strong>und</strong> welche lediglich, den neuen musikalischen<br />
Gegebenheiten entsprechend, angepasst wurden.<br />
Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit wird sich mit der Geschichte des Begriffs<br />
<strong>Tonalität</strong> im Allgemeinen <strong>und</strong> der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> im Speziellen auseinander setzen.<br />
Dabei werde ich versuchen die unterschiedlichen Fragestellungen, die diesen Begriff<br />
heute begleiten, einander gegenüberzustellen; insbesondere werde ich dabei zwischen<br />
historischen, systematischen, kompositionstechnischen <strong>und</strong> hörpsychologischen Ansätzen<br />
unterscheiden. Schließlich werde ich mich in diesem Kapitel auch genauer der<br />
Technik des Klangzentrums widmen, wie sie von Hermann Erpf <strong>und</strong> Zofja Lissa in der<br />
ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts beschrieben wurde. Darauf aufbauend werde ich<br />
untersuchen, ob zwischen einem Klangzentrum im Sinne Erpfs <strong>und</strong> einer Tonika im<br />
Sinne der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> ein prinzipieller Unterschied besteht bzw. inwiefern die<br />
„Technik des Klangzentrums“ mit dem Begriff <strong>Tonalität</strong> vereinbar ist.<br />
Das zweite Kapitel wird schließlich die analytischen Konsequenzen aus den vorangegangenen<br />
Überlegungen ziehen. Der Schwerpunkt der Analysen liegt auf dur-molltonalen<br />
Werken, die in ihrer Harmonik mehrere <strong>Klangzentren</strong> entwerfen <strong>und</strong> in denen<br />
ursprünglich dissonante Klänge, wie der verminderte Septakkord, als zentrale Ruhepunkte<br />
Verwendung finden. Dabei wird eine auf <strong>Klangzentren</strong> basierende Analyse<br />
traditionellen Methoden der harmonischen Analyse gegenübergestellt <strong>und</strong> die Vor- <strong>und</strong><br />
Nachteile beider Methoden werden gegeneinander abgewogen.<br />
5
KAPITEL I<br />
ÜBER DEN BEGRIFF „TONALITÄT“<br />
1.1 Begriffsbildung im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
Der Begriff <strong>Tonalität</strong> geht auf den von französischen Musiktheoretikern seit Beginn des<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>erts verwendeten Ausdruck „tonalité“ zurück. Der erste Beleg dafür findet<br />
sich nach heutiger Kenntnis bei Alexandre-Étienne Choron in seinem Sommaire de<br />
l’histoire de la musique 20 (1810). Unter tonalité versteht Choron „die Tonleitersysteme,<br />
von denen es entsprechend den verschiedenen Völkern <strong>und</strong> ihrer Musik eine sehr große<br />
Anzahl gebe <strong>und</strong> deren Töne immer einen konstanten Bezug zu einem Gr<strong>und</strong>ton<br />
hätten.“ 21 Choron unterscheidet zwischen der „griechischen <strong>Tonalität</strong>“, aus der die<br />
Kirchentonarten hervorgegangen seien <strong>und</strong> der „modernen <strong>Tonalität</strong>“, die sich in<br />
weiterer Folge aus den Kirchentonarten entwickelt hätte. Das bestimmende Merkmal für<br />
die „moderne <strong>Tonalität</strong>“ war für Choron der Dominantseptakkord („harmonie tonale“),<br />
dessen Ursprung er auf Claudio Monteverdi gegen Ende des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts zurück-<br />
führte. 22<br />
In dieser ersten überlieferten Beschreibung von <strong>Tonalität</strong> sind bereits fast alle Merkmale<br />
enthalten, die sich wie ein roter Faden durch dessen Begriffsgeschichte ziehen.<br />
Zunächst erkennt man einen engen Zusammenhang zwischen den Termini <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong><br />
Tonleiter bzw. Tonart. Zudem werden die Töne der verwendeten Tonleiter auf einen<br />
Gr<strong>und</strong>ton bezogen, bei dem sich Choron wohl auf Jean-Philippe Rameaus „centre<br />
harmonique“ bezieht, dessen Theorien auf französische Musiktheoretiker um 1800<br />
einen großen Einfluss hatten. Auch ist für Choron bereits ein Akkord – die „harmonie<br />
tonale“ – ein kennzeichnendes Element der „modernen <strong>Tonalität</strong>“, allerdings ist auffällig,<br />
dass Choron nicht die Tonika als den wesentlichen Klang angibt, sondern die<br />
Dominante. Alle nachfolgenden Definitionen des Begriffs <strong>Tonalität</strong> werden sich in der<br />
einen oder anderen Weise mit diesen gr<strong>und</strong>legenden Aspekten des <strong>Tonalität</strong>sbegriffs<br />
20 Alexandre-Étienne Choron, Sommaire de l’histoire de la musique, in: Alexandre-Étienne Choron /<br />
François Joseph Fayolle, Dictionnaire historique des musiciens Bd. 1, Paris 1810, S. XI-XCII.<br />
21 Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 2.<br />
22 Vgl. ebda.<br />
6
auseinander setzen. Eine weitere Besonderheit, die Chorons Begriffsdefinition auszeichnet,<br />
ist, dass er bereits zwei weitere wichtige Aspekte erkennen lässt, die Untersuchungen<br />
zur <strong>Tonalität</strong> in weiterer Folge immer wieder begleiten. Einerseits impliziert<br />
er einen ethnologischen Ansatz, indem er die Tonleitersysteme verschiedener Völker in<br />
seine Definition mit einfließen lässt, andererseits verfolgt er einen historischen Ansatz<br />
23 , indem er versucht die Entstehung der „modernen <strong>Tonalität</strong>“ als eine Entwicklung<br />
von der „griechischen <strong>Tonalität</strong>“ über die Kirchentonarten zu Monteverdis „Dominantseptakkord“<br />
zu verstehen.<br />
Der erste Lexikonartikel Tonalité erscheint 1821 im Dictionnaire de musique moderne<br />
von Castil-Blaze. Dort wird der Geltungsbereich des Begriffs auf das Dur-Moll-System<br />
eingeschränkt <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong> als „Eigenart der musikalischen Tonart, die im Gebrauch<br />
ihrer wesentlichen Töne“ 24 besteht, beschrieben. Als „wesentliche Töne“ werden dabei<br />
die I., IV. <strong>und</strong> V. Stufe genannt. Auch Philippe de Geslin begrenzt 1826 tonalité auf das<br />
Dur-Moll-System. „Für ihn bedeutet tonalité das Bestreben, immer ‚den Gesang‘<br />
vorzugsweise auf ‚ein <strong>und</strong> demselben Ton eines Tonsystems‘ zu beenden, <strong>und</strong> zwar auf<br />
der Tonika einer Tonart.“ 25 Weitere Aspekte werden 1830 von Daniel Jelensperger<br />
formuliert. 26 Er versteht unter <strong>Tonalität</strong> den „‚Eindruck der Tonart‘; bei einer vollständigen<br />
Modulation werde eben die <strong>Tonalität</strong> der vorangehenden Tonart gänzlich ausgelöscht,<br />
weil man in die neue Tonart kadenziere.“ 27 Jelenspergers Ansatz die beiden<br />
Begriffe Modulation <strong>und</strong> Kadenz in einen direkten Zusammenhang mit der Dur-Moll-<br />
<strong>Tonalität</strong> zu bringen, ist dabei besonders auffällig <strong>und</strong> wurde später von mehreren<br />
Musiktheoretikern aufgegriffen. Als neues Motiv innerhalb der Begriffsgeschichte lässt<br />
sich durch Jelenspergers Beschreibung von <strong>Tonalität</strong> als „Eindruck der Tonart“ bereits<br />
erstmals ein hörpsychologischer Aspekt ausmachen. Darauf deutet auch seine Übertragung<br />
des Begriffs auf konsonante <strong>und</strong> dissonante Akkorde hin: „In diesem Zusammenhang<br />
sei mit <strong>Tonalität</strong> der Eindruck gemeint, den ein Akkord hervorrufe <strong>und</strong><br />
der es ermögliche, ihn auf diese oder jene Tonleiter zu beziehen.“ 28<br />
23 Volker Helbing meint sogar, dass „Choron ihn [den Begriff <strong>Tonalität</strong>] ausschließlich [verwendet], um<br />
(historische) Differenzen innerhalb der europäischen Musik zu benennen.“ Volker Helbing, <strong>Tonalität</strong><br />
in der französischen <strong>Musiktheorie</strong> zwischen Rameau <strong>und</strong> Fétis, in: <strong>Musiktheorie</strong> (Handbuch der<br />
Systematischen Musikwissenschaft Bd. 2), Laaber: Laaber 2005, S. 171-202, hier S. 171.<br />
24 François H. J. Castil-Blaze, Dictionnaire de musique moderne, zit. nach: Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 3.<br />
25 Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 3.<br />
26 Vgl. ebda.<br />
27 Ebda.<br />
28 Ebda.<br />
7
1.2 François-Joseph Fétis<br />
François-Joseph Fétis gilt in der musikwissenschaftlichen Literatur als der Musiktheoretiker,<br />
der den Begriff <strong>Tonalität</strong> wesentlich geprägt hat. In seiner 1844 erschienenen<br />
Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie 29 behandelt er<br />
<strong>Tonalität</strong> sowohl aus systematischer Sicht als auch in seiner historischen Entwicklung.<br />
Dabei unterscheidet er zwischen der „tonalité moderne“, die der europäischen Dur-<br />
Moll-<strong>Tonalität</strong> entspricht sowie der „tonalité ancienne“, die von den Kirchentonarten<br />
der Renaissancemusik ausgebildet wurde. Fétis argumentiert wie Choron, dass die<br />
Auflösung des Dominantseptakkords in die I. Stufe das wesentliche Element der<br />
„tonalité moderne“ sei. Aus historischer Sicht unterscheidet er daneben zwischen den<br />
Epochen („ordre“) „unitonique“, „transitonique“, „pluritonique“ <strong>und</strong> „omnitonique“.<br />
Dabei bezeichnet „ordre unitonique“ die Renaissancemusik der „tonalité ancienne“,<br />
„transitonique“ die Übergangszeit von der „tonalité ancienne“ zur „tonalité moderne“<br />
<strong>und</strong> „pluritonique“ bezeichnet die Musik seiner Zeit, in der die „tonalité moderne“<br />
bereits voll ausgebildet ist. Unter der Epoche „ordre omnitonique“ versteht Fétis<br />
schließlich die Musik der Zukunft, die laut seinen Angaben in den Werken mancher<br />
Zeitgenossen bereits begonnen hat.<br />
Fétis war von besonderer Bedeutung für die weitere Verbreitung des Begriffs <strong>Tonalität</strong>,<br />
einerseits durch seine Lehrtätigkeit als Kompositionsprofessor am Pariser Konservatorium,<br />
andererseits durch seine zahlreichen Schriften, die unter nachfolgenden Musiktheoretikern<br />
weite Verbreitung <strong>und</strong> Akzeptanz fanden. Insbesondere sorgte auch die von<br />
Fétis herausgegebene Zeitschrift Revue musicale für diese Verbreitung, die in deutschsprachigen<br />
Publikationen der Zeit häufig zitiert wurde. 30 Eine weitere Leistung Fétis’<br />
war es, das musiktheoretische Wissen seiner Zeit zu sammeln <strong>und</strong> vorhandene Theorien<br />
zusammenzuführen <strong>und</strong> zu erweitern. 31 Er baute auf den Theorien von Jean-Philippe<br />
29<br />
François-Joseph Fétis, Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie, Paris: Schlesinger<br />
1844.<br />
30<br />
Vgl. diesbezüglich die Fußnoten 59 <strong>und</strong> 61.<br />
31<br />
Fétis’ eigenständiger Beitrag zu der Begriffsdefinition ist allerdings nicht unumstritten. So weist<br />
Bryan Simms darauf hin, dass Fétis einen Großteil seiner Erkenntnisse <strong>und</strong> Thesen wohl fälschlicherweise<br />
unter eigenem Namen veröffentlicht hat (vgl. Bryan Simms, Choron, Fetis, and the Theory of<br />
Tonality, in: Journal of Music Theory (Bd. 19,1), 1975, S. 112-138, hier S. 115). Allerdings sollte man<br />
dies auch nicht überbewerten, da zu Fétis Zeit nicht im selben Maße zwischen Quelle <strong>und</strong> Plagiat<br />
unterschieden wurde, wie dies heute üblich ist. Fétis hat vermutlich durchaus noch innerhalb der ethi-<br />
8
Rameau, Georg Andreas Sorge, Johann Philipp Kirnberger, Charles Simon Catel,<br />
Alexandre-Étienne Choron <strong>und</strong> anderen Musiktheoretikern auf 32 , <strong>und</strong> prägte so in<br />
seinem Traité einen <strong>Tonalität</strong>sbegriff, der vielen weiteren Musiktheoretikern als Gr<strong>und</strong>lage<br />
diente.<br />
<strong>Tonalität</strong> bildet sich laut Fétis „aus der Kollektion der notwendigen, sukzessiven oder<br />
simultanen Beziehungen der Tonleiter“ 33 , also aus Beziehungen zwischen den Harmonien<br />
<strong>und</strong> Melodien eines Musikstücks in Bezug auf eine zugr<strong>und</strong>e liegende Skala. Der<br />
Ursprung dieser Beziehungen ist dabei für Fétis weder ein akustisches oder mathematisches<br />
Phänomen, noch liegt es in der Physiologie des menschlichen Gehörs begründet;<br />
statt dessen meinte Fétis, dass die Gesetze tonaler Beziehungen „metaphysischer“ Natur<br />
<strong>und</strong> damit unergründlich seien. Unterschiedliche Kulturen stellen laut Fétis aufgr<strong>und</strong><br />
ihrer Gefühle, Gedanken <strong>und</strong> auch aufgr<strong>und</strong> des Intellekts 34 verschiedene Beziehungen<br />
her <strong>und</strong> entwickeln dem entsprechend unterschiedliche Typen von <strong>Tonalität</strong> („types de<br />
tonalités“). 35<br />
Der Mensch erhalte diese Ordnung [der <strong>Tonalität</strong>] <strong>und</strong> die sich daraus ergebenden melodischen<br />
<strong>und</strong> harmonischen Phänomene als Konsequenz seiner Bildung <strong>und</strong> Erziehung, <strong>und</strong> diese Tatsache<br />
bestehe durch sich selbst <strong>und</strong> unabhängig von jedem fremden Einfluss. 36<br />
Carl Dahlhaus, der sich in seinen Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen<br />
<strong>Tonalität</strong> ausgiebig dem <strong>Tonalität</strong>sbegriff widmete, interpretierte den Begriff<br />
„Metaphysik“ bei Fétis als analog zum heutigen Bereich der „Anthropologie“ 37 <strong>und</strong> es<br />
ist wahrscheinlich, dass sich Fétis mit der Verwendung des Begriffs hauptsächlich von<br />
anderen gängigen Erklärungsversuchen seiner Zeit abgrenzen wollte (wie beispielsweise<br />
die auf Rameau zurückgehende Naturklangtheorie). Die Feststellung, dass Fétis jegliche<br />
physikalischen <strong>und</strong> physiologischen Ursachen ausschließt muss man, um Missverständ-<br />
schen <strong>und</strong> moralischen Gr<strong>und</strong>sätze seiner Zeit gehandelt, wenn er auf anderen Theorien aufbaute ohne<br />
explizit darauf hinzuweisen.<br />
32 Vgl. ebda. S. 133-134.<br />
33 Fétis: Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie, zit. nach: Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 5.<br />
34 Hyer, Tonality: „Fétis asserted that ‚primitive’ (non-Western) societies were limited to simpler scales<br />
because of their simpler brain structures, while the more complex psychological organizations of<br />
Indo-Europeans permitted them to realize, over historical time, the full musical potential of tonalité;<br />
his theories were similar in their biological determinism to the racial theories of Gobineau.“<br />
35 Vgl. zu diesem Abschnitt auch: Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 4-5; Simms, Choron, Fetis, S. 124f; Dahlhaus,<br />
Untersuchungen, S. 11-14; Dahlhaus, <strong>Tonalität</strong>, S. 623f; Hyer, Tonality.<br />
36 Fétis, zit. nach: Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 5.<br />
37 Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10.<br />
9
nissen vorzubeugen, noch etwas genauer differenzieren. Laut Dahlhaus geht es Fétis<br />
dabei nicht darum, die Herleitung der Konsonanzgrade aus der Natur zu leugnen.<br />
Dahlhaus argumentiert, gegen ein rein auf physikalischen Ursachen basierendes System,<br />
„würde Fétis einwenden: Daß die Quint <strong>und</strong> die große Terz ‚direkt verständliche‘<br />
Intervalle sind, sei zwar von der Natur gegeben; die Entscheidung aber sie einem<br />
System zugr<strong>und</strong>ezulegen, sei ‚metaphysisch‘.“ 38 Damit hätte Fétis bereits recht genau<br />
die heute öfters vertretene Meinung widergespiegelt, dass unsere Hörphysiologie<br />
gemeinsam mit unserem Gedächtnis <strong>und</strong> unserer Erfahrung in einem stätigen Wechselspiel<br />
mit dem ästhetischen <strong>und</strong> künstlerischen Entscheidungsprozess steht.<br />
Brian Hyer widerspricht in seinem Artikel Tonality im Grove Music Online der von<br />
Dahlhaus vorgelegten Interpretation des Begriffs „Metaphysik“ <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen<br />
Implikationen:<br />
He [Fétis] believed that tonality was a metaphysical principle, a fact not of the inner structure or<br />
formal properties of music but of human consciousness, which imposes a certain cognitive organization<br />
– a certain set of dynamic tendencies – on the musical material. As a metaphysical<br />
principle, then, tonality does not itself evolve, but rather remains invariant and universal, true for<br />
all people and for all time. He thus regarded what he felt to be the <strong>und</strong>eniable historical progress<br />
of Western music as a series of discrete advances toward completion, the ever more perfect realization<br />
of a musical absolute. 39<br />
Gegen Hyers Meinung, Fétis sähe <strong>Tonalität</strong> als ein unveränderbares Prinzip „für alle<br />
Menschen <strong>und</strong> zu jeder Zeit“ an, spricht allerdings Fétis Vorstellung, dass unterschiedliche<br />
Kulturen unterschiedliche <strong>Tonalität</strong>en ausbilden <strong>und</strong> seine Unterscheidung zwischen<br />
„tonalité ancienne“ <strong>und</strong> „tonalité moderne“ in der europäischen Musikgeschichte.<br />
Also ließe sich diese Aussage, wenn überhaupt, nur auf den speziellen Fall der europäischen<br />
Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> („tonalité moderne“) anwenden. In diesem Zusammenhang<br />
war Fétis scheinbar davon überzeugt, dass die „tonalité moderne“ vor einer ernsten<br />
Bewährungsprobe stand, keineswegs aber, dass dies das Aufkommen einer neuen<br />
<strong>Tonalität</strong> ausschließen würde:<br />
38 Ebda., S. 15.<br />
39 Hyer, Tonality.<br />
10
Fétis sees the omnitonic order as the ultimate stage in deriving more and more expression from<br />
major/minor tonality. [...]<br />
He sees the era as a degradation of music, allowing too great a resource for unbridled emotion<br />
and passion, and one that could itself be superseded only by a new tonality. 40<br />
Auch die Bedeutung der Harmonik für Fétis’ <strong>Tonalität</strong>sbegriff wird in der Literatur<br />
unterschiedlich bewertet. So schreibt Brian Hyer:<br />
While both Choron and Fétis drew on the same basic theoretical resources, there are subtle but<br />
crucial differences between their accounts of tonalité. In contrast to Choron, who emphasizes relations<br />
between harmonies, Fétis places more stress on the order and position of pitches within a<br />
scale. This difference in emphasis corresponds to the two main historical traditions of theoretical<br />
conceptualization about tonal music: the function theories of Rameau and Riemann on the one<br />
hand and the scale-degree theories of Gottfried Weber and Schenker on the other. 41<br />
Der Behauptung, dass Fétis im Gegensatz zu Choron der skalaren Ordnung der Tonhöhen<br />
mehr Bedeutung beigemessen hätte als der Harmonik, widerspricht dagegen<br />
folgende Aussage von Bryan Simms:<br />
Shirlaw credits Fetis with the statement that scales created harmony. Fetis, in fact, says just the<br />
opposite. The f<strong>und</strong>amental relationship which generated modern tonality, he says, is the harmonic<br />
nature of the tritone. This and other appellative intervals dictated the intervallic structure<br />
of the major scale in the sense that the interval from degree seven to the tonic would be a semitone<br />
(the „natural“ resolution of the upper term of an augmented fourth), the interval from degree<br />
four to seven would be an augmented fourth, and so on, until our modern tonality (the major<br />
scale) was established in an invariant intervallic order regardless of the pitch level of the tonic.<br />
This is what Fetis means when he says that modern tonality possesses an inherent harmonic principle,<br />
since it was the harmonic nature of the augmented fourth and its proper resolution which<br />
shaped the scale in the first place. 42<br />
Folgende Aussage von Michael Beiche legt nahe, dass Fétis eine sehr ähnliche Auffassung<br />
über die Bedeutung des Dominantseptakkords hatte wie Choron (s.o.):<br />
Die notwendige Auflösung der „harmonie dissonante“ (des Dominantseptakkords als Streben,<br />
Anziehung <strong>und</strong> Bewegung) in die „harmonie consonnante“ (den Dreiklang mit dem Charakter<br />
40 Simms, Choron, Fetis, S. 132.<br />
41 Hyer, Tonality.<br />
42 Simms, Choron, Fetis, S. 124f.<br />
11
von Ruhe <strong>und</strong> Schlußbildung) sowie die Stellung ihrer Töne innerhalb der Tonleiter lege die<br />
Gesetze der Aufeinanderfolge aller Tonleitertöne fest, wodurch wiederum die unter dem Namen<br />
<strong>Tonalität</strong> gefaßten notwendigen Beziehungen der Töne festgelegt würden. 43<br />
Für die Vermutung Fétis habe mit seinen harmonischen Überlegungen an Choron<br />
angeknüpft spricht auch, dass sich Fétis bei der Entstehung der „tonalité moderne“ – der<br />
Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> – ebenso wie Choron auf Monteverdis „Entdeckung“ der Dominantseptakkordauflösung<br />
beruft. 44 Fétis sieht im Zusammenhang mit Akkorden nur Sek<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> Septimen als Dissonanzen an, die übermäßige Quart beziehungsweise die tief<br />
alterierte Quint seinen dagegen konsonant: 45<br />
It is remarkable that these intervals [augmented fourth and diminished fifth] characterize modern<br />
tonality by the energetic tendencies of their two constituent notes, the leading tone summoning<br />
after it the tonic and the fourth degree followed in general by the third. Now this phenomenon,<br />
eminently tonal, cannot involve a state of dissonance. In fact, the augmented fourth and diminished<br />
fifth are used as consonances in several harmonic progressions. The augmented fourth and<br />
diminished fifth are hence consonances, but consonances of a special kind that I call by the name<br />
„appellative consonances“. 46<br />
Diese Überlegungen hat Fétis vermutlich von Choron <strong>und</strong> Catel übernommen. 47 Der<br />
„Entdecker“ der Dominantauflösung war für Fétis Monteverdi, der zum ersten Mal<br />
unvorbereitete Septimen in die Musik einführte <strong>und</strong> den Dominantseptakkord häufig in<br />
die Tonika auflöste (vgl. Abbildung 1). Fétis ging davon aus, dass Dominantseptakkorde<br />
zuvor nur in Sextakkorde aufgelöst wurden: V 7 → V 6 (vgl. Abbildung 2). 48<br />
43 Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 5.<br />
44 Vgl. Simms, Choron, Fetis, S. 126f .<br />
45 Vgl. ebda., S. 120-122.<br />
46 Fétis, Traité complet de la théorie, S. 8-9, zit. nach: Simms, Choron, Fetis, S. 122.<br />
47 Simms, Choron, Fetis, S. 122.<br />
48 Ebda., S. 127.<br />
12
Abbildung 1: Auflösung Dominante → Tonika. 49<br />
Abbildung 2: Auflösung V 7 → V 6 . 50<br />
Die unterschiedlichen Bewertungen von Fétis <strong>Tonalität</strong>sauffassung sind ein Beleg<br />
dafür, dass sich der Begriff schon in den ersten Jahren seines Aufkommens keineswegs<br />
auf eine einzige Bedeutung einschränken lässt. Bei Fétis waren sowohl der skalenbezogene<br />
als auch der akkordbezogene <strong>Tonalität</strong>sbegriff bereits implizit angelegt <strong>und</strong> es<br />
wäre willkürlich ihn auf die eine oder andere Bedeutung reduzieren zu wollen.<br />
Die Entwicklung der <strong>Tonalität</strong> innerhalb der europäischen Musikgeschichte unterteilt<br />
Fétis wie gesagt in die vier historischen Epochen „unitonique“, „transitonique“,<br />
„pluritonique“ <strong>und</strong> „omnitonique“, wobei er die Vorstellung der ersten beiden offensichtlich<br />
von Choron übernahm. Die „ancienne tonalité unitonique“ bezeichnet dabei<br />
die Musik der Renaissance bis zum Ende des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts. Der Begriff<br />
„unitonique“ bezieht sich darauf, dass es laut Fétis in der „tonalité ancienne“, der die<br />
Modi der Kirchentonarten zugr<strong>und</strong>e lagen, nicht möglich war in dem Sinn zu modulieren,<br />
wie es sich in der Dur-Moll-Harmonik etabliert hatte. Dies änderte sich erst mit<br />
der oben beschriebenen Auflösung des Dominantseptakkordes in die Tonika bei Monteverdi.<br />
Choron schrieb über diese Entwicklung: 51<br />
The most important step [in this transition] had not yet been made [during the era of Palestrina].<br />
A master of the Lombardian school (Cl. Monteverdi), who flourished aro<strong>und</strong> 1590, created the<br />
harmony of the dominant; he was the first who dared to use the dominant seventh and even ninth<br />
overtly and without preparation; the first who dared to use as consonant the diminished fifth,<br />
considered until then as dissonant. And tonal harmony was known. 52<br />
Fétis sah die Zeit der „ordre transitonique“ als eine Übergangszeit zwischen der<br />
„tonalité ancienne“ <strong>und</strong> der „tonalité moderne“ an, also als eine Entwicklung von den<br />
49 Ebda., S. 131.<br />
50 Ebda.<br />
51 Vgl. ebda., S. 126-130; Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 5.<br />
52 Choron, zit. nach: Simms, Choron, Fetis, S. 122.<br />
13
Kirchentonarten zur Dur- <strong>und</strong> Molltonart. 53 Der weitere Übergang zum „ordre<br />
pluritonique“ beinhaltete keine Änderung der <strong>Tonalität</strong>, sondern einen freieren Umgang<br />
mit Modulationen. Laut Fétis begann man einzelne Noten enharmonisch zu verwechseln,<br />
um so Beziehungen zu neuen Tonarten herstellen zu können. In diesem Zusammenhang<br />
verweist Fétis insbesonders auf die zunehmende Bedeutung des verminderten<br />
Septakkords für die Modulation, wodurch es etwa möglich wurde, die zuvor<br />
nicht aufeinander beziehbaren Tonarten a-Moll <strong>und</strong> fis-Moll zu verbinden (vgl.<br />
Abbildung 3). 54<br />
Abbildung 3: Auflösung eines verminderten Septakkords nach Fétis. 55<br />
Der in die Zukunft weisende „ordre omnitonique“ zeichnet sich schließlich dadurch aus,<br />
dass mehrere Töne eines Modulationsakkords gleichzeitig enharmonisch verwechselt<br />
werden <strong>und</strong> es so möglich ist, von einem Akkord aus potenziell in jede beliebige Tonart<br />
zu modulieren. Erste Anzeichen dieser Entwicklung finden sich laut Fétis bereits bei<br />
den Komponisten Beethoven, Rossini, Meyerbeer <strong>und</strong> Cherubini. 56 In einem 1844<br />
publizierten Artikel schrieb Fétis über die frühen Kompositionen des 21-jährigen Franz<br />
Liszt, dass dessen neue Harmonik seinem 1832 postulierten “ordre omnitonique“<br />
entspräche. 57<br />
Zusammenfassend lässt sich über Fétis <strong>Tonalität</strong>sauffassung sagen, dass er die – den<br />
Begriff <strong>Tonalität</strong> betreffend – wichtigsten Ideen, Motive <strong>und</strong> Überlegungen seiner Zeit<br />
reflektiert <strong>und</strong> weitergedacht hat. Wie Choron verfolgt er einen historischen Ansatz, den<br />
53<br />
Gewissermaßen war die „tonalité moderne“ bei Fétis ein Überbegriff für die Epochen „transitonique“,<br />
„pluritonique“ <strong>und</strong> „omnitonique“. Alle diese Epochen verwenden die „tonalité moderne“, allerdings<br />
ist die „odre transitonique“ noch in einem Übergangsstadium begriffen.<br />
54<br />
Vgl. Simms, Choron, Fetis, S. 130-132.<br />
55<br />
Ebda., S. 131.<br />
56<br />
Vgl. ebda., S. 132.<br />
57<br />
Vgl. Klára Móricz, The Ambivalent Connection between Theory and Practice in the Relationship of F.<br />
Liszt & F.-J. Fétis, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Bd. 35,4), 1993-<br />
1994, S. 399-420, hier S. 414.<br />
14
er versucht auf die Musik seiner Zeit auszuweiten. Auch eine kognitive Dimension wird<br />
von Fétis impliziert, allerdings ist für ihn die Wahrnehmung nicht der Gr<strong>und</strong> für das<br />
Entstehen von <strong>Tonalität</strong>, sondern ein Element, das mit dem bewussten Entscheidungsprozess<br />
des Komponisten in stetiger Wechselwirkung steht. In der Auffassung, dass<br />
Monteverdi in einer selbstständigen Handlung – das heißt nicht zwingend als Resultat<br />
einer „natürlichen“ Entwicklung – die Auflösung der Dominante in die Tonika „gef<strong>und</strong>en“<br />
hätte, wird ein weiteres Motiv deutlich, das besonders in der <strong>Musiktheorie</strong> des<br />
20. Jahrh<strong>und</strong>erts an Bedeutung gewinnt: die Vorstellung, dass <strong>Tonalität</strong> bewusst durch<br />
den Komponisten „gesetzt“ <strong>und</strong> verändert werden kann <strong>und</strong> somit in gewissem Sinne<br />
auch eine Kompositionstechnik darstellt. Dem entsprechend werden nach dieser Auffassung<br />
die, eine bestimmte <strong>Tonalität</strong> auszeichnenden, Beziehungen zwischen den<br />
Tönen <strong>und</strong> Harmonien einer Tonleiter nicht von physikalischen oder physiologischen<br />
Phänomenen gelenkt, sondern variieren abhängig von den kulturellen <strong>und</strong> soziologischen<br />
Gegebenheiten der Zeit. Insofern verwendet Fétis den Begriff <strong>Tonalität</strong> auch, um<br />
zwischen der harmonischen Syntax unterschiedlicher Epochen <strong>und</strong> unterschiedlicher<br />
Kulturen unterscheiden zu können. Die charakteristischen Merkmale der Dur-Moll-<br />
<strong>Tonalität</strong>, die aus der soziokulturellen Entwicklung der europäischen Kunstmusik<br />
hervorging, sind die Auflösung der Dominante in die Tonika <strong>und</strong> die Möglichkeit der<br />
enharmonischen Modulation. Diese Merkmale wurden von Fétis nur im besonderen<br />
Zusammenhang mit der europäischen Kunstmusik definiert <strong>und</strong> können sich von<br />
<strong>Tonalität</strong> zu <strong>Tonalität</strong> unterscheiden. Indem Fétis eine arithmetische Erklärung explizit<br />
als Beschreibung für <strong>Tonalität</strong> ausschloss 58 , wird ein weiteres für den <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />
des 20. Jahrh<strong>und</strong>ert bedeutendes Motiv offen gelegt. So wurden auch in der zweiten<br />
Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts immer wieder Versuche unternommen dur-moll-tonale<br />
Musik mit der Hilfe mathematischer Modelle zu erklären (vgl. S. 46).<br />
58 Angeblich hat Fétis sechs Jahre seiner Zeit damit verbracht selbst nach einer mathematischen Begründung<br />
für die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> zu suchen, bevor er diese Möglichkeit schließlich verworfen hat. Vgl.<br />
dazu: Rosalie Schellhous, Fetis’s „Tonality“ as a Metaphysical Principle: Hypothesis for a New Science,<br />
in: Music Theory Spectrum (Bd. 13,2), 1991, S. 219-240, hier S. 222.<br />
15
1.3 <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Tonart im deutschsprachigen Raum<br />
Die Verbreitung des Begriffs <strong>Tonalität</strong> im deutschsprachigen Raum begann um 1830. 59<br />
1834 erschien in der Neuen Zeitschrift für Musik eine Rezension der Revue musicale mit<br />
beigefügter Übersetzung von Fétis’ Aufsatz Vergleich des jetzigen Zustands der Musik<br />
mit dem vergangener Epochen. 60 In einer Fußnote des Artikels heißt es: „Für tonalité<br />
dürfte ein bezeichnender Ausdruck im Deutschen schwer zu finden sein. Der Zusammenhang<br />
wird dem Leser den Begriff leicht geben können.“ 61 Wie der Titel des<br />
Aufsatzes bereits vermuten lässt, behandelt Fétis darin nicht die systematischen Aspekte<br />
des Begriffs, sondern die historische Entwicklung der „tonalité moderne“:<br />
Die <strong>Tonalität</strong>, Basis aller Musik, hat seit drei Jahrh<strong>und</strong>erten mehrere Veränderungen erlitten; [...]<br />
Nachdem die <strong>Tonalität</strong> von der eintönigen Form zur mehrtönigen überging, ist sie nach <strong>und</strong> nach<br />
zur alltönigen gekommen, wo sich jedwede gegebene Note, mittelst der Enharmonie, auflösen<br />
läßt. 62<br />
Aus der Sicht deutscher Musiktheoretiker waren die systematischen Aspekte, die den<br />
Begriff bei Fétis begleiteten – also die harmonische bzw. tonale Syntax (die Beziehungen<br />
zwischen Harmonien oder Tönen einer Tonleiter) <strong>und</strong> die Möglichkeit der<br />
enharmonischen Verwechslung – keinesfalls neue Erkenntnisse. Diese musikalischen<br />
Eigenschaften wurden in der deutschsprachigen Literatur der Zeit meist unter dem<br />
Begriff Tonart zusammengefasst. Georg Joseph Vogler schreibt beispielsweise 1802:<br />
„Tonart ist das, was die Tonleitung bestimmt, weil diese immer auf den Karakter der<br />
Tonart einen unverkennbaren Bezug haben muß.“ 63 Unter Tonleitung versteht Vogler<br />
59<br />
Der erste Beleg in der deutschen Literatur scheint eine beiläufige Verwendung des Begriffs in einem<br />
Artikel der Allgemeinen Musikalischen Zeitung 1830 zu sein. Bei diesem Artikel handelt es sich um<br />
eine kritische Reaktion auf Fétis’ Äußerungen bezüglich Mozarts bekanntem Streichquartett in C-Dur<br />
KV 465 („Dissonanzenquartett“). Vgl. A. C. Leduc, Ueber den Ausatz des Herrn Fétis (in dessen<br />
Revue musicale Tome V. Nr. 26. 1829), eine Stelle Mozart’s betreffend, in: Allgemeine Musikalische<br />
Zeitung (Bd. 32,8), Februar 1830, S. 117-132, hier S. 124. Eine weitere Verwendung lässt sich 1833 in<br />
der Übersetzung D. Jelenspergers L’harmonie au commencement du 19me siecle nachweisen (vgl.<br />
Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 6).<br />
60<br />
Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 6.<br />
61<br />
Journalschau (Fortsetzung). VI. Revue musicale, in: Neue Leipziger Zeitschrift für Musik (Bd. 1,58)<br />
Oktober 1834, S. 230-232, hier S. 232.<br />
62<br />
Ebda.<br />
63<br />
Georg Joseph Vogler, Handbuch zur Harmonielehre <strong>und</strong> für den Generalbaß, nach den Gr<strong>und</strong>sätzen<br />
der Mannheimer Tonschule, Prag 1802, S. 8.<br />
16
das Resultat von einem allmälig <strong>und</strong> harmonisch wirkenden Eindruck der Lehre von<br />
Schlußfällen 64 <strong>und</strong> Mehrdeutigkeit 65 auf das Ohr. Die Tonleitung gibt Aufschluß über die<br />
Sukzession der Harmonien, <strong>und</strong> wie das Gefühl davon affizirt, d. i: bald überrascht, bald getäuscht<br />
wird. 66<br />
Vogler verbindet mit dem Begriff Tonart somit die „Sukzession der Harmonien“ <strong>und</strong><br />
deren Wahrnehmung, unter besonderer Berücksichtigung der Kadenz <strong>und</strong> der Mehrdeutigkeit<br />
von Akkorden. Die Ähnlichkeit dieser Auffassung mit Fétis Definition der<br />
„tonalité moderne“ mittels der Auflösung eines Dominantseptakkords in eine Tonika<br />
<strong>und</strong> der Möglichkeit enharmonischer Modulationen ist auffällig. Vogler gibt außerdem<br />
noch an, dass sich die Tonleitung auf den Hauptton – die I. Stufe der Tonart – bezieht:<br />
Da der Begriff Klang allgemeiner ist, als Ton, so nenne ich den vornehmsten Ton jeder Harmonie,<br />
der aber nicht immer zum Gr<strong>und</strong>e (im Baß) liegt, Hauptklang, den Ton, der im Baß liegt,<br />
Gr<strong>und</strong>ton, <strong>und</strong> den ersten unter den 7 Hauptklängen jeder Tonart, worauf die Tonleitung sich bezieht,<br />
Hauptton.<br />
In ähnlicher Weise beschreibt auch 1775 Johann Georg Sulzer die Bedeutung des<br />
Dreiklangs auf der ersten Stufe. Sulzer verwendet die Begriffe Hauptklang <strong>und</strong> Tonika<br />
zwar noch nicht im direkten Zusammenhang mit dem Begriff Tonart (insofern ist<br />
„Tonart“ bei Sulzer eher vergleichbar mit dem Begriff Tonleiter), 67 bei der Begriffsbeschreibung<br />
von „Tonica“ schreibt er allerdings:<br />
Mit diesem Worte [Tonica] wird der Gr<strong>und</strong>ton der diatonischen Tonleiter angedeutet, der in<br />
jedem Satz eines Stücks der Hauptton ist, in welchem der Gesang <strong>und</strong> die Harmonie fortgehen,<br />
<strong>und</strong> den Satz schließen. Die Tonica ist daher von dem eigentlichen Hauptton darin unterschieden,<br />
daß sie mit jeder Ausweichung ihren Platz verändert, da dieser hingegen durchs ganze Stück<br />
derselbe bleibt. Doch wird sie auch in der Bedeutung des Haupttones genommen, wenn man<br />
sagt, der erste Theil eines Stücks habe in der Dominante geschlossen. Der fünfte Ton der Tonica<br />
ist die Dominante. 68<br />
64 Vogler verwendet den Begriff „Schlußfall statt Kadenz, worunter man auch die willkührlichen<br />
Schnörkel zu Ende der Bravour-Arie versteht.“ (Ebda., S. 6).<br />
65 „Die Lehre der Mehrdeutigkeit bestimmt [...] alle möglichen Fälle, wo entweder dieselbigen Harmonien<br />
dem Gehöre wie verschiedene, oder verschiedene dem Gehöre wie dieselben vorkommen.“<br />
(Ebda.).<br />
66 Ebda. S. 8-9.<br />
67 Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer<br />
Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln. 2. Teil, Leipzig: M. G. Weidmanns Erben<br />
<strong>und</strong> Reich 1775, S. 779.<br />
68 Ebda., S. 783.<br />
17
Vergleichbares schreibt Gottfried Weber 1830 bei der Definition des Begriffes Tonart in<br />
seinem Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst:<br />
Wenn unser Gehör eine Folge von Tönen <strong>und</strong> Harmonieen vernimmt, so strebt es, seiner Natur<br />
gemäss, unter diesem Manchfaltigen einen inneren Zusammenhang, eine Beziehung auf einen<br />
gemeinsamen Mittelpunct, zu finden. [...] Das Gehör verlangt überall, einen Ton als Haupt- <strong>und</strong><br />
Centralton, eine Harmonie als Hauptharmonie zu empfinden [...].<br />
Insofern nun solchergestalt ein Ton als Haupt- <strong>und</strong> Centralton, eine Harmonie als Central-<br />
Harmonie erscheint [...], so nennt man solche Harmonie tonische Harmonie, <strong>und</strong> den Gr<strong>und</strong>ton<br />
dieser Harmonie Tonica [...]. Man [...] nennt solche Herrschaft einer Hauptharmonie über die<br />
übrigen: Tonart. 69<br />
Als erläuterndes Beispiel für den „etwas abstract ausgedrückten Satz“ 70 dieses Zitats<br />
bringt Weber eine schlichte Kadenz in C-Dur (vgl. Abbildung 4): „Beim Anhören des<br />
nachstehenden Satzes fühlt jedes Ohr den Ton c als Centralton [...] <strong>und</strong> den C-Dreiklang<br />
als die Hauptharmonie des Satzes.“ 71<br />
Abbildung 4: C-Dur Kadenz Gottfried Webers. 72<br />
Während Fétis nur implizit die Tonika als einen Zentralklang der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong><br />
angibt, indem er die Auflösung des Dominantseptakkordes in den Dreiklang auf der I.<br />
Stufe als gr<strong>und</strong>legendes Element der „tonalité moderne“ bezeichnet, verweist Weber bei<br />
seiner Definition von Tonart explizit auf diesen Zusammenhang. Umgekehrt impliziert<br />
Weber die Auflösung des Dominantseptakkordes als entscheidendes Moment der<br />
Tonika, indem er zeigt, dass diese nur durch die Kadenz als solche wahrgenommen<br />
wird.<br />
69<br />
Gottfried Weber, Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst, Bd. 2, Paris: B. Schott’s Söhne<br />
1830, S. 1-2.<br />
70<br />
Ebda., S. 1.<br />
71<br />
Ebda., S. 2.<br />
72<br />
Ebda.<br />
18
Auffällig an Webers Definition ist auch sein besonderes Hervorheben der Begriffe<br />
„Haupt- <strong>und</strong> Centralton“ sowie des Begriffs „Central-Harmonie“. 73 Er legte dabei<br />
offensichtlich großen Wert darauf, im Zusammenhang mit diesen Begriffen nicht<br />
missverstanden zu werden. In den Lehrbüchern des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden<br />
Begriffe wie Hauptton, Tonika oder auch Hauptklang nicht immer einheitlich verwendet<br />
<strong>und</strong> teilweise als Synonyme für den Basston eines Dreiklanges in Gr<strong>und</strong>stellung – den<br />
„basse fondamentale“ – betrachtet. Vogler versteht beispielsweise in der oben zitierten<br />
Stelle unter dem Begriff Hauptton zwar dasselbe wie Weber. Den Bass eines Akkordes<br />
bezeichnet Vogler jedoch als „Gr<strong>und</strong>ton“. Dagegen bezeichnet er das, was Weber hier<br />
als „Gr<strong>und</strong>ton“ ansieht, nämlich den Basston eines Dreiklanges in Gr<strong>und</strong>stellung, 74 als<br />
„Hauptklang“ (vgl. oben). Dem gegenüber unterscheidet Sulzer explizit zwischen<br />
Hauptton <strong>und</strong> Tonika: Die Tonika verändere „mit jeder Ausweichung ihren Platz“,<br />
während der Hauptton „durchs ganze Stück derselbe bleibt“ (vgl. oben). Weber weist<br />
auch darauf hin, dass die Terz <strong>und</strong> Quint eines gr<strong>und</strong>ständigen Dreiklanges gelegentlich<br />
als „Mediante“ <strong>und</strong> „Dominante“ bezeichnet werden, er von diesen Ausdrücken in dem<br />
Zusammenhang jedoch absehe, um insbesonders den Begriff „Dominante“ auf den<br />
Dreiklang der V. Stufe anwenden zu können. 75<br />
Nachdem in der deutschen <strong>Musiktheorie</strong> der systematische Anteil von Fétis’ <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />
bereits mit dem Begriff Tonart belegt war, sollte es nicht überraschen, wenn<br />
diese Begriffe bis heute häufig synonym verwendet wurden (insbesondere auch im<br />
romanischen <strong>und</strong> angelsächsischen Sprachgebrauch 76 ). Auch das in dieser Zeit zunehmende<br />
„Ersetzen“ des bestimmenden Merkmals bei Fétis – die Auflösung der Dominante<br />
– durch den Begriff Tonika erklärt sich aus diesem Zusammenhang. Gerade in<br />
den Jahren 1830 bis 1860 fällt zudem auf, dass der Begriff im deutschsprachigen Raum<br />
häufig im Zusammenhang mit der von Fétis beschriebenen historischen Entwicklung<br />
von der alten zur neuen <strong>Tonalität</strong> erwähnt wird. Insofern wurde der Teil aus Fétis<br />
<strong>Tonalität</strong>sbegriff extrahiert, der aus Sicht der deutschsprachigen <strong>Musiktheorie</strong> etwas<br />
Besonderes darstellte, nämlich das Bewerten der dur-moll-tonalen Entwicklungs-<br />
73<br />
Als Synonyme für den Begriff „tonische Harmonie“ führt Weber noch folgende an: „tonischer<br />
Accord“, „Haupt- oder Principal-Akkord“; als Synonyme für den Begriff „Tonica“: „tonische Note“,<br />
„erste Note“, „erste Stufe“, „Prime“, „Finalnote“, „Finalsaite“, „Principalnote“, „Hauptton“, „Hauptnote“<br />
(vgl. ebda.).<br />
74<br />
Vgl. ebda., S. 213.<br />
75<br />
Vgl. ebda., S. 199-200.<br />
76<br />
Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 7.<br />
19
geschichte mittels der harmonischen Syntax. 77 Auf den besonderen Schwerpunkt der<br />
Musikgeschichte in Fétis’ Werk weist auch die oben erwähnte Rezension der Neuen<br />
Zeitschrift für Musik hin, wenn auch das Fehlen von „Poesie“ in seinen Schriften<br />
bemängelt wird:<br />
[...] da er [Fétis] tiefe <strong>und</strong> sehr mannichfache Kenntnis in allen Theilen der Geschichte der<br />
Musik besitzt, so herrscht das Geschichtliche auf eine auffallende Weise vor, indem es alles<br />
andere in den Hintergr<strong>und</strong> zurückdrängt. Die Poesie hat hierbei nichts zu thun, <strong>und</strong> läßt Hrn.<br />
Fétis mit seinen Jahreszahlen oft allein dastehen. 78<br />
Als musikhistorischer Ausdruck zur Unterscheidung unterschiedlicher Epochen wird<br />
der Begriff <strong>Tonalität</strong> in den 1840er Jahren häufig rezipiert. Bei der deutschen Übersetzung<br />
von Félicité Robert de Lamennais’ Gr<strong>und</strong>riss einer Philosophie (1841), der sich<br />
dabei wohl direkt auf Fétis bezieht, heißt es:<br />
Monteverde brachte, vielleicht ohne es zu wissen, diese große Revolution zu Stande. In Folge<br />
der Kühnheit seines Talents allein, schuf er, indem er das Verhältniß der Übergangsnote mit der<br />
vierten Stufe angab, die natürlichen Dissonanzen der Harmonie <strong>und</strong> sofort die Modulation; an<br />
die Stelle der <strong>Tonalität</strong> des Kirchengesanges, die sich mit diesen Abänderungen nicht vertrug,<br />
setzte er eine andere <strong>Tonalität</strong> [...], kurz er war der Erfinder einer neuen Musik. 79<br />
Carl Georg August Vivigens von Winterfeld macht in einer Biographie des Komponisten<br />
Adam Gumpelzhaimer darauf aufmerksam, dass sich bei diesem auch bereits die<br />
neue <strong>Tonalität</strong> anbahne. In diesem Artikel verweist er auch ausdrücklich auf Fétis: 80<br />
Einen wirklichen Leitton konnte deshalb die ältere Tonkunst nicht besitzen, <strong>und</strong> die <strong>Tonalität</strong><br />
unserer Tage war damals unmöglich. [...] Was die Tonlehre so bestimmt untersagt hatte, wurde<br />
aber durch einen glücklichen Instinct Monteverde’s gewagt; er schuf dadurch die natürlichen<br />
77<br />
Bryan Simms schreibt über die Bedeutung von Fétis’ historischer Darstellung: „His vision of an<br />
omnitonic order in music was a remarkable innovation to historic and theoretic concepts of the nineteenth<br />
century. Many of his contemporary critics viewed the course of music of their own time<br />
vaguely as a process of increasing complexity; others, such as Choron and Castil-Blaze, saw contemporary<br />
music as some sort of interaction of the various national ‚schools’. It was to Fetis’s credit, then,<br />
that he rightly saw the history of nineteenth-century music as essentially a matter of changing harmonic<br />
styles and techniques.“ (Simms, Choron, Fetis, S. 132).<br />
78<br />
Journalschau (Fortsetzung). VI. Revue musicale, S. 230.<br />
79<br />
Félicité Robert de Lamennais, Gr<strong>und</strong>riss einer Philosophie Bd. 3, Paris/Leipzig: Jules Renouard<br />
1841, S. 284.<br />
80<br />
Vgl. Carl Georg August Vivigens von Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang <strong>und</strong> sein<br />
Verhältniss zur Kunst des Tonsatzes Bd. 1, Leipzig: Breitkopf <strong>und</strong> Härtel 1843, S. 498.<br />
20
Mißklänge der Harmonie, denn er erkannte den in der diatonischen Leiter enthaltenen Tritonus<br />
als rechten Hebel für die Ausweichung, <strong>und</strong> erfand dadurch die <strong>Tonalität</strong>, das chromatische Geschlecht.<br />
Ein Mann nur vor ihm, Adam Gumpelzhaimer, bahnte diese Erfindung an, aber<br />
niemand hat seiner gedacht. 81<br />
Zu den ersten musiktheoretischen Schriften im deutschsprachigen Raum, die den<br />
Ausdruck <strong>Tonalität</strong> verwenden, zählt Siegfried Wilhelm Dehns Theoretisch-praktische<br />
Harmonielehre (1840). 82 Allerdings ist für Dehn der Ausdruck <strong>Tonalität</strong> offenbar noch<br />
nicht von großer musiktheoretischer Bedeutung, so gibt er weder eine Definition des<br />
Begriffs, noch erwähnt er ihn im Stichwortverzeichnis des Buches. 83 Einmal verwendet<br />
Dehn den Begriff recht beiläufig im Zusammenhang mit den Verwandtschaftsverhältnissen<br />
der Tonarten, ein andermal – <strong>und</strong> hier eindringlicher – benutzt Dehn den Begriff<br />
im Zusammenhang mit der Geschichte der Dur-Moll-Harmonik:<br />
Bis zu den Zeiten Monteverde’s (vergl. pag. 289) herrschte die <strong>Tonalität</strong> der sogenannten<br />
Kirchentonarten [...]. Erst mit Einführung der neuen <strong>Tonalität</strong> wurde das Feld selbstständiger<br />
neuer Harmonieen erweitert, <strong>und</strong> hiermit entstand denn auch die Nothwendigkeit einer selbstständigen<br />
Harmonielehre [...]. 84<br />
Auf der angegebenen Seite 289 schreibt Dehn:<br />
Die regelmässige Behandlung der Dissonanzen, d. h. ihr Eintreten mittelst vorher liegender<br />
Consonanz, ihre stufenweise Auflösung, u. s. w., gehörte früher zu den wesentlichen Bedingungen<br />
der sogenannten strengen oder geb<strong>und</strong>enen Schreibart [...]. Bis zu der Zeit des Claudio<br />
Monteverde [...] herrschte diese Schreibart fast allgemein [...].<br />
Zu den bedeutendsten Neuerungen jener Zeit nun gehören Monteverde’s Versuche in einer freieren<br />
Behandlung der Dissonanzen; er war der Erste, welcher in mehreren Stimmen zu gleicher<br />
Zeit Vorhalte anbrachte [...]. 85<br />
Auch wenn Dehn nicht ausdrücklich Fétis als Quelle angibt, so ist der Zusammenhang,<br />
in dem der Begriff <strong>Tonalität</strong> hier verwendet wird, doch von auffälliger Ähnlichkeit zu<br />
den oben angegebenen Zitaten von Lamennais <strong>und</strong> Winterfeld. Alle drei beziehen sich<br />
81 Ebda., S. 499.<br />
82 Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 7.<br />
83 Vgl. Siegfried Wilhelm Dehn, Theoretisch-praktische Harmonielehre mit angefügten Generalbassbeispielen,<br />
Berlin: Wilhelm Thome 1840, S. 311-315.<br />
84 Ebda., S. 306-307.<br />
85 Ebda., S. 289.<br />
21
dabei auf Monteverdi als den Urheber der neuen <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> dessen besondere Behandlung<br />
der Dissonanzen beziehungsweise deren Auflösung.<br />
Die weitere Stelle in der Dehn den Begriff <strong>Tonalität</strong> verwendet ist im Zusammenhang<br />
mit den Verwandtschaftsverhältnissen der Tonarten. Er spricht dabei von der unveränderten<br />
„<strong>Tonalität</strong> der Tonart C-Dur“:<br />
Weiter als bis zum vollkommenen Gr<strong>und</strong>dreiklang von D moll kann, mit Rücksicht auf unveränderte<br />
<strong>Tonalität</strong> der Tonart C Dur, diese Kette von Dreiklängen nicht geführt werden; denn<br />
nach dem Dreiklange d, f, a, würde b, d, f, folgen, der einen der Tonart C Dur fremden Ton,<br />
nemlich b, mit sich führt. 86<br />
Die Dreiklangskette, von der Dehn hier spricht, ist die alterierende Terzenreihe C-Dur,<br />
a-Moll, F-Dur, d-Moll. Das Verändern der „<strong>Tonalität</strong> der Tonart“ durch ein Weiterführen<br />
dieser Reihe mit B-Dur ist hier nichts anderes als das Verändern der Tonart<br />
selbst. In so fern bahnt sich hier bereits die spätere Vermischung der beiden Termini<br />
Tonart <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong> an. Unter Tonart versteht Dehn den „Inbegriff von acht Tönen [der<br />
Dur- bzw. Moll-Tonleiter], deren jeder einzelne zu einem bestimmten Ton, Haupt- oder<br />
Gr<strong>und</strong>ton, in einem einmal als Norm angenommenen Verhältnisse der Entfernung<br />
steht.“ 87 Dehn verwendet die Bezeichnungen Hauptton <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>ton synonym mir dem<br />
Intervall der „Prim“, von der I. Stufe der Tonart aus gerechnet. Als „Nebenbenennung“<br />
für diesen Ton gibt er die Bezeichnung „Tonica“ an. Das von der Tonika aus gerechnete<br />
Intervall der großen Terz bezeichnet Dehn des Weiteren als „Mediante“, das Intervall<br />
der Quint als „Dominante“ <strong>und</strong> das Intervall der Septime als „Leitton“. 88 Diese besondere<br />
Verbindung des Tonartbegriffs mit den Intervallen im Bezug auf die I. Stufe ist<br />
ein herausragendes Merkmal in Dehns theoretischen Überlegungen. Davon ausgehend<br />
deutet Dehn die Tonartverwandtschaften anhand der Konsonanzen <strong>und</strong> Dissonanzen der<br />
Tonart. Als konsonante Intervalle lässt Dehn in diesem Zusammenhang nur die große<br />
<strong>und</strong> kleine Terz, die reine Quint, die große <strong>und</strong> kleine Sext <strong>und</strong> die reine Oktav gelten.<br />
Die Intervalle Sek<strong>und</strong>, Quart <strong>und</strong> Septim seien dagegen dissonant. 89 Laut Dehn sind nun<br />
86 Ebda., S. 234.<br />
87 Ebda., S. 58.<br />
88 Vgl. ebda., S. 78.<br />
89 Vgl. ebda., S. 82.<br />
22
jene Tonarten miteinander verwandt, deren Gr<strong>und</strong>dreiklänge sich aus Konsonanzen<br />
einer anderen Tonart zusammensetzen:<br />
In jeder Tonart giebt es zwei vollkommene Dreiklänge, d. h. solche, die nur aus Consonanzen<br />
der Tonart bestehen. [...] In C Dur sind diese beiden Dreiklänge c, e, g <strong>und</strong> a, c, e; in C moll: c,<br />
es, g, <strong>und</strong> as, c, es; in A moll a, c, e <strong>und</strong> f, a, c; u. s. w. Beiläufig kann hier auch noch erwähnt<br />
werden, dass der Dominantenakkord jeder Tonart sich in einen dieser beiden vollkommenen<br />
Dreiklänge auflöst, wenn die Auflösung überhaupt eine regelmässige ist [...].<br />
Mit Rücksicht auf das Wesen der Consonanzen <strong>und</strong> Dissonanzen einer Tonart, [...] kann hier nun<br />
auch der Gr<strong>und</strong>satz aufgestellt werden, dass diejenigen Tonarten am nächsten mit einander verwandt<br />
sind, deren vollkommene Gr<strong>und</strong>dreiklänge (oder Dreiklänge auf dem - Gr<strong>und</strong>ton der<br />
Tonart) in einer <strong>und</strong> derselben Tonart als vollkommene Dreiklänge vorkommen. 90<br />
Dem entsprechend bildet Dehn die oben beschriebene Verwandtschaftsreihe C-Dur,<br />
a-Moll, F-Dur, d-Moll <strong>und</strong> in umgekehrter Richtung C-Dur, e-Moll <strong>und</strong> G-Dur (vgl.<br />
Abbildung 5).<br />
Abbildung 5: Verwandtschaftsreihe der Tonarten nach Siegfried Wilhelm Dehn. 91<br />
90 Ebda., S. 233.<br />
91 Ebda., S. 234.<br />
23
Als Übersicht der Verwandtschaftsbeziehungen aller Tonarten gibt Dehn folgendes<br />
Schema an (vgl. Abbildung 6).<br />
Abbildung 6: Schema der Tonartverwandtschaften nach Siegfried Wilhelm Dehn 92<br />
Mit dieser außerordentlichen Einschätzung der Verwandtschaftsverhältnisse über einen<br />
alterierenden Terzenzirkel 93 widerspricht Dehn den gängigen Meinungen der meisten<br />
Zeitgenossen, welche die Tonartverhältnisse meist über den Quintenzirkel oder – wie im<br />
Falle von Gottfried Weber – aus einer Mischung von Quintenzirkel <strong>und</strong> verwandten<br />
Molltonarten deuten. 94 Für Weber, der den Quintenzirkel als ersten Verwandtschaftsgrad<br />
ansieht, sind entsprechend nicht a-Moll <strong>und</strong> e-Moll die nächst verwandten Tonarten<br />
von C-Dur, sondern F-Dur <strong>und</strong> G-Dur. 95 Auch Weber kommt zu einem vergleichbaren,<br />
jedoch nicht identischen, Schema der Verwandtschaftsgrade (vgl. Abbildung<br />
7). 96 Einer der wichtigsten Unterschiede der beiden Auffassungen ist, dass in Webers<br />
Darstellung die Tonarten A-Dur <strong>und</strong> Es-Dur dem Verwandschaftsgrad nach C-Dur sehr<br />
92<br />
Ebda., S. 235.<br />
93<br />
Der alterierende Terzenzirkel beinhaltet auch die Verwandtschaftsverhältnisse des Quintenzirkels<br />
bzw. Quartenzirkels, worauf Siegfried Wilhelm Dehn bei seinen weiteren Ausführungen auch eingeht<br />
(vgl. Dehn, Theoretisch-praktische Harmonielehre, S. 235f). Moritz Hauptmann verwendet in seinen<br />
Theorien vergleichbare Terzenzirkel, allerdings ergibt sich dieser aus anderem Zusammenhang (vgl.<br />
Abbildung 9). Bei Hugo Riemann gewinnt die Terzverwandtschaft durch die Funktionen der Parallel<strong>und</strong><br />
Wechselklänge eine große Bedeutung <strong>und</strong> im späten 20. Jahrh<strong>und</strong>ert werden die Verwandtschaftsverhältnisse<br />
des Terzenzirkels auch von der sogenannten Transformation-Theory <strong>und</strong> der<br />
musiktheoretischen Neo-Riemann-Bewegungen wieder aufgegriffen (vgl. S. Fehler! Textmarke<br />
nicht definiert.).<br />
94<br />
Vgl. Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 69-86.<br />
95<br />
Vgl. ebda. S. 70f.<br />
96<br />
Für ein komplettes Schema der Verwandtschaftsverhältnisse nach Gottfried Weber, siehe Anhang b,<br />
Abbildung 77.<br />
24
viel näher liegen, als in Dehns Schema. Auf eine Inkonsequenz in diesem Zusammenhang<br />
deutet Weber selbst hin:<br />
Nach der […] Darstellung [Abbildung 7] sind die eben genannten vier Tonarten [D, A, Es <strong>und</strong><br />
B] mit C im zweiten Grade, also sämtlich gleich nahe, verwandt; dennoch ist diese Verwandtschaft,<br />
genauer betrachtet, nicht ganz gleich innig. Man fühlt es schon, ohne genaue Betrachtung,<br />
dass Es <strong>und</strong> A dem C im Gr<strong>und</strong>e doch noch fremder sind als D, B, e, d, f <strong>und</strong> g. 97<br />
Auf der anderen Seite trägt Weber der Verwandtschaft zwischen C-Dur <strong>und</strong> c-Moll<br />
Rechnung, welche in Dehns Darstellung dem Verwandtschaftsverhältnis zu Es-Dur<br />
untergeordnet ist.<br />
Abbildung 7: Schema der Tonartverwandtschaften nach Gottfried Weber 98<br />
Ebenso unvermittelt wie Siegfried Wilhelm Dehn verwendet Arrey von Dommer in<br />
seinem 1862 erschienenen Elemente der Musik den Begriff <strong>Tonalität</strong>. Auch Dommer<br />
gibt keinerlei Definition des Begriffs <strong>Tonalität</strong> an <strong>und</strong> hält ihn nicht für wichtig genug<br />
ihn in sein Stichwortverzeichnis als Hauptbegriff aufzunehmen. 99 Allerdings erscheint<br />
der Begriff im Stichwortverzeichnis eigenartigerweise als Unterbegriff von „Periode“<br />
(„- deren <strong>Tonalität</strong>“). 100 Die dort verwiesene Stelle ist auch die wichtigste Stelle im<br />
Buch, die sich dem Begriff widmet:<br />
Kehren wir jedoch für’s Erste zur einfachen achttaktigen Periode zurück <strong>und</strong> betrachten sie in<br />
Betreff ihrer <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Cadenzen.<br />
Die <strong>Tonalität</strong> kann verschieden sein. Eine Periode kann:<br />
1. vollständig tonisch gehalten sein, auf der Tonika beginnen, bleiben <strong>und</strong> schliessen;<br />
97<br />
Vgl. Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 81.<br />
98<br />
Ebda., S. 81.<br />
99<br />
Vgl. Arrey von Dommer, Elemente der Musik, Leipzig: T. O. Weigel 1862, S. 368.<br />
100 Vgl. ebda., S. 366.<br />
25
2. auf der Tonika beginnen <strong>und</strong> schliessen, aber durchgehend in andere leitereigene Töne<br />
modulieren;<br />
3. auf der Tonika beginnen, aber in einen anderen Ton hinein moduliren <strong>und</strong> in diesem schließen;<br />
4. weder auf der Tonika beginnen, noch in einem bestimmten Ton verharren, sondern beständig<br />
aus einem in den anderen modulieren, wie die sogenannten Modulationsperioden,<br />
welche inmitten aller grösseren Sätze vorkommen. 101<br />
Bei Dommers Beschreibung der möglichen harmonischen Schwerpunkte einer Periode,<br />
also deren Ausweichungen beziehungsweise Modulationen, lässt sich eine wichtige<br />
Bedeutungsänderung in Bezug auf den Begriff „Tonika“ feststellen. 102 Während bei<br />
Sulzer die Tonika noch „mit jeder Ausweichung ihren Platz verändert“ 103 (vgl. S. 17),<br />
verwendet Dommer den Begriff Tonika bereits, um damit einen übergeordneten<br />
Bezugspunkt zu bezeichnen, der unabhängig von den Modulationen innerhalb eines<br />
Satzes gleich bleibt. Im Zusammenhang mit der Fugenkomposition schreibt Dommer:<br />
Führer <strong>und</strong> Gefährte stehen also im Verhältniss der Tonika <strong>und</strong> Dominant. [...]<br />
Vor allem ist zu beachten, dass Einheit der <strong>Tonalität</strong> zwischen Gefährten <strong>und</strong> Führer aufrecht erhalten<br />
werde, der Gefährte also von der Haupttonart nicht zu weit sich entferne, nicht einmal die<br />
Dominanttonart gleich beim Eintritt als eine durchaus selbstständige Tonart hinstelle, sondern als<br />
eine vom Hauptton abhängige. 104<br />
Diese Aussage legt nahe, dass Dommer zwischen den Begriffen <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Tonart in<br />
ähnlicher Weise unterscheidet wie zwischen der Tonika <strong>und</strong> einer vorübergehenden<br />
Hauptstufe innerhalb einer Ausweichung. <strong>Tonalität</strong> wäre dann für Dommer ein allgemeinerer<br />
Begriff als Tonart <strong>und</strong> bezieht sich immer auf die Tonart der Tonika – die<br />
„Haupttonart“. Während sich innerhalb einer Periode die Tonart durch Ausweichung<br />
oder Modulation verändern kann, bleibt die <strong>Tonalität</strong> gemeinsam mit der Tonika bestehen.<br />
Diese wichtige Einsicht – die Möglichkeit <strong>Tonalität</strong> als übergeordneten Tonartbegriff<br />
anzusehen – wurde später auch von Hugo Riemann wieder aufgegriffen (vgl. S.<br />
35).<br />
101 Ebda., S. 156.<br />
102 Vgl. auch Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 7.<br />
103 Sulzer, Allgemeine Theorie, S. 783.<br />
104 Dommer, Elemente der Musik, S. 196.<br />
26
1.4 Hauptmann – Helmholtz – Oettingen<br />
Moritz Hauptmann vertrat in seinem Buch Die Natur der Harmonik <strong>und</strong> der Metrik<br />
(1853) bereits ähnliche Ansichten wie Arrey von Dommer, allerdings ohne dabei direkt<br />
auf den Begriff <strong>Tonalität</strong> zu verweisen. Hauptmann war der Naturklangtheorie verb<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> führte in seinem Buch eine eigene Schreibweise ein, die zwischen Terzen<br />
<strong>und</strong> Quinten unterscheidet, um damit den Unterschied zwischen vier reinen Quinten <strong>und</strong><br />
einer reinen Terz hervorzuheben. Aus Sicht eines Dur-Dreiklangs bezeichnet Hauptmann<br />
Terzen mit Kleinbuchstaben, Gr<strong>und</strong>ton oder Quint dagegen mit Großbuchstaben<br />
(z.B. „e–G–C“ als erste Umkehrung von C-Dur). 105 Für ihn gab es drei unveränderliche,<br />
„direkt verständliche“ Intervalle: die Oktav, die Quint <strong>und</strong> die Terz. Die Oktav repräsentiert<br />
für Hauptmann „Identität“ <strong>und</strong> „Gleichheit“, die Quint „Zweiheit“ <strong>und</strong> „inneren<br />
Gegensatz“ <strong>und</strong> die Terz sieht er als „Gleichsetzung des Entgegengesetzten: der Zweiheit<br />
als Einheit“ an. 106<br />
Wenn die Oktave Ausdruck ist für Einheit, so spricht die Quint die Zweiheit oder Trennung aus,<br />
die Terz Einheit der Zweiheit oder Verbindung. Die Terz ist die Verbindung der Oktave <strong>und</strong><br />
Quint. 107<br />
In Hauptmanns Vorstellung von These, Antithese <strong>und</strong> Synthese spiegelt sich die Philosophie<br />
der Hegelschen Dialektik wider. Diese dialektische Denkweise durchdringt<br />
Hauptmanns Theorien auf allen musikalischen Ebenen: den Akkorden, den Akkordfortschreitungen,<br />
der Form <strong>und</strong> auch der Rhythmik <strong>und</strong> Metrik. 108 So verbinden sich die<br />
drei Momente Oktave, Terz <strong>und</strong> Quint im Dreiklang wiederum zum „gegliederten<br />
Ganzen“, zur „Einheit“. Als Gegensatz stehen dem Dreiklang der Tonika die Antithesen<br />
Dominante <strong>und</strong> Subdominante gegenüber, die in der Tonart als „Dreiklang höherer<br />
Ordnung“ wiederum mit der Tonika vereint werden. 109 Abbildung 8 zeigt ein Schema<br />
Hauptmanns, welches die dialektischen Beziehungen der Tonart darstellt. Die römischen<br />
Ziffern entsprechen dabei den Momenten Antithese (I–II) <strong>und</strong> Synthese (III).<br />
105<br />
Vgl. Moritz Hauptmann, Die Natur der Harmonik <strong>und</strong> der Metrik. Zur Theorie der Musik, Leipzig:<br />
Breitkopf u. Härtel 1853, S. 11.<br />
106<br />
Vgl. ebda., S. 21f.<br />
107<br />
Ebda., S. 22.<br />
108<br />
Vgl. ebda., S. 23.<br />
109<br />
Vgl. ebda., S. 27.<br />
27
Abbildung 8: Hauptmanns dialektischer Tonartbegriff. 110<br />
Hauptmann vertritt also wie Weber die Vorstellung eines Tonartbegriffs, der durch die<br />
Kadenz – die Beziehungen zwischen Subdominante, Dominante <strong>und</strong> Tonika – definiert<br />
wird. Allerdings nimmt die Tonika eine besonders zentrale Rolle als verbindendes<br />
Element der Antithesen Dominante <strong>und</strong> Subdominante ein. Folgende Aussage legt sogar<br />
nahe, dass die Begriffe Tonika <strong>und</strong> Tonart aus Hauptmanns Sicht im Gr<strong>und</strong>e austauschbar<br />
sind, da das Vorhandensein einer Tonika automatisch eine Tonart entstehen lässt:<br />
Die Tonart entstand, wenn der gegebene Dreiklang, nachdem er durch den Unter- <strong>und</strong> Ober-<br />
Dominant-Accord, mit sich selbst in Gegensatz gekommen war, diesen Gegensatz als Einheit in<br />
sich zusammenfasste <strong>und</strong> damit Tonica wurde. 111<br />
Auch die Beziehungen zwischen Tonarten deutet Hauptmann in weiterer Konsequenz<br />
gemäß den Regeln der Hegelschen Dialektik. Der „tonischen Tonart“, als „Mitte eines<br />
Tonartensystems“, treten als Antithesen die Tonarten der Dominante <strong>und</strong> der Subdominante<br />
entgegen. 112 Abbildung 9 zeigt diese Tonartbeziehungen; die dargestellte alterierende<br />
Terzfolge (B–d–F–a–C usw.) erinnert zwar an das Schema der Tonartverwandtschaften<br />
von Siegfried Wilhelm Dehn (Abbildung 6), sollte jedoch nicht mit diesem<br />
verwechselt werden, da die Kleinbuchstaben sich hier nicht auf einen Moll-Dreiklang<br />
beziehen, sondern lediglich die Terz eines Dur-Dreiklangs bezeichnen.<br />
110 Ebda., S. 26.<br />
111 Ebda., S. 30.<br />
112 Ebda., S. 30f.<br />
28
Abbildung 9: Dialektische Tonartbeziehungen Hauptmanns. 113<br />
Größere Popularität erlangte der Begriff <strong>Tonalität</strong> im deutschsprachigen Raum erst in<br />
den 1860er Jahren. Auslöser dafür war Hermann von Helmholtz’ 1863 publiziertes<br />
Buch Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Gr<strong>und</strong>lage für die<br />
Theorie der Musik. Diese Veröffentlichung hatte nicht nur weit reichende Auswirkungen<br />
auf die <strong>Musiktheorie</strong> selbst, sondern auch auf benachbarte Disziplinen. Für die<br />
rasche Verbreitung des Begriffs <strong>Tonalität</strong> in den folgenden Jahren sorgten unter<br />
anderem mehrere naturwissenschaftliche Fachzeitschriften, die sich mit Helmholtz’<br />
Theorien auseinander setzten. So finden sich beispielsweise im Jahresbericht über die<br />
Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im Jahre 1862 114 (1863) oder in<br />
Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiet d. Naturwissenschaft 115<br />
(1863) Rezensionen von Helmholtz’ Buch <strong>und</strong> auch in den folgenden Jahren waren<br />
seine Theorien ein sehr häufig diskutiertes Gesprächsthema in der wissenschaftlichen<br />
Literatur. Helmholtz schlug damit zum ersten Mal eine Brücke zwischen der bis dahin<br />
weitgehend isoliert voneinander agierenden <strong>Musiktheorie</strong> <strong>und</strong> den Naturwissenschaften,<br />
insbesondere der Akustik <strong>und</strong> der Psychologie. Gemeinsam mit den beiden von Carl<br />
Stumpf 1883/1890 veröffentlichten Bänden Tonpsychologie 116 hat Helmholtz damit<br />
auch die Gr<strong>und</strong>steine für die neue Wissenschaft der Musikpsychologie gelegt. Wie<br />
selbstverständlich der Begriff <strong>Tonalität</strong> zu jener Zeit plötzlich geworden war, illustriert<br />
ein Artikel aus dem Jahre 1864, in dem der Autor den Begriff <strong>Tonalität</strong> als Übersetzung<br />
des lateinischen „tonus“ einführt. 117<br />
113 Ebda., S. 31.<br />
114 Gabriel Gustav Valentin, Bericht über die Leistungen in der Psychologie, in: Jahresbericht über die<br />
Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im Jahre 1862 (Bd. 1 Psychologische Wissenschaften),<br />
Würzburg: Stahle’sche Buch <strong>und</strong> Kunsthandlung 1863, S. 103-, 197, hier S. 159f.<br />
115 Wissenschaftliche Begründung der Musik, in: Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen auf dem<br />
Gebiet d. Naturwissenschaft (Bd. 25 oder neue Folge Bd. 13), Leipzig: Gerhardt & Reisland 1863, S.<br />
481-487.<br />
116 Carl Stumpf, Tonpsychologie [1883/1890] (2 Bde.), Leipzig: Hirzel 1965.<br />
117 „Die <strong>Tonalität</strong> ist eine gewisse Beschaffenheit der Melodie“ – „Tonus est certa qualitas melodiae“<br />
(August Wilhelm Ambros, Die ersten Zeiten der neuen christlichen Welt <strong>und</strong> Kunst [Bd. 2 Geschichte<br />
der Musik], Breslau, F. E. C. Leuckard 1864, S. 54).<br />
29
Die neu gewonnene Nähe zu den Naturwissenschaften <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene<br />
Aussicht die <strong>Musiktheorie</strong> wissenschaftlich zu f<strong>und</strong>ieren wurde von vielen Musiktheoretikern<br />
der Zeit bereitwillig aufgenommen. . Es entstand aus diesem Streben –<br />
ganz im Sinne der wissenschaftlichen Aufbruchsstimmung des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts – die<br />
zunehmende Forderung nach wissenschaftlichen Arbeitsmethoden in der <strong>Musiktheorie</strong>.<br />
Diese Tendenz zur wissenschaftlichen Methode hat in vielen Bereichen des Fachs bis<br />
heute angehalten <strong>und</strong> wurde gerade in den letzten Jahrzehnten z.B. durch die Kognitionswissenschaft<br />
oder die transformational theory wieder belebt. Ernst Kurth war 1931<br />
der Ansicht „die <strong>Musiktheorie</strong> sei für die Musikpsychologie ungefähr das, was das<br />
Experiment für die Tonpsychologie sei.“ 118 Auch Thesen <strong>und</strong> Termini anderer Disziplinen<br />
wurden bereitwillig in den musiktheoretischen Sprachgebrauch übernommen. So<br />
verwendet Kurth beispielsweise die Begriffe „kinetische Energie“ im Zusammenhang<br />
mit melodischen Linien <strong>und</strong> „potentielle Energie“ im Zusammenhang mit Akkorden;<br />
diese Energien können laut Kurth ineinander umgewandelt werden. 119 Kurth war auch<br />
der Ansicht, „daß Töne eine Tendenz haben gegen den Naturklang hin zu ‚gravi-<br />
tieren‘.“ 120<br />
Im Gegensatz zu vorangegangenen Musiktheoretikern verwendet Helmholtz den Begriff<br />
<strong>Tonalität</strong> nicht mehr willkürlich, sondern setzt ihn gezielt <strong>und</strong> systematisch ein. Die in<br />
diesem Zusammenhang meist zitierte Stelle lautet:<br />
Die moderne Musik hat hauptsächlich das Princip der <strong>Tonalität</strong> streng <strong>und</strong> consequent entwickelt,<br />
wonach alle Töne eines Tonstücks durch die Verwandtschaft mit einem Hauptton, der<br />
Tonica, zusammengeschlossen werden. 121<br />
Dabei bezieht sich Helmholtz bewusst auf den <strong>Tonalität</strong>sbegriff von Fétis, schränkt<br />
diesen allerdings auf dessen systematischen Aspekt ein <strong>und</strong> verwirft damit die bis dahin<br />
118<br />
Ludwig Holtmeier, Die Erfindung der romantischen Harmonik, in: Zwischen Komposition <strong>und</strong><br />
Hermeneutik: Festschrift für Hartmut Fladt, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 115; Vgl.<br />
Ernst Kurth, Musikpsychologie, Hildesheim/New York: Georg Olms 1969, S. 72.<br />
119<br />
Vgl. Andreas Moraitis, Zur Theorie der musikalischen Analyse, Frankfurt a. M./ Wien: Lang 1994, S.<br />
229-231.<br />
120<br />
Helga de la Motte-Haber, Kräfte im musikalischen Raum. Musikalische Energetik <strong>und</strong> das Werk von<br />
Ernst Kurth, in: <strong>Musiktheorie</strong> (Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft Bd. 2), Laaber:<br />
Laaber 2005, S. 284-310, hier S. 292.<br />
121<br />
Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Gr<strong>und</strong>lage Für die<br />
Theorie der Musik, Braunschweig: Friedrich Vieweg <strong>und</strong> Sohn 1863, S. 8.<br />
30
wichtige musikgeschichtliche Bedeutung von <strong>Tonalität</strong> als Bezeichnung einer durch<br />
harmonische Beziehungen geprägten Epoche.<br />
Wir können die Herrschaft der Tonica als des bindenden Mittelgliedes für sämtliche Töne des<br />
Satzes mit Fétis als das Princip der <strong>Tonalität</strong> bezeichnen. Dieser gelehrte Musiker hat mit Recht<br />
darauf aufmerksam gemacht, dass in den Melodien verschiedener Nationen die <strong>Tonalität</strong> in sehr<br />
verschiedenem Grade <strong>und</strong> verschiedener Weise entwickelt sei. 122<br />
Auffällig ist bei dieser Interpretation von Fétis <strong>Tonalität</strong>sbegriff, dass die Töne sich laut<br />
Helmholtz nicht auf eine Skala beziehen, sondern nunmehr einzig <strong>und</strong> allein auf den<br />
Hauptton, die Tonika. Auch wird von Helmholtz hervorgehoben, dass scheinbar unterschiedliche<br />
Nationen nicht unterschiedliche <strong>Tonalität</strong>en hervorbringen, sondern dass<br />
„die <strong>Tonalität</strong> in sehr verschiedenem Grade <strong>und</strong> verschiedener Weise entwickelt sei“.<br />
Damit hat Helmholtz den Begriff <strong>Tonalität</strong> endgültig auf eine ganz bestimmte Ausprägung<br />
musikalischer Syntax in der europäischen Kunstmusik reduziert <strong>und</strong> ihm jene<br />
Bedeutung gegeben, in der er auch heute noch zumeist verwendet wird.<br />
Inspiriert durch Helmholtz’ Veröffentlichung, begann der Physiker Arthur von<br />
Oettingen sich kurz darauf dem Thema <strong>Musiktheorie</strong> zuzuwenden. Oettingen veröffentlichte<br />
1866 sein Buch Harmoniesystem in dualer Entwickelung – Studien zur Theorie<br />
der Musik 123 , das in der wissenschaftlichen Literatur zunächst ähnlich bereitwillig<br />
rezipiert wurde wie Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen. Oettingens Theorie<br />
baut auf Moritz Hauptmanns dialektischer Interpretation musikalischer Strukturen <strong>und</strong><br />
Zusammenhänge auf. Dabei denkt Oettingen streng dualistisch <strong>und</strong> stellt der Obertonreihe<br />
eine theoretische „Untertonreihe“ gegenüber, aus der er den Moll-Dreiklang sowie<br />
die Molltonart ableitet. Unter einer Untertonreihe versteht Oettingen „all diejenigen<br />
Töne, die einen gegebenen Ton als Oberton enthalten.“ 124 Oettingen bezeichnet den<br />
Gr<strong>und</strong>ton eines Dur-Dreiklanges als den „tonischen Gr<strong>und</strong>ton“. Diesem stellt er den<br />
„phonischen Oberton“ entgegen, den tiefsten Partialton, den alle Akkordtöne gemeinsam<br />
haben. 125 Der tonische Gr<strong>und</strong>ton von C-Dur ist der Ton C, der phonische<br />
Oberton ist dagegen der Ton H; der tonische Gr<strong>und</strong>ton von c-Moll der Ton As, der<br />
122<br />
Ebda., S. 395.<br />
123<br />
Arthur von Oettingen, Harmoniesystem in dualer Entwickelung -Studien zur Theorie der Musik,<br />
Dorpat/Leipzig: Gläser 1866.<br />
124<br />
Ebda., S. 31.<br />
125<br />
Vgl. ebda., S. 32.<br />
31
phonische Oberton ist dagegen der Ton G. 126 Oettingen bezeichnet in weiterer Folge<br />
Dur-Dreiklänge als tonische Klänge <strong>und</strong> benennt sie nach dem tonischen Gr<strong>und</strong>ton (C-<br />
Dur = „C + “); Moll-Dreiklänge bezeichnet Oettingen als phonische Klänge <strong>und</strong> benennt<br />
sie nach dem phonischen Oberton (c-Moll = „g°“). 127 In entsprechender Weise stellt<br />
Oettingen dem Begriff <strong>Tonalität</strong> auch den Begriff Phonalität gegenüber:<br />
Als dualen Gegensatz gegen das Prinzip der <strong>Tonalität</strong> stelle ich das der Phonalität auf. – Unter<br />
Phonalität aber verstehe ich das […] Prinzip, dem zufolge die gesammte Masse der Töne aus<br />
einer phonischen Klangvertretung entspringt. 128<br />
Oettingen veröffentlichte auch ein Tonnetz, das in der Horizontalen Quinten <strong>und</strong> in der<br />
Vertikalen große Terzen enthält (Abbildung 10). Dieses Tonnetz hatte besonderen<br />
Einfluss auf die Neo-Riemann-Theorie des späten 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
Abbildung 10: Oettingens Tonnetz. 129<br />
126 Vgl. ebda., S. 33.<br />
127 Vgl. ebda., S. 45.<br />
128 Ebda., S. 64.<br />
129 Ebda., S. 15.<br />
32
1.5 Riemann <strong>und</strong> Schenker<br />
Die Thesen von Hauptmann, Helmholtz <strong>und</strong> Oettingen wurden schließlich in den<br />
1880er Jahren von Hugo Riemann aufgegriffen <strong>und</strong> erweitert. 130 Riemann war von der<br />
Naturgegebenheit der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> im Sinne der Naturklangtheorie fest überzeugt<br />
<strong>und</strong> postulierte – gemäß den Theorien Oettingens – eine Untertonreihe als dualistischen<br />
Gegensatz zur Obertonreihe. 131 Von Hauptmann übernahm Riemann die Vorstellung,<br />
dass Terz <strong>und</strong> Quint die einzigen direkt verständlichen Intervalle seien. 132 Die große<br />
Leistung Riemanns war es, die harmonischen Theorien des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in einem<br />
geschlossenen musiktheoretischen System – der Funktionstheorie – zusammenzufassen.<br />
Damit machte Riemann, insbesondere im deutschsprachigen Raum, den <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />
einem größeren musiktheoretisch interessierten Publikum zugänglich.<br />
Zum ersten Mal verwendet Riemann den Begriff <strong>Tonalität</strong> in dem 1872 noch unter dem<br />
Pseudonym Hugibert Ries veröffentlichen Aufsatz Ueber <strong>Tonalität</strong> 133 <strong>und</strong> wendet den<br />
Begriff damals noch ausschließlich auf Tonbeziehungen an. Drei wesentliche Aspekte<br />
für Riemanns <strong>Tonalität</strong>sauffassung sind in diesem Aufsatz aber bereits deutlich erkennbar:<br />
(1) <strong>Tonalität</strong> entsteht erst durch eine Folge von mehreren Tönen. (2) <strong>Tonalität</strong> hängt<br />
wesentlich von unserer Wahrnehmung 134 <strong>und</strong> unserem Gedächtnis ab. 135 (3) Jede<br />
Aufeinanderfolge von Tönen bezieht sich auf einen Zentralton, ein Zentrum:<br />
Aristoxanes sagt: beim Anhören von Musik ist unsere Geistesthätigkeit eine doppelte, Wahrnehmung<br />
<strong>und</strong> Gedächtnis. Wahrnehmung nämlich des eben Ertönenden <strong>und</strong> Gedächtnis des<br />
Vorausgegangenen. In diesen Worten liegt das Geheimnis der <strong>Tonalität</strong>. Der Zweite Ton folgt<br />
nicht als ein anderer, dem ersten fremder, nicht am Hören des einzelnen Tones erfreuen wir uns<br />
130<br />
Riemann bezeichnete Rameau, Hauptmann, Helmholtz <strong>und</strong> Oettingen als die vier „großen Harmoniker“<br />
der Musikgeschichte (vgl. Hugo Riemann, Musikalische Logik [als Dissertation: Ueber das<br />
musikalische Hören, Leipzig 1874], Leipzig: C. F. Kahnt 1875, S. 4-6).<br />
131<br />
Vgl. ebda., S. 12f, 25.<br />
132<br />
Vgl. Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10.<br />
133<br />
Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 9.<br />
134<br />
Der Begriff Wahrnehmung darf in diesem Zusammenhang nicht mit der akustischen Realität verwechselt<br />
werden. Riemann selbst hat die Tonika, unabhängig von der akustischen Realität, auch als „etwas<br />
Vorgestelltes, Imaginäres“ gedacht. Es handelt sich bei der Tonika gewissermaßen um eine psychische<br />
„Realität“ (vgl. auch Hans-Ulrich Fuß, Funktion, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft<br />
[Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6], Laaber: Laaber 2010, S. 127-129,<br />
hier S. 128).<br />
135<br />
Vgl. auch Riemann, Musikalische Logik, S. 64: „<strong>Tonalität</strong> ist […] Festhalten eines Tones im<br />
Gedächtniss als Hauptton (Tonus).“<br />
33
[…], sondern der zweite wird uns verständlich in seinem Verhältnis zum ersten, wir hören […]<br />
den ersten Ton auch dann noch im Gedächtnis, wenn der zweite erklingt. 136<br />
[… Wir suchen] in dem Zusammenklange wie in der Aufeinanderfolge vieler Töne einen Anhalt<br />
[…], einen Ausgangs- oder Endpunkt – ein Zentrum, um das sich alles in enger Beziehung grup-<br />
piert. 137<br />
1877 erweitert Riemann diese These auf Akkorde <strong>und</strong> Akkordverbindungen. Jeder Ton<br />
steht von da an als Vertreter für einen Akkord:<br />
Es verlangt aber eine Folge von Akkorden sowohl wie einer Folge einzelner Töne mit Akkordbedeutung<br />
(im Sinne der Klangvertretung 138 ) eine innere Einheit, eine Bezogenheit auf ein<br />
Centrum […]. Die Bezogenheit eines Harmoniegefüges auf einen Zentralklang nennt man (seit<br />
Fétis) <strong>Tonalität</strong>. 139<br />
1882 definiert Riemann <strong>Tonalität</strong> schließlich – vergleichbar mit Helmholtz – nicht mehr<br />
über die Beziehung zwischen Tönen, sondern über die „Bezogenheit [der Akkorde] auf<br />
einen Hauptklang, die Tonika.“ 140 Auf diese Definition wird heute meist Bezug genommen,<br />
wenn im engeren Sinn von <strong>Tonalität</strong> gesprochen <strong>und</strong> damit eigentlich die<br />
europäische Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> gemeint wird (zumindest im deutschsprachigen<br />
Sprachgebrauch, der nachhaltig von Riemann geprägt wurde). <strong>Tonalität</strong> wird von<br />
Riemann nun als moderner Tonartbegriff aufgefasst, der nicht mehr an eine Tonleiter<br />
geb<strong>und</strong>en ist, sondern auch leiterfremde Töne umfasst. 141 In diesem Zusammenhang ist<br />
jedoch nicht zu vernachlässigen, dass die Tonika zwar einen zentralen Bezugsklang<br />
darstellt, jedoch selbst erst über die beiden Funktionen der Subdominante <strong>und</strong> Dominante<br />
definiert ist. Ein Akkord kann erst im harmonischen Verlauf eine Funktion im<br />
Sinne Riemanns einnehmen <strong>und</strong> ist somit – diesmal im mathematischen Sinn – eine<br />
Funktion der vorangegangenen <strong>und</strong> nachfolgenden Klänge. Auch der Begriff „funk-<br />
136<br />
Hugo Riemann, Ueber <strong>Tonalität</strong> [Neue Zeitschrift für Musik 1872, Bd. 45-46], in: Präludien <strong>und</strong><br />
Studien. Gesammelte Aufsätze zur Aesthetik, Theorie <strong>und</strong> Geschichte der Musik Bd. 3, Heilbronn:<br />
Schmidt (o. J.), S. 24.<br />
137<br />
Ebda., S. 25.<br />
138<br />
Ein Begriff, den Riemann von Helmholtz bzw. Oettingen übernahm. Vgl. auch: Julia Kursell, Konsonanz<br />
/ Dissonanz, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft (Handbuch der systematischen<br />
Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 227-230, hier S. 228.<br />
139<br />
Hugo Riemann, Musikalische Syntaxis. Gr<strong>und</strong>riß einer harmonischen Satzbildungslehre, Leipzig:<br />
Breitkopf & Härtel 1877, S. 13f.<br />
140<br />
Riemann, <strong>Tonalität</strong>, S. 923f., zit. nach: Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 9.<br />
141 Vgl. ebda.<br />
34
tionale <strong>Tonalität</strong>“ hat sich in Riemanns Nachfolge häufig als Synonym für die Dur-<br />
Moll-<strong>Tonalität</strong> durchgesetzt.<br />
Die Tonika ist bei Riemann als Zentralklang keine abstrakte Stufe, sondern sie bezeichnet<br />
eine Funktion: Die I. Stufe ist je nach Zusammenhang auf unterschiedliche Weise zu<br />
deuten (z.B. als Zwischendominante zur Subdominante oder als Subdominante der<br />
Dominante). Der Zentralklang wechselt somit auf mikroformaler Ebene durch Modulationen<br />
seinen Platz. Der <strong>Tonalität</strong>sbegriff bezieht sich bei Riemann auf die Tonika der<br />
„Haupttonart“, auf den sich, im Sinne eines übergeordneten Zentralklangs, die „Nebentonarten“<br />
beziehen. Damit sieht Riemann <strong>Tonalität</strong> gewissermaßen als eine übergeordnete<br />
Tonart an: Während die <strong>Tonalität</strong> das Ganze Stück hindurch gleich bleibt, ändert<br />
sich durch Modulationen streckenweise die Tonart <strong>und</strong> ein anderer Zentralklang gewinnt<br />
dadurch als neue Tonika an Bedeutung. 142 Dennoch sei „jede Nebentonart auch<br />
dann noch von der Haupttonart aus zu verstehen in ganz ähnlichem Sinne, wie im<br />
engsten Kreise der leitereigenen Harmonik die Dominanten der Tonika gegenüberstehen“.<br />
143 Beiche kommt zu dem Schluss, dass „in H. Riemanns Nachfolge […]<br />
<strong>Tonalität</strong> als erweiterter Tonartbegriff unter Betonung der Bezogenheit aller Klänge auf<br />
ein Zentrum tradiert“ wird. 144<br />
In seinen Ideen zu einer „Lehre von den Tonvorstellungen“ stellte Riemann ein Tonnetz<br />
dar, das mit Oettingens Tonnetz (vgl. Abbildung 10) vergleichbar ist. Dieses Tonnetz<br />
zeigt sowohl die Beziehungen von Tonhöhen <strong>und</strong> Akkorden als auch jene zwischen<br />
<strong>Tonalität</strong>en bzw. Tonarten. Eine Gruppe von drei Tönen innerhalb eines nach oben<br />
gerichteten Dreiecks stellt beispielsweise einen Dur-Dreiklang dar, während man in der<br />
Horizontalen den Quintenzirkel ablesen kann. 145<br />
142<br />
Vgl. ebda., S. 10; Hugo Riemann, Handbuch der Harmonielehre [1887], Leipzig, Breitkopf & Härtel<br />
5<br />
1912, S. 215.<br />
143<br />
Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 215.<br />
144<br />
Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 10.<br />
145<br />
Vgl. auch Brian Hyer, Reimag(in)ing Riemann, in: Journal of Music Theory (Bd. 39,1), 1995, S. 101-<br />
138, hier S. 101f.<br />
35
Abbildung 11: Riemanns Tonnetz. 146<br />
Einen etwas anderen Zugang zur Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> stellt Heinrich Schenkers Schichtenlehre<br />
dar, deren Gr<strong>und</strong>züge er zum ersten Mal in seiner Harmonielehre 147 1906<br />
veröffentlichte. Schenker reduziert in seinen Analysen während mehrerer Arbeitsschritte<br />
den harmonischen <strong>und</strong> melodischen Gehalt eines Werkes auf den „Ursatz“, der<br />
laut Schenker als „Hintergr<strong>und</strong>“ die eigentliche Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> Struktur der Werke<br />
bildet. 148 Schenker wendet seine Theorien vornehmlich auf das so genannte „Geniewerk“<br />
der Musik zwischen etwa 1700 bis 1850 an. Er baut dabei insbesondere auf die<br />
Lehre vom freien Satz nach Johann Joseph Fux <strong>und</strong> auf die Generalbasslehre nach Carl<br />
Philipp Emanuel Bach auf. 149<br />
Der „Ursatz“, den Schenker aus der Naturklangtheorie ableitet 150 , wird in verschiedenen<br />
Varianten angegeben (Abbildung 12). Die Oberstimme bezeichnet er dabei als „Urlinie“,<br />
die Unterstimme bildet als „Brechung“ (auch „Bassbrechung“) immer eine Folge<br />
der Stufen I–V–I. Urlinie <strong>und</strong> Brechung sieht Schenker als eine „Bewegung zu einem<br />
Ziele hin“. 151 Die strukturelle Melodieanalyse wird bei Schenker immer in „Zügen“<br />
gedacht. Der „Ursatz“ kann dabei immer nur aus Terzzug (Abbildung 12 links),<br />
146<br />
Hugo Riemann, Ideen zu einer ‚Lehre von den Tonvorstellungen’, in: Jahrbuch der Musikbibliothek<br />
Peters 21–22 (1914/15), Leipzig 1916, S. 1–26. hier S. 20.<br />
147<br />
Heinrich Schenker, Harmonielehre [1906] (Neue musikalische Theorien <strong>und</strong> Phantasien Bd. 1), Wien:<br />
Universal Edition (o.J.).<br />
148<br />
Vgl. Andreas Moraitis, Zur Theorie der musikalischen Analyse, S. 208.<br />
149<br />
Vgl. Heinrich Schenker, Der freie Satz (Neue musikalische Theorien <strong>und</strong> Phantasien Bd. 3), Wien:<br />
Universal Edition 1935, S. 1f.<br />
150<br />
Vgl. ebda., S. 30-36.<br />
151<br />
Ebda., S. 16f.<br />
36
Quintzug (Abbildung 12 Mitte) oder Oktavzug (Abbildung 12 rechts) bestehen.<br />
Zwischen dem „Vordergr<strong>und</strong>“ – der den eigentlichen Notentext bezeichnet – <strong>und</strong> dem<br />
„Hintergr<strong>und</strong>“ ist laut Schenker auch noch ein „Mittelgr<strong>und</strong>“ vorhanden, der als strukturelle<br />
Schicht zwischen Hinter- <strong>und</strong> Vordergr<strong>und</strong> vermittelt. Den Begriff „<strong>Tonalität</strong>“<br />
wendet Schenker nur auf den Vordergr<strong>und</strong> an <strong>und</strong> versteht darunter im Prinzip alles,<br />
was das musikalische Kunstwerk seiner Ansicht nach ausmacht:<br />
Nenne ich den Inhalt der […] Urlinie Diatonie […], so zeigt der Vordergr<strong>und</strong> die <strong>Tonalität</strong> als<br />
Summe aller Erscheinungen von den niedersten bis zu den umfassendsten, bis zu den scheinbaren<br />
Tonarten <strong>und</strong> Formen. 152<br />
Abbildung 12: Schenkers Ursatz-Varianten; Terzzug (links), Quintzug (Mitte), Oktavzug<br />
(rechts). 153<br />
Die Zentrierung der Melodik <strong>und</strong> Harmonik zugunsten eines Zentralklangs ist bei<br />
Schenker in besonderer Weise ausgeprägt. Über die Bewegung der Oberstimme schreibt<br />
Schenker: „Das Ziel, der Weg ist das Erste, in zweiter Reihe erst kommt der Inhalt.“ 154<br />
Zusätzlich zu dem „Ziel“ der Linienführung beziehen sich alle musikalischen Ereignisse<br />
auf einen einzelnen Gr<strong>und</strong>ton:<br />
Innerhalb der Oktave ergab sich […] eine Gesamtbezogenheit des Satzes nur auf den einen<br />
Gr<strong>und</strong>ton, den Gr<strong>und</strong>ton des Klanges. Die so für die Oberstimme, die Urlinie erzielte Tonfolge<br />
stellt die Diatonie vor […].<br />
Die gleiche Bezogenheit auf einen Gr<strong>und</strong>ton herrscht auch im Vordergr<strong>und</strong>: ist doch alle<br />
Vordergr<strong>und</strong>-Diminution, einschließlich der scheinbaren Tonarten aus den Stimmführungsverwandlungen,<br />
zuletzt eben aus der Diatonie im Hintergr<strong>und</strong> erflossen. 155<br />
Schenkers Begriff der „Tonart“ ist vergleichbar mit Riemanns hierarchischem <strong>Tonalität</strong>sbegriff,<br />
in dem <strong>Tonalität</strong> als übergeordnete Tonart gedacht wird:<br />
152 Ebda., S. 17.<br />
153 Heinrich Schenker, Der freie Satz. Anhang: Figurentafeln (Neue musikalische Theorien <strong>und</strong> Phantasien<br />
Bd. 3), Wien: Universal Edition 1956, S. 1f.<br />
154 Heinrich Schenker, Der freie Satz, S. 18.<br />
155 Ebda., S. 31f.<br />
37
Wohl der verhängnisvollste Fehler der üblichen Theorie ist es aber, immer schon Tonarten anzunehmen,<br />
wenn sie in Ermangelung von Hinter- <strong>und</strong> Mittelgr<strong>und</strong>-Erkenntnissen keine andere<br />
Lösung findet. […] Nichts ist so kennzeichnend für die Theorie <strong>und</strong> die Analyse, wie eben der<br />
schreiende Ueberfluß an Tonarten, den sie mit sich führen. Der Begriff Tonart als einer höheren<br />
in die Vordergr<strong>und</strong>-<strong>Tonalität</strong> eingeordneten Einheit ist ihr noch völlig fremd, sie bringt es fertig,<br />
schon einen einzigen unauskomponierten Klang als eine Tonart zu bezeichnen. 156<br />
1.6 Die Auflösung der <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Arnold Schönberg<br />
Als Riemann 1893 in seiner Vereinfachten Harmonielehre 157 zum ersten Mal die vollständigen<br />
Funktionsbezeichnungen veröffentlichte, war sein Vorhaben eine alles umfassende<br />
Theorie der dur-moll-tonalen Harmonik zu entwickeln bereits zum Scheitern<br />
verurteilt. Der „Prozess“, den man im allgemeinen musikalischen Sprachgebrauch<br />
häufig als „Auflösung der <strong>Tonalität</strong>“ 158 bezeichnet, war bereits nicht mehr umkehrbar<br />
<strong>und</strong> seine Auswirkungen manifestierten sich in den Werken der zeitgenössischen<br />
Komponisten. Bereits 1859 hatte Richard Wagner die Komposition an seinem Tristan<br />
beendet <strong>und</strong> in der Folge der Uraufführung im Jahr 1865 bei nachfolgenden Generationen<br />
von Musiktheoretikern <strong>und</strong> Komponisten einen Diskurs ausgelöst, der bis heute<br />
nachklingt. Kaum ein anderes musikalisches Element wurde so häufig zitiert <strong>und</strong><br />
analysiert wie der berühmte Tristan-Akkord, der sich vehement jeglicher tonaler Analyse<br />
entzog <strong>und</strong> so zum Sinnbild für die „Auflösung der <strong>Tonalität</strong>“ hochstilisiert wurde.<br />
Walter Gieseler schreibt über dessen Bedeutung: „Der Tristan-Akkord ist noch nicht die<br />
neue harmonische Welt, aber er kündigt sie an.“ 159 In seinem Parsifal, der am 26.7.1882<br />
uraufgeführt wurde, zog Richard Wagner schließlich die Konsequenzen aus der Harmonik<br />
des Tristan. Im Vorspiel des dritten Akts tritt anstelle der dur-moll-tonalen Tonika<br />
der verminderte Septakkord in das Zentrum des kompositorischen Interesses <strong>und</strong><br />
übernimmt als Zentralklang auch weitgehend deren Funktion. Ähnliche Wege beschreitet<br />
zur selben Zeit auch Franz Liszt in seinen späten Klavierwerken. Die mit übermäßigen<br />
Dreiklängen <strong>und</strong> verminderten Septakkorden angereicherte Harmonik setzt die<br />
156<br />
Ebda., S. 26.<br />
157<br />
Hugo Riemann, Vereinfachte Harmonielehre oder die Lehre von den tonalen Funktionen der Akkorde<br />
[1893], London: Augener 1899.<br />
158<br />
Vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 278 u. Walter Gieseler, Harmonik in der Musik des 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts. Tendenzen - Modelle, Celle: Moeck 1996, S. 7.<br />
159<br />
Gieseler, Harmonik, S. 7.<br />
38
Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> über weite Strecken außer Kraft <strong>und</strong> weist auf neue <strong>und</strong> ungenutzte<br />
Möglichkeiten tonaler Beziehungen hin. 160 Programmatisch wirkt in diesem Zusammenhang<br />
der Titel von Liszts Klavierstück Bagatelle ohne Tonart aus dem Jahre<br />
1885. Auch wenn Richard Wagner selbst die späten Werke seines Schwiegervaters zum<br />
Teil als Senilitätserscheinung 161 abgetan hat, sind sie doch Zeugnis der neuen Aufbruchstimmung,<br />
die sich damals ausgebreitet hatte.<br />
Arnold Schönberg war zu dieser Zeit gerade zehn Jahre alt <strong>und</strong> komponierte bereits<br />
seine ersten Jugendkompositionen, noch weitgehend unbeeinflusst von den harmonischen<br />
Neuerungen der Zeitgenossen. Dies änderte sich jedoch rasch, nachdem er 1894<br />
Alexander von Zemlinsky kennen gelernt hatte, der ihn mit den Kompositionen Richard<br />
Wagners <strong>und</strong> Franz Liszts vertraut machte.<br />
Als ich ihn kennenlernte war ich ausschließlich Brahmsianer. Er liebte Brahms <strong>und</strong> Wagner gleichermaßen,<br />
wodurch ich bald darauf ebenfalls ein glühender Anhänger beider wurde. Kein<br />
W<strong>und</strong>er, daß die Musik dieser Zeit deutlich die Einflüsse dieser beiden Meister zeigte, mit einem<br />
gelegentlichen Zusatz von Liszt, Bruckner <strong>und</strong> vielleicht auch Hugo Wolf. 162<br />
Über Schönbergs Auffassung von <strong>Tonalität</strong> wurde bereits viel spekuliert. So schreibt<br />
zum Beispiel Lukas Haselböck, dass „Schönberg [...] als einzige Voraussetzung für<br />
‚<strong>Tonalität</strong>‘ das Vorhandensein sinnvoller Tonbeziehungen genannt hat.“ 163 Dieter<br />
Rexroth ist derselben Auffassung <strong>und</strong> führt aus, dass „Schönberg [...] unter ‚tonal‘ ganz<br />
allgemein eine Beziehung [versteht].“ 164 Auf der anderen Seite weist Martin Eybl darauf<br />
hin, dass Schönberg den Begriff „<strong>Tonalität</strong>“ durchaus in unterschiedlichen Bedeutungen<br />
gebraucht hat:<br />
Demgegenüber bezeichnen einige Autoren des frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>erts (Guido Adler, Arnold<br />
Schönberg) mit <strong>Tonalität</strong> die Beziehungen zwischen Tönen im Allgemeinen. Das Fehlen eines<br />
160<br />
Vgl. Dieter Kleinrath, Kompositionstechniken im Klavierwerk Franz Liszts. Eine Gegenüberstellung<br />
kompositorischer Verfahren im Früh- <strong>und</strong> Spätwerk unter besonderer Berücksichtigung des Klavierstücks<br />
Funérailles, Kunstuniversität Graz 2007, S. 10-19.<br />
161<br />
Cosima Wagner, Die Tagebücher (Bd. 2), München: Piper 1976, S. 1059. (29. November 1882).<br />
162<br />
Arnold Schönberg, Rückblick, 1949, S. 434.<br />
163<br />
Lukas Haselböck, Zwölftonmusik <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong>. Zur Vieldeutigkeit dodekaphoner Harmonik, Laaber:<br />
Laaber 2005, S. 17.<br />
164<br />
Dieter Rexroth: Arnold Schönberg als Theoretiker der tonalen Harmonik, Bonn 1971, S. 386.<br />
39
harmonischen Zentrums nennt Schönberg „aufgehobene <strong>Tonalität</strong>“, verwendet den Begriff<br />
<strong>Tonalität</strong> somit doppeldeutig. 165<br />
Gr<strong>und</strong> für die allgemeine Verwirrung um Schönbergs <strong>Tonalität</strong>sauffassung ist folgende<br />
viel zitierte Fußnote seiner Harmonielehre:<br />
Nur so kann es gelten: Alles was aus einer Tonreihe hervorgeht, sei es durch das Mittel der<br />
direkten Beziehung auf einen einzigen Gr<strong>und</strong>ton oder durch komplizierte Bindungen zusammengefasst,<br />
bildet die <strong>Tonalität</strong>. [...] Ein Stück wird stets mindestens insoweit tonal sein<br />
müssen, als von Ton zu Ton eine Beziehung bestehen muß, vermöge welcher die Töne, nebenoder<br />
übereinander gesetzt, eine als solche auffaßbare Folge ergeben. [...] Zudem ist die Frage gar<br />
nicht untersucht, ob das, wie diese neuen Klänge sich schließen, nicht eben die <strong>Tonalität</strong> der<br />
Zwölftonreihe ist. Wahrscheinlich sogar ist es so [...] 166<br />
Zu diesem Zitat ist allerdings anzumerken, dass Schönberg diese Aussage machte um<br />
den Begriff „Atonalität“ zu widerlegen <strong>und</strong> sich <strong>und</strong> seine Musik davon abzugrenzen.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong> hat er hier den <strong>Tonalität</strong>sbegriff wohl etwas weiter gefasst als<br />
gewöhnlich. Dennoch ist erkennbar, dass Schönberg durchaus offen war für eine erweiterte<br />
Auslegung des <strong>Tonalität</strong>sbegriffs. So vergleicht er die „neuen Klänge“ seiner<br />
Musik anschließend mit dem Suchen nach dem Gr<strong>und</strong>ton zur Zeit der Kirchentonarten:<br />
„Hier [in der neuen Musik] fühlt man ihn [den Gr<strong>und</strong>ton] noch nicht einmal, aber darum<br />
ist er doch wahrscheinlich vorhanden.“ 167 Rückblickend präzisiert Schönberg 1949<br />
seine Aussage nochmals:<br />
In meiner Harmonielehre (1911) habe ich behauptet, daß die Zukunft bestimmt zeigen wird, daß<br />
eine Zentralkraft, vergleichbar der Anziehungskraft einer Tonika, auch hier noch wirksam ist.<br />
Zieht man in Betracht, daß z. B. die Gesetze von Bachs oder Beethovens satzbildenden Bedingungen<br />
oder die von Wagners Harmonik noch immer nicht in wahrhaft wissenschaftlicher Weise<br />
erforscht sind, so darf man sich nicht w<strong>und</strong>ern, daß hinsichtlich der sogenannten „Atonalität“<br />
noch kein solcher Versuch gemacht wurde. 168<br />
Zitate dieser Art sind in Schönbergs Schriften jedoch eher die Ausnahme als die Regel.<br />
Meist verwendet er den Begriff <strong>Tonalität</strong> dagegen im „traditionellen“ Sinne bzw. gemäß<br />
165<br />
Martin Eybl, <strong>Tonalität</strong>, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft (Handbuch der systematischen<br />
Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 485-488, hier S. 485.<br />
166<br />
Schönberg. Harmonielehre, S. 486.<br />
167<br />
Ebda.<br />
168<br />
Arnold Schönberg, Rückblick [1949], http://www.schoenberg.at, S. 437.<br />
40
der üblichen Bedeutung seiner Zeit; auch eine Nähe zur Naturklangtheorie ist dabei in<br />
Schönbergs Denkweise erkennbar. So deutet er beispielsweise im Harmonielehre-<br />
Kapitel Die Durtonart <strong>und</strong> die leitereigenen Akkorde die C-Dur-Skala anhand der<br />
Obertonreihe 169 <strong>und</strong> in seinem Aufsatz Problems of harmony findet sich folgender<br />
Abschnitt:<br />
Let us first examine the concept of tonality.<br />
This coincides to a certain extent with that of key, in so far as it refers not merely to the relation<br />
of tones with one another, but much more to the particular way in which all tones relate to a f<strong>und</strong>amental<br />
tone, especially the f<strong>und</strong>amental tone of the scale, whereby tonality is always comprehended<br />
in the sense of a particular scale. Thus, for example, we speak of a C-major tonality,<br />
etc. 170<br />
Für Schönberg lagen also offenbar die Begriffe <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Tonart sehr nahe bei<br />
einander. Er hebt auch die Bedeutung der Skala für seine <strong>Tonalität</strong>sauffassung hervor,<br />
allerdings fällt auf, dass auch für ihn nicht nur die Beziehungen der Töne untereinander,<br />
sondern auch die Beziehung der Töne auf einen F<strong>und</strong>amentalton (ein Begriff den<br />
ebenfalls Rameau prägte) von Bedeutung seien. Im weiteren Verlauf des oben zitierten<br />
Textes deutet Schönberg Beziehungen zwischen aufeinander folgenden Tönen mit Hilfe<br />
der Obertonreihe <strong>und</strong> bezeichnet Akkordfolgen, die in mehr als einer Tonart interpretiert<br />
werden können, als „Gefahr“ für die <strong>Tonalität</strong>. 171<br />
Ein weiterer Aspekt, den Schönberg im Zusammenhang mit <strong>Tonalität</strong> immer wieder<br />
hervorgehoben hat, ist die Bedeutung von <strong>Tonalität</strong> als eine vom Komponisten bewusst<br />
eingesetzte Möglichkeit unter vielen. 172 In diesem Zusammenhang steht Schönberg dem<br />
<strong>Tonalität</strong>sbegriff von Fétis nahe, der (sofern man Dahlhaus’ Interpretation folgt) zwar<br />
die Naturklangtheorie nicht a priori ausschloss, die Entscheidung sie einem System<br />
zugr<strong>und</strong>e zu legen, jedoch in die Verantwortung des Komponisten gelegt hat (vgl. S.<br />
10). In der Harmonielehre schreibt Schönberg:<br />
169<br />
Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 20-22.<br />
170<br />
Arnold Schönberg, Problems of Harmony [1934], http://www.schoenberg.at (1.6.2010), S. 169<br />
171<br />
Vgl. ebda., S. 169-173<br />
172<br />
Vgl. Constantin Grun, Arnold Schönberg <strong>und</strong> Richard Wagner: Schriften (Spuren einer außergewöhnlichen<br />
Beziehung Bd. 2), Göttingen: V&R 2006, S. 724-726.<br />
41
Die <strong>Tonalität</strong> ist eine sich aus dem Wesen des Tonmaterials ergebende formale Möglichkeit,<br />
durch eine gewisse Einheitlichkeit eine gewisse Geschlossenheit zu erzielen. […] Ich werde […]<br />
mich […] hier darauf beschränken, bloß […] anzuführen: […] daß ich sie [die <strong>Tonalität</strong>] nicht<br />
halte, wofür sie scheinbar alle Musiktheoretiker vor mir gehalten haben: für ein ewiges Gesetz,<br />
ein Naturgesetz der Musik, obwohl dieses Gesetz den einfachsten Bedingungen des naturgegebenen<br />
Vorbilds, des Tons <strong>und</strong> des Gr<strong>und</strong>akkords, entspricht […]. 173<br />
Schönbergs <strong>Tonalität</strong>sbegriff ist vielseitig, jedoch nicht unbedingt widersprüchlich. Die<br />
traditionelle Vorstellung von <strong>Tonalität</strong> benutzt er meist in seiner Rolle als Kompositionslehrer<br />
<strong>und</strong> Pädagoge. In diesem Zusammenhang verwendet er den Begriff <strong>Tonalität</strong><br />
im Sinne einer historischen Epoche, die sich dadurch auszeichnete, dass Komponisten<br />
aus freiem Willen den naturgegebenen Eigenschaften des Tones folgten <strong>und</strong> ihn, zum<br />
Erzielen formaler Geschlossenheit, als einen Zentralklang annahmen. Den erweiterten<br />
Tonartbegriff vertritt Schönberg dagegen in Diskussionen bezüglich der „neuen Musik“,<br />
die er selbst entscheidend mitgestaltet hat. In diesem Sinne ist sein <strong>Tonalität</strong>sbegriff ein<br />
kaum greifbarer ideeller Gedanke, der im Prinzip auf jede tonhöhenbezogene Musik<br />
angewendet werden könnte.<br />
Zur „Auflösung der <strong>Tonalität</strong>“ trug Schönberg nicht nur in seiner Funktion als innovativer<br />
Komponist bei, auch sein Sprachgebrauch in Bezug auf den <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />
förderte entschieden diese Vorstellung. Während Helmholtz noch meinte „die moderne<br />
Musik hat hauptsächlich das Princip der <strong>Tonalität</strong> streng <strong>und</strong> consequent entwickelt“<br />
(vgl. S. 30), wird, spätestens seit Schönberg, der <strong>Tonalität</strong>sbegriff in Bezug auf die<br />
musikalische Syntax der Spätromantik zunehmend in Frage gestellt. Im Zusammenhang<br />
mit seinen Frühwerken, wie z.B. dem 1899 komponierten Streichsextett Verklärte Nacht<br />
op. 4, sprach er von „Stellen einer unbestimmbaren <strong>Tonalität</strong>, die zweifellos als Hinweis<br />
auf die Zukunft gelten können“ 174 . Als Beispiel gibt Schönberg die Takte 138-139 aus<br />
dem Streichsextett an (Abbildung 13), in denen kein eindeutiger Gr<strong>und</strong>ton- bzw.<br />
Tonartbezug mehr erkennbar ist. Wie später noch zu sehen sein wird (vgl. S. 117), ist<br />
die Harmonik dieses Abschnitts eng verwandt mit der Harmonik der Einleitung zum<br />
dritten Akt von Richard Wagners Parsifal.<br />
173 Schönberg, Harmonielehre, S. 27.<br />
174 Schönberg, Rückblick, S. 437.<br />
42
Abbildung 13: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140.<br />
Ein Kapitel seines Buchs Die formbildenden Tendenzen der Harmonie widmete Schönberg<br />
der „erweiterten <strong>Tonalität</strong>“ 175 <strong>und</strong> in seiner Harmonielehre verwendet er Begriffe<br />
wie „schwebende <strong>Tonalität</strong>“ <strong>und</strong> „aufgehobene <strong>Tonalität</strong>“ 176 . Unter schwebender<br />
<strong>Tonalität</strong> verstand Schönberg Musik, deren Harmonik sich nicht auf einen einzelnen<br />
Zentralklang beschränkt, sondern stets zwischen zwei oder mehreren oft gleichberechtigten<br />
Zentren hin <strong>und</strong> her schwankt, gleichsam zwischen diesen Klangwelten schwebt.<br />
Schwebende <strong>Tonalität</strong> erkennt Schönberg bereits im letztem Satz von Ludwig v.<br />
Beethovens e-Moll-Quartett op. 59/2 sowie im Finale von Robert Schumanns Klavier-<br />
quintett. 177<br />
175 Arnold Schönberg, Die formbildenden Tendenzen der Harmonie [Structural Functions of Harmony,<br />
1948], Mainz: B. Schott’s Söhne 1954, S. 74-110.<br />
176 Schönberg. Harmonielehre, S. 509.<br />
177 Ebda., S. 460.<br />
43
1.7 Der <strong>Tonalität</strong>sbegriff im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
Zum Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hatte sich die Bedeutung des <strong>Tonalität</strong>sbegriffs im<br />
deutschsprachigen Raum zunehmend gefestigt <strong>und</strong> wurde von Helmholtz <strong>und</strong> Riemann<br />
auf die musikalische Syntax der europäischen Kunstmusik reduziert. Das wesentliche<br />
Merkmal der Definition ist von nun an der Zentralklang – die Tonika – auf den sich alle<br />
anderen Töne <strong>und</strong> Akkorde beziehen. Die besondere Bedeutung des Zentralklanges<br />
führte dazu, dass einige Autoren Metaphern für den Begriff der Tonika einführten, wie<br />
zum Beispiel „Konzentrationston“, „Gravitationszentrum“, „Kraftzentrum“ oder<br />
„Brennpunkt“ („focal point“). Zugleich wird <strong>Tonalität</strong> nun immer häufiger mit hörpsychologischen<br />
Aspekten in Verbindung gebracht wie beispielsweise von Jacques<br />
Chailley, der <strong>Tonalität</strong> als eine „musikalische Wahrnehmungsart“ bezeichnet. 178 Seit<br />
den 1920er Jahren gewinnt „<strong>Tonalität</strong>“ auch als erweiterter Tonartbegriff, wie er von<br />
Riemann beschrieben wurde, zunehmend an Bedeutung. So schreibt Hermann Grabner<br />
in der Allgemeinen Musiklehre 1924: „Die Beziehungen der einzelnen Tonarten eines<br />
Stückes zur Haupttonart heißt <strong>Tonalität</strong>.“ 179<br />
Während die <strong>Musiktheorie</strong> um 1900 gerade noch dabei war den Begriff <strong>Tonalität</strong><br />
aufzuarbeiten <strong>und</strong> „die tonale Musik“ zu systematisieren, begannen Komponisten wie<br />
Franz Liszt, Arnold Schönberg oder Alexander Skrjabin die <strong>Tonalität</strong> in Frage zu stellen<br />
<strong>und</strong> sich neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten zuzuwenden <strong>und</strong> lösten mit dem<br />
darauf folgenden Stilpluralismus des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in gewisser Weise auch einen<br />
analogen Systempluralismus in der <strong>Musiktheorie</strong> aus. Musiktheoretiker waren im 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert zunehmend gezwungen ihre Theorien den neuen Gegebenheiten der zeitgenössischen<br />
Kompositionspraxis anzupassen <strong>und</strong> es scheint, als hätte man sich zumeist<br />
damit abgef<strong>und</strong>en gehabt, dass <strong>Tonalität</strong>, mit ihren reichhaltigen Facetten, eine historische<br />
Erscheinung war, die im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert nur mehr in Popularmusik oder verwandten<br />
Genres eine Gültigkeit besäße. Bestenfalls wird bei Diskussionen um die<br />
Musik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts vorsichtig der Begriff „post-tonal“ angewendet, um damit<br />
auszudrücken, dass tonale Elemente auch in späteren Werken der Kunstmusik noch<br />
teilweise aufgegriffen wurden oder weiterwirken. Diese Entwicklung wurde insbeson-<br />
178 Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 10-11.<br />
179 Hermann Grabner, zit. nach Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 11.<br />
44
dere auch durch die zunehmende Abneigung zeitgenössischer Komponisten gegenüber<br />
dem Begriff <strong>Tonalität</strong> nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gefördert. Die Polarisierung<br />
während der Nachkriegszeit in Komponisten, die tonale Elemente in ihren<br />
Kompositionen nutzten, <strong>und</strong> solche, die sich ihnen verweigerten, war nicht zuletzt auch<br />
von der Rhetorik Schönbergs im Zusammenhang mit <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> neuer Musik geprägt.<br />
Ein weiterer Gr<strong>und</strong> für die zunehmende Abneigung gegen <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> der<br />
damit oft verb<strong>und</strong>enen Naturklangtheorie könnte damit zusammenhängen, dass eine von<br />
der Naturklangtheorie abgeleitete europäische Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> leicht die Züge von<br />
nationalistischem <strong>und</strong> rassenspezifischem Gedankengut annehmen konnte. So fand man<br />
zum Beispiel in der Bibliothek Adolf Hitlers ein Exemplar des Buches Der Naturklang<br />
als Wurzel aller Harmonien: eine aesthetische <strong>Musiktheorie</strong> in zwei Teilen von Josef<br />
Achtélik. 180 In diesem Werk versucht Achtélik, unter anderem aufbauend auf den<br />
Thesen Riemanns 181 , die Naturklangtheorie als einzig wahre Gr<strong>und</strong>lage jedweder Musik<br />
darzustellen:<br />
Für uns, die wir alle Klangmöglichkeiten eines Naturklanges als <strong>Tonalität</strong> empfinden <strong>und</strong> damit<br />
nur der Weisung der Natur folgen, für uns ist auch die jetzige Epoche nur ein Entwicklungsübergang<br />
[...] 182<br />
Die Musik der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg lehnt Achtélik dagegen<br />
kategorisch ab:<br />
Schönberg <strong>und</strong> der kleine Kreis um ihn, zum großen Teil asiatischer Abstammung, erhoben die<br />
Dissonanz zum einzigen musikalischen Zusammenklang. [...]<br />
So kommt es denn, dass man diese Musik weder verstehen noch empfinden kann, daß man sie<br />
weder schön noch erhebend, weder wohltuhend noch begeisternd finden kann. Die Musik ist<br />
zum nichtssagenden, weil alles auf einmal sagenwollenden Tongeräusch erniedrigt worden. [...]<br />
Daß Gehörreizungen durch diese Klangballungen hervorgerufen werden, wird niemand bestreiten;<br />
aber Musik ist das nicht mehr. [...] impotente Versuche degenerierter Nerven nennen es die<br />
meisten. 183<br />
180 Vgl. Library of Congress: Third Reich Collection.<br />
181 Vgl. Josef Achtélik, Der Naturklang als Wurzel aller Harmonien: eine aesthetische <strong>Musiktheorie</strong><br />
(Band 2), Frankfurt: C.F. Kahnt 1922, S. 101ff.<br />
182 Ebda., S. 145.<br />
183 Ebda.<br />
45
In den 1960er Jahren griff Carl Dahlhaus in seiner Habilitationsschrift Untersuchungen<br />
über die Entstehung der harmonischen <strong>Tonalität</strong> den <strong>Tonalität</strong>sbegriff erneut auf.<br />
Dahlhaus versuchte darin weniger die bestehenden systematischen Aspekte im Zusammenhang<br />
mit dem Begriff zu erweitern, als vielmehr „die Entstehung der harmonischen<br />
<strong>Tonalität</strong> in der Mehrstimmigkeit des 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>erts“ zu untersuchen.<br />
184 Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war dabei Fétis’ historischer <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />
<strong>und</strong> dessen Einteilung der Musikgeschichte in unterschiedliche Epochen,<br />
basierend auf der jeweiligen harmonischen Syntax. Dahlhaus stellt fest, dass „<strong>Tonalität</strong><br />
außer einer systematischen auch eine historische Kategorie ist. Die <strong>Tonalität</strong> des 16. <strong>und</strong><br />
die des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts sind Stufen einer zusammengehörigen Entwicklung.“ 185 Den<br />
Begriff „harmonische <strong>Tonalität</strong>“ verwendet Dahlhaus dabei „synonym mit Riemanns<br />
‚<strong>Tonalität</strong>‘ <strong>und</strong> Fétis’ ‚tonalité moderne‘“ 186 . Der harmonischen <strong>Tonalität</strong> stellt<br />
Dahlhaus den Begriff der „melodischen <strong>Tonalität</strong>“ gegenüber, „die der harmonischen –<br />
durch Akkorde f<strong>und</strong>ierten – des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts vorausging“.<br />
Die rasante Entwicklung von Computertechnologien <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>ene Aufschwung<br />
der Naturwissenschaften seit den 1950er Jahren wirkte sich auch nachhaltig<br />
auf die <strong>Musiktheorie</strong> aus. Schlüsselwörter wie „Berechenbarkeit“ („computability“) <strong>und</strong><br />
„Interdisziplinarität“ sind seither in allen Wissenschaftsbereichen an der Tagesordnung<br />
<strong>und</strong> werden oft sogar als ein „Qualitätsmerkmal“ neuer Theorien angesehen. Vor allem<br />
in den USA werden Forschungsgelder oft nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> der Möglichkeit einer<br />
Software-Implementierung <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen wirtschaftlichen Aussichten<br />
vergeben.<br />
Auch die Mathematik hatte in der Folge großen Einfluss auf musiktheoretische Untersuchungen.<br />
Die von Milton Babbit 1946 <strong>und</strong> 1961 entwickelte pitch class set theory 187<br />
wurde von Allen Forte seit den 1960er Jahren als Analysewerkzeug für harmonische<br />
Zusammenhänge weiterentwickelt. Forte nutzt Erkenntnisse der mathematischen<br />
Mengenlehre <strong>und</strong> wendet diese auf Tonmengen (pitch sets) an. Eine Gruppe von Tönen,<br />
wie ein Akkord oder auch eine melodische Linie, wird von Forte in einer mathema-<br />
184<br />
Dahlhaus, Untersuchungen, S. 18.<br />
185<br />
Ebda.<br />
186<br />
Ebda.<br />
187<br />
Vgl. Stephan Lewandowski, Pitch Class Set, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft<br />
(Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 380-382, hier S.<br />
381.<br />
46
tischen Menge zusammengefasst <strong>und</strong> in ihre „Gr<strong>und</strong>form“ (prime form) gebracht, die<br />
anschließend gemäß ihrer Intervallstruktur zur Bezeichnung der Tonmenge dient. Ein<br />
Dreiklang (sowohl Dur als auch Moll) lautet in der prime form beispielsweise „037“<br />
(von Forte auch als „3-11“ bezeichnet). Die Zahlen beziehen sich dabei auf die – von<br />
der Ziffer Null aus gerechneten – Intervalle der kleinen Terz (3) <strong>und</strong> der reinen Quint<br />
(7). Damit erzeugte Forte einerseits einen Quasi-Standard für die Abbildung von Tonmengen<br />
in Computern mittels der Zahlen null bis elf, andererseits verzichtet die set<br />
theory auch auf enharmonische Verwechslungen <strong>und</strong> stellt damit eine allgemeine<br />
Terminologie für die abstrakte Kommunikation von Klängen zur Verfügung. 188 Die<br />
pitch class Analyse ermöglichte insbesondere neue Einblicke in die Klangorganisation<br />
post-tonaler Musik, Forte wendet sie jedoch gelegentlich auch auf Analysen spättonaler<br />
Musik, wie z.B. Werke von Franz Liszt, an. 189<br />
Auch statistische Methoden wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts immer<br />
häufiger für die musikalische Analyse herangezogen. Der Komponist Raymond Wilding-White<br />
geht 1961 sogar so weit in einem Artikel „Tonikalität“ 190 als ein (mathematisches)<br />
Verfahren anzusehen: „it is a measure of bias and represents the relative importance<br />
given to each of the subsets contained in a given set.“ 191 Die Tonika einer <strong>Tonalität</strong><br />
wäre damit der „relativ bedeutendste“ Akkord oder Ton innerhalb einer Menge von<br />
Akkorden oder Tönen.<br />
Seit den letzten 15 Jahren gewann mit der Neo-Riemann-Theorie auch eine Neuinterpretationen<br />
der Funktionstheorie Riemanns zunehmend an Bedeutung. Die Neo-<br />
Riemann-Theorie verbindet zeitgenössische Strömungen wie set theory <strong>und</strong> Berechenbarkeitstheorie<br />
mit musiktheoretischen Erkenntnissen des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> steht<br />
dabei auch der Kognitionswissenschaft sowie der Sprachwissenschaft – namentlich<br />
Noam Chomskys Transformationstheorie 192 – nahe.<br />
188<br />
Vgl. Allen Forte, A Theory of Set-Complexes for Music, in: Journal of Music Theory (Bd. 8,2), 1964,<br />
S. 136-139, 141, 140, 142-183.<br />
189<br />
Vgl. Allen Forte, Liszt’s Experimental Idiom and Music of the Early Twentieth Century, in: 19th-<br />
Century Music (Bd. 10,3), 1987, S. 209-228.<br />
190<br />
Der Begriff „Tonikalität“ geht auf Rudolph Reti zurück <strong>und</strong> hebt die Bedeutung des Gr<strong>und</strong>- oder<br />
Zentraltons der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> hervor (vgl. Dahlhaus, <strong>Tonalität</strong>, S. 623).<br />
191<br />
Raymond Wilding-White, Tonality and Scale Theory, in: Journal of Music Theory (Bd. 5,2), 1961, S.<br />
275-286, hier S. 280.<br />
192<br />
Vgl. Noam Chomsky, Syntactic Structures [1957], Berlin, New York: Mouton de Gruyter 2002.<br />
47
Riemanns Anspruch einer allumfassenden Theorie dur-moll-tonaler Harmonik wurde<br />
im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert immer wieder stark kritisiert. Harmonische Neuerungen in der<br />
zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, die nach Schönberg eine „schwebende“ oder<br />
„aufgelöste“ <strong>Tonalität</strong> darstellen, lassen sich mit der Riemannschen Funktionstheorie<br />
kaum oder nur unzulänglich beschreiben. Die zunehmende Chromatisierung romantischer<br />
Musik sowie die Verwendung „vagierender“ 193 Akkorde führte dazu, dass harmonische<br />
Folgen nicht mehr nur aus Sicht einer einzelnen Tonika gedacht werden können,<br />
sondern vielmehr in kurzen Abschnitten den Zentralklang wechseln. Außerdem wurden<br />
die traditionellen Harmoniefortschreitung im Quintenzirkel immer mehr mit mediantischen<br />
Harmoniefolgen im Terzenzirkel angereichert. Die Vorstellung eines einzelnen<br />
– die gesamte Harmonik bestimmenden – Zentralklangs scheint in Bezug auf einen<br />
großen Teil spätromantischer Musik demnach nicht mehr haltbar zu sein. Die Neo-<br />
Riemann-Theorie ist ein Versuch dieser Problematik Rechnung zu tragen, indem sie<br />
Akkorde nicht mehr auf einen Zentralklang bezieht, sondern statt dessen die direkten<br />
Beziehungen zwischen aufeinander folgenden Klängen untersucht:<br />
I propose to position triadic harmonies in relation to neither a diatonic system nor a tonal center,<br />
but rather to other triadic harmonies on the basis of the number of pitch-classes that they share,<br />
and more generally on the efficiency of the voice leading between them. 194<br />
Die Ursprünge der Neo-Riemann-Theorie gehen auf David Lewin zurück. In seinem<br />
1982 erschienenen Artikel A Formal Theory of Generalized Functions 195 definiert<br />
Lewin mathematische „Transformationen“ („transformations“) die sich auf „Riemann-<br />
193<br />
Ein Terminus den ebenfalls Schönberg prägte. Unter „vagierenden“ Akkorden versteht Schönberg<br />
Akkorde, die in unterschiedlichen Tonarten unterschiedliche Funktionen ausüben (wie z.B. der übermäßige<br />
Dreiklang, der verminderte Septakkord oder der halbverminderte Septakkord) <strong>und</strong> somit nicht<br />
auf eine einzelne Tonart bezogen werden können (Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 310ff).<br />
Allerdings ist diese Verallgemeinerung durchaus problematisch da zweifelsfrei jeder Mehrklang –<br />
auch der Dur-Dreiklang – in unterschiedlichen Tonarten gedeutet <strong>und</strong> somit als „vagierender“ Akkord<br />
gedacht werden kann. Insofern macht einen „vagierenden Akkord“ weniger der Akkordtyp aus,<br />
sondern viel mehr die Art <strong>und</strong> Weise, in der er verwendet wird. Werner Breig schreibt diesbezüglich:<br />
„Die zur Kategorie der vagierenden Akkorde gehörenden Klänge können zwar so behandelt werden,<br />
daß ihr Tonartbezug eindeutig bleibt; zu ihrer eigentlichen Wirksamkeit als ‚vagierende‘ Akkorde<br />
gelangen sie jedoch dann, wenn ihr gehäuftes Auftreten zur schwebenden <strong>und</strong> aufgehobenen <strong>Tonalität</strong><br />
führt.“ (Werner Breig, Vagierender Akkord, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie,<br />
Stuttgart: Steiner 1999, S. 1).<br />
194<br />
Ebda., S. 214.<br />
195<br />
David Lewin, A Formal Theory of Generalized Tonal Functions. Journal of Music Theory (Bd. 26,1),<br />
1982, S. 32-60.<br />
48
Systeme“ anwenden lassen. 196 Eine Transformation ist dabei gewissermaßen eine<br />
Funktion, die als Input einen Klang akzeptiert <strong>und</strong> diesen Klang nach bestimmten<br />
Regeln verändert, um so zu einem neuen Klang zu gelangen. In Generalized Musical<br />
Intervals and Transformations 197 (1987) verfeinert Lewin seine Theorie <strong>und</strong> untersucht<br />
Transformationen im Zusammenhang mit konsonanten Dreiklängen. Lewin unterscheidet<br />
zwischen zwei Klassen von Transformationen: der Umkehrung („inversion“) <strong>und</strong><br />
der Verschiebung („shift“). Eine Verschiebung bewirkt, dass ein Dreiklang auf einer<br />
alterierenden Terzenskala (Abbildung 14), vergleichbar mit der Skala in Abbildung 9<br />
von Hauptmann, eine bestimmte Anzahl von Stellen nach links („left shift“) oder rechts<br />
(„right shift“) verschoben wird. 198<br />
b – Db – f – Ab – c – Eb – g – B – d – F – a – C – e – G – h – D – f# – A – c# – E – g# – H – d<br />
Abbildung 14: Alternierende Terzenskala.<br />
Eine einfache Verschiebung nach links bezeichnet Lewin als MED, da der Zielakkord<br />
zum Ausgangsakkord in einer mediantischen Beziehung steht (z.B. C-Dur → a-Moll),<br />
eine doppelte Verschiebung nach links bezeichnet er entsprechend als DOM, da es sich<br />
um eine dominantische Beziehung handelt (z.B. C-Dur → F-Dur). 199 Als Umkehrungs-<br />
Transformationen definiert Lewin<br />
REL, the operation that takes any Klang into its relative major/minor. […] We can also define<br />
PAR, the operation that takes any Klang into its parallel major/minor. […] We can define Riemann’s<br />
„leading tone exchange“ as an operation LT. 200<br />
Akkordfolgen, welche diesen Transformationen entsprechen stellt Lewin in Form von<br />
zweidimensionalen gerichteten Graphen dar. 201 Abbildung 15 zeigt zwei<br />
Transformations-Graphen der ersten Takte des langsamen Satzes von Ludwig v.<br />
196<br />
Lewin definierte seine Theorie mit Berücksichtigung möglicher Berechenbarkeit mathematisch. Die<br />
Transformationen sind demnach nicht auf Dur- <strong>und</strong> Moll-Dreiklänge beschränkt, sondern können<br />
abhängig vom zugr<strong>und</strong>e liegenden „Riemann System“ auch auf andere Dreiklänge angewendet<br />
werden (vgl. Lewin, A Formal Theory, S. 26).<br />
197<br />
David Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations [1987], Oxford/New York: Oxford<br />
University 2007.<br />
198<br />
Vgl. Richard Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory: A Survey and a Historical Perspective,<br />
in: Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 167-180, hier S. 170.<br />
199<br />
Vgl. ebda., S. 170f.<br />
200<br />
Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations, S. 178.<br />
201<br />
Vgl. Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory, S. 171.<br />
49
Beethovens Sonate op. 57 „Appassionata“. Die Pfeile zeigen dabei nicht den harmonischen<br />
Verlauf an, sondern die Richtung der Transformation. 1993 wendet Lewin seine<br />
Theorie in Analysen auf Luigi Dallapiccolas Simbolo, Karlheinz Stockhausens Klavierstück<br />
Nr. 3 (1952), Anton Weberns op. 10/4 aus Fünf Stücke für Orchester (1911) sowie<br />
Claude Debussys Feux d'artifice (1910-1912) an. 202<br />
Abbildung 15: Zwei Transformations-Graphen der ersten Takte des langsamen Satzes von<br />
Beethovens Sonate op. 57 „Appassionata“. 203<br />
Lewins Theorie wurde von Brian Hyer aufgegriffen <strong>und</strong> weiterentwickelt. Hyer verzichtet<br />
auf die red<strong>und</strong>ante MED-Transformation, da diese im Prinzip der PAR-<br />
Transformation entspricht <strong>und</strong> reinterpretiert die DOM-Transformation als Transposition.<br />
Die Verschiebungs-Transformationen werden von da an in der Neo-Riemann-<br />
Theorie meist fallen gelassen. Eine besondere Leistung Hyers war es die Beziehungen<br />
zwischen den einzelnen Transformationen in einem Graphen darzustellen (Abbildung<br />
16). Er bezieht sich dabei direkt auf die Tabellen von Tonartverwandtschaften bzw.<br />
Tonnetze, wie sie von Musiktheoretikern des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts (z.B. Weber <strong>und</strong><br />
Oettingen, vgl. Abbildung 7 u. Abbildung 10) entworfen wurden. Die drei Koordinaten<br />
des Graphen repräsentieren dabei die drei Intervalle des diatonischen Dreiklangs (reine<br />
Quint auf der Horizontalen, große <strong>und</strong> kleine Terz auf den beiden Diagonalen); jedes<br />
Dreieck des Graphen entspricht einem Dreiklang.<br />
202<br />
Vgl. David Lewin, Musical Form and Transformation. Four Analytic Essays [1993], Oxford: Oxford<br />
University 2007.<br />
203<br />
Vgl. Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations, S. 178.<br />
50
Abbildung 16: Beziehungen der unterschiedlichen Transformationen nach Hyer. 204<br />
Richard Cohn untersuchte 1996 die verschiedenen Umkehrungs-Transformationen <strong>und</strong><br />
interessierte sich dabei insbesondere für die Stimmfortschreitungen, die bei derartigen<br />
Transformationen entstehen. Bei jeder Umkehrungs-Transformation bleiben zwei<br />
Akkordtöne liegen, währen ein Akkordton in einem kleinen oder großen Sek<strong>und</strong>schritt<br />
verändert wird. Diese Akkordzusammenhänge stellte Cohn als „maximally smooth<br />
cycles“ auf einem Kreis-Diagramm dar, auf dem sich jeder Akkord durch die chromatische<br />
Veränderung von einem Ton in den nächsten verwandelt, bis zum Schluss der<br />
Ausgangsakkord wieder erreicht wurde (Abbildung 17). Diese Akkordfortschreitung<br />
basiert auf einem Großterzzirkel, einer Fortschreitung, die in spätromantischer Musik<br />
oft eine bedeutende Rolle einnahm. 205 Eine eindeutige Zentrierung auf eine Tonika im<br />
funktionstheoretischen Sinne ist innerhalb des abstrakten Zirkels unmöglich, da jeder<br />
Akkord im Verhältnis zu den anderen prinzipiell die gleiche Bedeutung hat.<br />
204 Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory, S. 172.<br />
205 Vgl. Richard Cohn, Maximally Smooth Cycles, Hexatonic Systems, and the Analysis of Late-Romantic<br />
Triadic Progressions, in: Music Analysis (Bd. 15,1), 1996, S. 9-40, hier S. 9-17; Cohn, Introduction<br />
to Neo-Riemannian Theory, S. 174f.<br />
51
Abbildung 17: Cohns „maximally smooth cycles“. 206<br />
Die Ergebnisse seiner Untersuchungen wandte Cohn unter anderem auf Franz Schuberts<br />
Klaviertrio in Es-Dur op. 100 (D. 929) an. Die Take 586-598 der Coda dieses Werkes<br />
enthalten den in Abbildung 18 dargestellten harmonischen Verlauf, der genau den<br />
„maximally smooth cycles“ entspricht. 207<br />
Abbildung 18: Schubert, Klaviertrio in Es-Dur op. 100; harmonischer Verlauf der Takte 586-598.<br />
206 Ebda., S. 17.<br />
207 Vgl. zu Cohns Schubert-Analyse: Cohn, As Wonderful as Star Clusters: Instruments for Gazing at<br />
Tonality in Schubert, in: 19th-Century Music (Bd. 22,3), 1999, S. 213-232, hier S. 215.<br />
52
In weiterer Folge wurde die Neo-Riemann-Theorie von vielen Autoren aufgegriffen <strong>und</strong><br />
erweitert, um damit weitere Akkordverbindungen zu untersuchen. David Kopp beschäftigte<br />
sich in seinem Buch Chromatic transformations in nineteenth-century music<br />
beispielsweise mit mediantischen Beziehungen zwischen Dreiklängen. 208 Jack Douthett<br />
<strong>und</strong> Peter Steinbach erweiterten in Korrespondenz mit Richard Cohn die „maximally<br />
smooth cycles“ auf übermäßige Dreiklänge <strong>und</strong> Septakkorde. 209 Abbildung 19 zeigt<br />
eine dreidimensionale Darstellung der vier Zyklen, von denen jeweils zwei über einen<br />
gemeinsamen übermäßigen Dreiklang chromatisch verb<strong>und</strong>en sind. Abbildung 20 zeigt<br />
eine vergleichbare Darstellung für Dominantseptakkorde <strong>und</strong> halbverminderte Septakkorde,<br />
die über den verminderten Septakkord chromatisch verb<strong>und</strong>en sind.<br />
Abbildung 19: „Dancing Cubes“; Darstellung der chromatischen Beziehungen zwischen übermäßigen<br />
Dreiklängen <strong>und</strong> Dur- bzw. Molldreiklängen. 210<br />
208 David Kopp, Chromatic transformations in nineteenth-century music (Cambridge studies in music<br />
theory and analysis 17), Cambridge: Cambridge University Press 2002.<br />
209 Jack Douthett / Peter Steinbach, Parsimonious Graphs: A Study in Parsimony, Contextual Transformations,<br />
and Modes of Limited Transposition, in: Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 241-<br />
263.<br />
210 Ebda., S. 254.<br />
53
Abbildung 20: „Power Towers“; Darstellung der chromatischen Beziehungen zwischen verminderten<br />
Septakkorden mit dem Dominantseptakkord <strong>und</strong> dem halbverminderten Septakkord.<br />
Die Vorteile der Neo-Riemann-Theorien im Vergleich zu Riemanns Funktionstheorie<br />
lassen sich an einem einfachen Beispiel aufzeigen. Abbildung 21 zeigt eine schlichte<br />
Akkordfolge in C-Dur inklusive einer möglichen funktionstheoretischen Interpretation<br />
(zu diesem Beispiel ist anzumerken, dass es keinerlei Anspruch auf künstlerischen Wert<br />
erhebt, sondern lediglich der Anschaulichkeit dient). Abbildung 22 zeigt dieselbe<br />
Akkordfolge, diesmal im Sinne der Neo-Riemann-Theorie mittels Transformationen<br />
gedeutet. Anhand des dort dargestellten gerichteten Graphen kann man, im Gegensatz<br />
zur Riemannschen Funktionsanalyse, leicht erkennen, dass die Akkordfolge einem<br />
gleich bleibendem Schema folgt. Die Transformationen PAR <strong>und</strong> LT wechseln sich<br />
kontinuierlich ab, bis hin zum B-Dur-Dreiklang in Takt 5. Die Verbindung zwischen B-<br />
Dur <strong>und</strong> G-Dur kann man wiederum als eine LT-Transformation gefolgt von einer<br />
REL-Transformation ansehen, bevor schließlich mit einer DOM-Transformation zum<br />
C-Dur-Dreiklang zurückgekehrt wird.<br />
Abbildung 21: Akkordfolge in C-Dur funktionstheoretisch gedeutet.<br />
54
A- LT F+<br />
PAR<br />
C+<br />
DOM<br />
G<br />
REL<br />
PAR+REL<br />
[G-]<br />
PAR<br />
D-<br />
LT<br />
B+<br />
PAR<br />
Abbildung 22: Akkordfolge in C-Dur im Sinne der Neo-Riemann-Theorie gedeutet.<br />
1.8 Der Begriff des „Klangzentrums“ bei Erpf <strong>und</strong> Lissa<br />
Hermann Erpf prägte 1927 in seinem Buch Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik<br />
der neueren Musik den Terminus „Klangzentrum“, der zahlreiche Analyseansätze posttonaler<br />
Musik beeinflusste. Er definierte die Technik des Klangzentrums wie folgt:<br />
Die Technik des Klangzentrums hat als wesentliches Merkmal einen nach Intervallzusammenhang,<br />
Lage im Tonraum <strong>und</strong> Farbe bestimmten Klang, der im Zusammenhang nach kurzen Zwischenstrecken<br />
immer wieder auftritt. Dadurch gewinnt dieser Klang, der meist ein dissonanter<br />
Vielklang von besonderem Klangreiz ist, in einem gewissen primitiven Sinn den Charakter eines<br />
klanglichen Zentrums, von dem die Entwicklung ausgeht, <strong>und</strong> in das sie wieder zurückstrebt. Die<br />
Zwischenpartien heben sich kontrastierend ab, dem dominantischen Heraustreten aus der Tonika<br />
vergleichbar, so daß ein gewisser Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika zustande kommt, in dem<br />
dieses Gebilde noch in einer letzten Beziehung auf die Funktionsharmonik zurückweist. 211<br />
Erpf beschreibt die Technik des Klangzentrums als einen „funktionslosen Satztypen“,<br />
wobei er sich mit dem Begriff „Funktion“ hier auf Riemanns Funktionstheorie im Sinne<br />
der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> bezieht. Als weitere funktionslose Satztypen gibt er die<br />
211 Erpf, Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik, S. 122.<br />
55
„Technik der ostinaten Unterlage“ 212 <strong>und</strong> die „Zwölf-Töne-Musik“ an. 213 Es scheint<br />
offensichtlich, dass Erpf diese Techniken nur deshalb unter einem Satztypus zusammengefasst<br />
hat, da sie seiner Meinung nach eines gemeinsam haben: die resultierende<br />
Harmonik ist aus Sicht der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> nicht oder nur schwer erklärbar;<br />
selbst wenn man einen einzelnen Klang aus Sicht der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> deuten<br />
könnte, würde er im musikalischen Zusammenhang keine Funktion im Sinne Riemanns<br />
einnehmen. Aus dieser Sicht ist es überraschend, dass Erpf die Technik des Klangzentrums<br />
trotzdem mit den Begriffen der Riemannschen Funktionstheorie als einen „gewissen<br />
Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika“ beschreibt <strong>und</strong> damit impliziert, dass das<br />
Klangzentrum dieser Technik dieselbe musikalische Funktion besäße wie der Zentralklang<br />
der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong>, die Tonika. Auch die Ähnlichkeit des Begriffs mit den<br />
oben erwähnten Synonymen für die Tonika – „Konzentrationston“, „Gravitationszentrum“,<br />
„Kraftzentrum“ <strong>und</strong> „Brennpunkt“ – ist sehr auffällig. Erpfs Definition der<br />
<strong>Klangzentren</strong>-Technik erweckt den Anschein, als hätte sich die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> in<br />
manchen Werken der Atonalität nicht zur Gänze „aufgelöst“ gehabt; statt dessen könnte<br />
das definierende Moment – der Zentralklang – im Zuge der harmonischen Neuerungen<br />
lediglich neue Formen angenommen haben.<br />
Durch den Vergleich mit einer Tonika macht Erpf gleichzeitig auch eine Aussage über<br />
die hörpsychologischen Eigenschaften des Klangzentrums. Das Klangzentrum müsste in<br />
diesem Sinne ein Klang sein, der im musikalischen Zusammenhang keiner Auflösung<br />
mehr bedarf, obwohl es sich dabei laut Erpf meist um einen dissonanten Vielklang<br />
handelt. Auch alle akkordfremden Töne beziehen sich entsprechend auf dieses Klangzentrum<br />
<strong>und</strong> sind aus dessen Sicht zu deuten. Erpf spricht in diesem Zusammenhang<br />
von „Nebennoten“ <strong>und</strong> „Vorhalten“. 214 Auch die restliche Harmonik bezieht sich laut<br />
Erpf direkt auf das Klangzentrum, wie an dem Vergleich von kontrastierenden Zwischenpartien<br />
mit „dem dominantischen Heraustreten aus der Tonika“ deutlich wird.<br />
212 Unter der „Technik der ostinaten Unterlage“ versteht Erpf mehrstimmige ostinierende Figuren im<br />
Bass, die eigenständige harmonische Folgen ausbilden. Die Melodiestimmen bewegen sich zum Teil<br />
unabhängig von der Harmonik der ostinaten Unterlage <strong>und</strong> sind insofern – im Sinne der Dur-Moll-<br />
<strong>Tonalität</strong> – nicht funktional zu deuten (vgl. ebda., S. 122f, 194-198).<br />
213 Vgl. ebda.<br />
214 Vgl. z.B. Erpfs Analyse von Schönbergs Klavierstück op. 19/6 (ebda., S. 198).<br />
56
Als Beispiel für die Technik des Klangzentrums, diskutiert Erpf Schönbergs Klavierstück<br />
op. 19/6 (1911). 215 In diesem Werk kann der in Abbildung 23 dargestellte Akkord<br />
als Zentralklang interpretiert werden. Seine sehr stabile Klangwirkung erhält der<br />
Akkord unter anderem durch seine weite Lage <strong>und</strong> die Quartenschichtung der Außenstimmen<br />
(g–c 1 –f 1 sowie fis 2 –h 2 ). Dur-moll-tonale Bezüge werden durch den gedrängten<br />
Tonvorrat (G–A–H–C–F–Fis) sowie durch die interne Intervallstruktur (2 große Nonen:<br />
g–a 1 , a 1 –h 2 ; eine kleine None: f 1 –fis 2 ; zwei Tritoni: c 1 –fis 2 , f 1 –h 2 ) weitgehend ausgeschlossen.<br />
Abbildung 23: Zentralklang aus Schönberg, Klavierstück op. 19/6.<br />
In dem nur neun Takte dauernden Werk klingt dieser Klang in den ersten drei Takten<br />
sowie im letzten Takt (Abbildung 24). Der Klang in Takt 5-6 könnte als eine Variation<br />
des Klanges in einer Transposition des Tonvorrats nach C gedeutet werden (C–D–E–F–<br />
B–[H]). Zugleich stellt Takt fünf, durch das typische Aussetzen eines Dominantseptakkords<br />
auf E im zweiten System, auch recht eindeutige dur-moll-tonale Beziehungen<br />
her. Dies könnte der Gr<strong>und</strong> für die beiden eigentlich akkordfremden Töne Gis <strong>und</strong> Fis<br />
sein, die den Klang hier von einem vorwiegend aus Quarten zusammengesetzten Klang<br />
in einen vorwiegend ganztönigen Klang verwandeln (C–D–E–[F]–Fis–Gis–B). Als<br />
Verbindung dieser beiden Klänge erweitert Schönberg auf der zweiten Viertel von Takt<br />
Fünf die untere Quartenstruktur des Klangzentrums kurzzeitig zu einem viertönigen<br />
Quartenklang (g–c 1 –f 1 –b 1 ). Die Takte sieben <strong>und</strong> acht lassen sich nur schwer aus Sicht<br />
des Klangzentrums deuten <strong>und</strong> bilden einen Kontrast. Auffällig ist, dass die Melodie in<br />
Takt sieben die letzten beiden Töne Cis <strong>und</strong> Es der chromatischen Skala einführt <strong>und</strong><br />
damit den Tonvorrat vom achten Takt vorbereitet. Der erste Klang in Takt acht hat als<br />
strukturbildendes Element wiederum den dreistimmigen Quartenklang im unteren<br />
System. Dieses Klangelement wandert damit von den Unterstimmen (T. 1-5) in die<br />
Oberstimmen (T. 5-6) <strong>und</strong> wieder zurück (T. 8 sowie T. 9). So ist der Zentralklang nicht<br />
nur ein harmonischer Ruhepunkt, von dem die Bewegung ausgeht <strong>und</strong> in die sie wieder<br />
215 Vgl. Ebda.<br />
57
zurückkehrt, sondern dient auch als strukturbildendes Vorbild für die restlichen Klänge<br />
des Werkes.<br />
Abbildung 24: Schönberg, Klavierstück op. 19/6.<br />
Anton Weberns erstes Lied der 5 Lieder nach Gedichten von Stefan George op. 4<br />
(Abbildung 25) ist ein weiteres Beispiel für die Technik des Klangzentrums. Die<br />
Akkordstruktur des Klangzentrums im ersten Takt dient auch hier den übrigen Harmonien<br />
als Vorbild. Besonders auffallend sind in diesem Zusammenhang die Quartenstrukturen<br />
(inclusive übermäßiger Quart) aus denen sich die Klänge meist aufbauen. In Takt<br />
5 sowie zum Schluss des Werkes kehrt die Harmonik wieder zum Klangzentrum zu-<br />
rück. 216<br />
216 Weitere Werke Weberns, in denen die Technik des Klangzentrums angewendet wurde sind laut<br />
Rudolf Stephan unter anderem die Lieder op. 3/4 <strong>und</strong> op. 4/4. Albern Bergs Fünf Orchesterlieder<br />
58
Abbildung 25: Anton Webern, 5 Lieder nach Gedichten von Stefan George op. 4/1, Takte 1-5.<br />
Eine etwas andere Variante der <strong>Klangzentren</strong>-Technik findet sich in Schönbergs<br />
Orchesterstück Farben op. 16/3. Neben der Bezeichnung „Farben“ gab Schönberg dem<br />
1909 komponierten Stück unter anderem auch die Namen „Akkordfärbungen“ <strong>und</strong> „Der<br />
wechselnde Akkord“, welche die zugr<strong>und</strong>e liegende Kompositionstechnik hervorheben.<br />
217 Das Klangzentrum des Anfangsakkords wird im Verlauf des Stückes sukzessive<br />
in kleinen Schritten verändert <strong>und</strong> variiert. Abbildung 26 zeigt den harmonischen<br />
Verlauf über die ersten neun Takte. Die Stimmen folgen dabei einer einfachen Logik:<br />
Jede wird einmal um einen Halbton erhöht <strong>und</strong> anschließen – aus Sicht des Zentralklangs<br />
– um einen Halbton erniedrigt. In Takt neun ergibt sich so wiederum der ursprüngliche<br />
Zentralklang um einen Halbton nach unten transponiert. In seiner ursprünglichen<br />
Transposition wird das Klangzentrum in Takt 30 <strong>und</strong> zum Schluss des Werkes<br />
(T. 43-44) wieder erreicht, außerdem erscheinen noch weitere Transpositionen während<br />
nach Ansichtskarten von Peter Altenberg op. 4 bezeichnet Stephan als Schlüsselwerk dieser Technik<br />
(vgl. Rudolf Stephan, Neue Musik. Versuch einer kritischen Einführung, Göttingen: Vandenhoeck &<br />
Ruprecht 1958, S. 36-39).<br />
217 Vgl. Charles Burkhart, Schoenberg’s Farben: An Analysis of Op. 16, No. 3, in: Perspectives of New<br />
Music (Bd. 12/1), 1973-1974, S. 141-172, hier S. 141f.<br />
59
des Stücks. 218 Damit durchläuft das Klangzentrum dieses Werks gewissermaßen eine<br />
kontinuierliche Klangtransformation 219 , die zum Schluss wieder zu ihrem Ausgangspunkt<br />
zurückkehrt. Neben der Zentrierung auf einen Zentralklang ist in Farben<br />
demnach auch ein harmonischer Prozess vorhanden, der den „maximally smooth<br />
cycles“ von Richard Cohn (vgl. S. 51) sehr ähnlich ist. Im Sinne der Transformationstheorie<br />
könnte man auch argumentieren, dass der Klang in den ersten neun Takten der<br />
Reihe nach alle denkbaren Umkehrungs-Transformationen erfährt, die jeden Ton um<br />
eine kleine Sek<strong>und</strong>e nach oben bzw. nach unten transformieren. Eine sehr ähnliche<br />
Transformationstechnik konnte auch in manchen Klavierwerken Franz Liszts, wie<br />
beispielsweise R.W. Venezia (1883) nachgewiesen werden. Dort verwandelt sich der<br />
Zentralklang des übermäßigen Dreiklangs auf Cis in den ersten 24 Takten über b-Moll,<br />
D-Übermäßig <strong>und</strong> h-Moll in einen übermäßigen Dreiklang auf Dis. 220<br />
Abbildung 26: Harmonischer Verlauf der Takte 1-9 von Schönbergs Orchesterstück Farben op.<br />
16/3.<br />
Zofja Lissa übernimmt in den 1930er Jahren Erpfs Begriff des Klangzentrums <strong>und</strong><br />
wendet ihn auf die Musik Alexander Skrjabins an. 221 Insbesondere verwendet sie den<br />
Terminus um Skrjabins bekannten Prometheus-Akkord (Abbildung 27; auch „mystischer<br />
Akkord“ oder „synthetischer Akkord“) zu deuten, der in vielen Werken Skrjabins<br />
zweiter Schaffensperiode den Ausgangspunkt aller harmonischen <strong>und</strong> melodischen<br />
Ereignisse bildet:<br />
218<br />
Vgl. ebda. S. 143.<br />
219<br />
Christian Utz <strong>und</strong> Dieter Kleinrath wenden diesen Begriff auch auf Klangereignisse neuerer Musik an<br />
wie z.B. Iannis Xenakis’ Metastasis für Orchester (1953), in dem sich in den ersten 34 Takten ein<br />
einzelner Ton (G) durch Glissandieren in den geteilten Streichern in einen Cluster verwandelt. Das<br />
sukzessive Verändern eines Klangzentrums kann durchaus als eine Vorform metamorphosenartiger<br />
Klangprozesse angesehen werden, die in der Musik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts immer wieder eine zentrale<br />
Rolle eingenommen haben (vgl. Christian Utz, Dieter Kleinrath, Klangorganisation. Zur Systematik<br />
<strong>und</strong> Analyse einer Morphologie <strong>und</strong> Syntax post-tonaler Kunstmusik, in: <strong>Musiktheorie</strong> <strong>und</strong> Improvisation.<br />
Bericht des IX. Kongresses der Gesellschaft für <strong>Musiktheorie</strong>, Mainz: Schott, in Vorbereitung.<br />
220<br />
Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 42-45.<br />
221<br />
Zofja Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, in: Acta Musicologica (Bd. 7/1), 1935, S.<br />
15-21.<br />
60
Auch die Melodik des Stückes [arbeitet] ständig <strong>und</strong> ausschließlich mit dem durch das Klangzentrum<br />
repräsentierten Tonmaterial. Das Klangzentrum bildet also die allgemeine Basis der<br />
Komposition, denn alle konstruktiven Elemente, sowohl der Harmonik, wie auch der Melodik<br />
lassen sich von ihm ableiten, auf ihn zurückführen. Ihr Tonmaterial <strong>und</strong> ihre Form ergibt sich aus<br />
den Bestandtönen <strong>und</strong> der Form des Klangzentrums. 222<br />
Abbildung 27: Skrjabins Prometheus-Akkord auf A.<br />
Skrjabins Klangzentrum vereint Skala <strong>und</strong> Harmonik zu einem geschlossenen Ganzen.<br />
Dieses Verfahren erkennt man schon an den ersten Takten (Abbildung 28) des Prometheus<br />
<strong>und</strong> sie wird das ganze Stück hindurch beibehalten. Harmonische Vielfalt erreicht<br />
Skrjabin weniger durch das Ändern des Gr<strong>und</strong>akkords, sondern hauptsächlich durch<br />
Umkehrungen <strong>und</strong> Transpositionen desselben sowie durch Herausfiltern oder Hervorheben<br />
von Farbschattierungen anhand der Instrumentation beziehungsweise durch das<br />
Weglassen einzelner Akkordtöne. Die wenigen Ausnahmen, in denen akkordfremde<br />
Töne im Prometheus erklingen (wie beispielsweise das B der Melodie, T. 12), sind<br />
durchwegs als Nebennoten beziehungsweise Akkordfarben anzusehen. Diese Tendenz –<br />
Skala <strong>und</strong> Harmonik aneinander anzugleichen – kann man auch schon in den späten<br />
Klavierwerken Liszts beobachten, in denen zum Beispiel die so genannte „Zigeunerleiter“<br />
<strong>und</strong> die Ganztonleiter eine wesentliche Rolle einnehmen. 223 Schönberg wendet in<br />
seiner ersten Kammersymphonie op. 9 ähnliche Techniken auch auf den Quartenakkord<br />
an, der in letzter Konsequenz der chromatischen Skala zugr<strong>und</strong>e liegt.<br />
Abbildung 28: Prometheus, Takte 1-10; harmonische Reduktion. 224<br />
222<br />
Ebda., S. 18.<br />
223<br />
Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 19-38.<br />
224<br />
Vgl. Gottfried Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, München/Salzburg: Katzbichler, S.<br />
50.<br />
61
Abbildung 29a zeigt die nach C transponierte Skala des Prometheus-Akkords. Skrjabins<br />
Aufzeichnungen legen jedoch nahe, dass die ursprüngliche Skala die in Abbildung 29b<br />
dargestellte mixolydische Skala mit erhöhter Quart war. Er notierte in einer Skizze den<br />
zusätzlichen Ton G dieser Skala, der zwar im Prometheus eine unbedeutende Rolle<br />
einnimmt, jedoch im zur selben Zeit entstandenen Poème op. 59 sowie in späteren<br />
Werken von Bedeutung ist. 225 Zsolt Gárdonyi bezeichnet diese Skala, gemeinsam mit<br />
anderen Theoretikern der Bartók-Forschung, auch als „akustische Skala“ 226 <strong>und</strong> die von<br />
ihr ausgehende <strong>Tonalität</strong> als „akustische <strong>Tonalität</strong>“. Dabei weist Gárdonyi auf Béla<br />
Bartóks häufige Verwendung dieser Skala hin wie beispielsweise in der Sonate für zwei<br />
Klaviere <strong>und</strong> Schlagzeug oder in Melodie mit Begleitung im zweiten Heft des Mikro-<br />
kosmos. 227<br />
Abbildung 29: a) Die Skala des Prometheus-Akkords, b) die mixolydische Skala mit erhöhter<br />
Quart.<br />
In der erwähnten Skizze bildet Skrjabin auf jedem Ton der Skala siebenstimmige<br />
Akkorde in Quarten- <strong>und</strong> Terzenschichtung (Abbildung 30). Das Auflisten dieser<br />
Klänge zeigt, wie sehr die dur-moll-tonalen Bezüge in Skrjabins Denkweise noch<br />
vorhanden waren. Zofja Lissa weist auch darauf hin, dass die Wurzeln des Prometheus-<br />
Akkords in der Dominante der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> liegen. 228 So gesehen könnte der<br />
Prometheus-Akkord auf C beispielsweise als eine Alteration der Dominanten C 7 , Fis 7<br />
oder D 7 angesehen werden, von denen er jeweils Gr<strong>und</strong>ton, Terz <strong>und</strong> kleine Sept enthält<br />
(Abbildung 31). Von diesen drei Klängen wird vor allem die Variante auf C (ein Domi-<br />
225 Vgl. ebda., S. 63f.<br />
226 Die Bezeichnung „akustische Skala“ lehnt sich an die Teiltonreihe an, aus der die Skala einen<br />
Ausschnitt vom 8. bis zum 14. Teilton bildet.<br />
227 Vgl. Zsolt Gárdonyi, Akustische <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Distanzharmonik im Tonsatzunterricht, in: Harmonik<br />
im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, Wien: Wiener Universitätsverlag 1993, S.46-61, hier S. 46f; sowie Zsolt<br />
Gárdonyi, Paralipomena zum Thema Liszt <strong>und</strong> Skrjabin, in: Virtuosität <strong>und</strong> Avandgarde, Untersuchungen<br />
zum Klavierwerk Franz Liszts, Mainz 1988, S. 11-14.<br />
228 Der Prometheus-Akkord kann aus einem übermäßigen Terzquartakkord mit hinzugefügter None <strong>und</strong><br />
Sexte abgeleitet werden. Die Dominante mit Sext-Vorlhalt bezeichnet Lissa auch als „Chopin-<br />
Akkord“ <strong>und</strong> weist damit auf eine wichtige Inspirationsquelle Skrjabins hin (vgl. Jörg-Peter Mittmann,<br />
Musikalische Selbstauslegung - eine sichere Quelle histori-scher <strong>Musiktheorie</strong>?, in: <strong>Musiktheorie</strong><br />
als interdisziplinäres Fach (musik.theorien der gegenwart 4), Saarbrücken: Pfau 2010, in Bearbeitung).<br />
Vgl. auch Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 49 sowie Zofja Lissa, Zur<br />
Genesis des Prometheischen Akkords bei Skrjabin, in: Musik des Ostens: Sammelbände für historische<br />
<strong>und</strong> vergleichende Forschung (Ostmittel-, Ost- <strong>und</strong> Südosteuropa) (Bd. 2), 1963.<br />
62
nantseptakkord mit hinzugefügter Sext, None <strong>und</strong> übermäßiger Quarte) – die Gr<strong>und</strong>stellung<br />
des Prometheus-Akkords – auch in der Jazzmusik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts häufig als<br />
tonikaler Klang eingesetzt.<br />
Abbildung 30: Akkorde in Quarten- (a) <strong>und</strong> Terzschichtung (b) über der mixolydischen Skala mit<br />
erhöhter Quart.<br />
Abbildung 31: Dur-moll-tonale Deutung des Prometheus-Akkords.<br />
Lissa weist in ihrem Artikel ausdrücklich darauf hin, dass der Begriff „Klangzentrum“<br />
bei Erpf eine andere Bedeutung hätte als bei ihr. 229 Aus Sicht der Erweiterung des<br />
Begriffs auf die Kompositionstechniken Skrjabins – Erpf hat Skrjabin in seinem Buch<br />
selbst nicht behandelt – trifft dies sicherlich zu, dennoch haben die beiden Definitionen<br />
viele Gemeinsamkeiten. Der wesentliche Unterschied zu Erpfs Auffassung des Klangzentrums<br />
ist, dass Lissa, entsprechend der Kompositionstechnik Skrjabins, Klangzentrum<br />
<strong>und</strong> Skala als eine gemeinsame Einheit auffasst. Dies allein widerspricht Erpfs<br />
Begriff noch nicht, jedoch geht Lissa in ihrer Argumentation so weit, dass sie behauptet,<br />
die Dodekaphonie bilde in diesem Sinne ihr eigenes Klangzentrum aus <strong>und</strong> könne<br />
229 Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, S. 18.<br />
63
deshalb – dem „natürlichen Evolutionsgesetz“ 230 folgend – als Weiterentwicklung <strong>und</strong><br />
Konsequenz der <strong>Klangzentren</strong>-Technik Skrjabins bewertet werden: 231<br />
Die Gr<strong>und</strong>gestalt bildet [in der Dodekaphonie] die Basis für die Konstruktion der ganzen<br />
Komposition, sowohl ihrer melodischen Motive <strong>und</strong> Themen, als auch ihrer Zusammenklänge.<br />
Sie ist […] ihr Beziehungszentrum analog dem Tonika-Akkord in der tonalen Harmonik. 232 […]<br />
Beide Systeme [die <strong>Klangzentren</strong>harmonik Skrjabins <strong>und</strong> die Dodekaphonie] haben also als gemeinsame<br />
Eigenschaft das Vorhandensein eines bestimmten Zentrums, welches das ganze Tonmaterial<br />
umfaßt <strong>und</strong> seine eigene spezifische Struktur besitzt. 233<br />
Lissa stellt dabei die <strong>Klangzentren</strong> der Dodekaphonie <strong>und</strong> der <strong>Klangzentren</strong>-Technik<br />
Skrjabins der dur-moll-tonalen Tonika gegenüber. Als Unterschiede zwischen der<br />
tonalen Harmonik <strong>und</strong> diesen beiden Techniken führt sie die folgenden an:<br />
a) die tonale Harmonik stützt sich auf die Tonika, als Beziehungszentrum, welches in seiner<br />
Struktur (der Terzenaufbau) für alle tonalen Kompositionen gleich blieb <strong>und</strong> welches nur einen<br />
Teil des Tonmaterials zum Ausdruck brachte; die Klangzentrum- <strong>und</strong> Zwölftontechnik nehmen<br />
aber als Beziehungszentrum eine bestimmte Form, eine vertikale oder horizontale Gestaltung des<br />
ganzen Tonmaterials an […]; b) […] Die tonale Harmonik scheidet einzelne Komplexe von<br />
Tonartelementen aus […]. Die beiden Systeme jedoch, […] beziehen alle Teilstrukturen der<br />
musikalischen Konstruktion auf das Zentrum als Urform. 234<br />
Die Vorstellung, dass die <strong>Klangzentren</strong>harmonik Skrjabins eine Vorform der Zwölftontechnik<br />
sei, wurde von mehreren Autoren in weiterer Folge aufgegriffen. Elmar Budde<br />
schrieb 1971, dass „die Technik des Klangzentrums […] allgemein als Vorform der<br />
Zwölftontechnik beschrieben“ 235 wird <strong>und</strong> bezieht sich dabei direkt auf Lissa.<br />
Allerdings wurde diese Sichtweise auch kritisiert; Gottfried Eberle meint, dass Lissa<br />
„die Unterschiede [zwischen Skrjabins <strong>Klangzentren</strong>harmonik <strong>und</strong> der Dodekaphonie]<br />
[…] zwar zum Teil durchaus sieht, aber unterbewertet, vielleicht aus der Genugtuung<br />
heraus, eine Vorform der Dodekaphonie entdeckt zu haben.“ 236<br />
230<br />
Ebda., S. 16.<br />
231<br />
Vgl. ebda., S. 15-20.<br />
232<br />
Ebda., S. 17.<br />
233<br />
Ebda., S. 20.<br />
234<br />
Ebda., S. 20f.<br />
235<br />
Elmar Budde, Anton Weberns Lieder op. 3. Untersuchungen zur frühen Atonalität bei Webern,<br />
Wiesbaden: Steiner 1971, S. 68.<br />
236<br />
Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 52.<br />
64
Lissas Argumentation hätte Erpf wahrscheinlich widersprochen, da er Zwölftontechnik<br />
<strong>und</strong> <strong>Klangzentren</strong>-Technik zwar unter dem Kapitel der funktionslosen Satztypen zusammengefasst<br />
hat, jedoch keineswegs eine direkte Beziehung zwischen diesen beiden<br />
Techniken herstellte. Auf einen anderen vermeintlichen Unterschied der Begriffsdefinitionen<br />
von Erpf <strong>und</strong> Lissa geht Gottfried Eberle in seinen Studien zur Harmonik Alexander<br />
Skrjabins 1978 ausführlich ein:<br />
Erpfs „Klangzentrum“ oder – um gleich die gemeinte Sache anzusprechen – der Quartenakkord<br />
in Schönbergs Klavierstück [op. 19/6], tritt immer wieder „nach kurzen Zwischenstrecken“ auf,<br />
die sich „kontrastierend abheben“. Skrjabins „Klangzentrum“ jedoch werden keine kontrastierenden<br />
Zwischenpartien gegenübergestellt, es bestimmt in seinen 12 Transpositionsstufen das<br />
Werk ganz ausschließlich. Es ist nicht ein „klangliches Zentrum, von dem die Entwicklung ausgeht<br />
<strong>und</strong> in das sie wieder zurückstrebt“, sondern es repräsentiert das Ganze, das im Gr<strong>und</strong>e<br />
keine harmonische Fortentwicklung kennt […]. 237<br />
Eberle scheint jedoch Erpfs Begriff des Klangzentrums zu verkennen. Erpf gibt zu<br />
keinem Zeitpunkt das Vorhandensein kontrastierender Zwischenstrecken als notwendige<br />
Bedingung für die Technik des Klangzentrums an. Im Gegenteil verwendet er<br />
den Begriff Klangzentrum auch im Zusammenhang mit der „Technik der ostinaten<br />
Unterlage“ wie folgt:<br />
Schrumpft die Klangfolge der ostinaten Unterlage auf einen einzigen – etwa figurierten – Klang<br />
zusammen, so geht sie in ein Klangzentrum über; dehnt sich der Klang des Klangzentrums zu<br />
einer Klangfolge aus, so kann er, bei Wiederholung in regelmäßigen Abständen, zu einer ostinaten<br />
Unterlage werden. 238<br />
Als Beispiel für eine Mischform aus ostinater Unterlage <strong>und</strong> Klangzentrum nennt Erpf<br />
Igor Strawinkys Trois pièces pour quatuor à cordes. Über die Takte 1-15 dieses Werkes<br />
schreibt Erpf:<br />
Der ganze Komplex, der übrigens den ganzen Satzablauf beherrscht, setzt sich also aus mehreren<br />
unregelmäßig verb<strong>und</strong>enen ostinaten Bewegungen zusammen, die zugleich die Figuration eines<br />
237 Ebda., S. 49.<br />
238 Erpf, Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik, S. 198.<br />
65
festgehaltenen Klangzentrums bilden. […] Der Klang verzichtet ebenfalls auf Entwicklung von<br />
beziehungsmäßiger Struktur, beharrt vielmehr auf einem Punkt. 239<br />
Daraus geht zweifelsfrei hervor, dass Erpf auch statische <strong>Klangzentren</strong> in seiner Definition<br />
mit einschließt. Das Klangzentrum einer Komposition definiert sich nicht über<br />
möglicherweise vorhandene kontrastierende Zwischenstrecken; umgekehrt werden diese<br />
jedoch durch das Vorhandensein eines Klangzentrums ermöglicht. Im Allgemeinen lag<br />
Erpf wohl wenig daran, mit seinen Begriffen eine exakte Systematik zu beschreiben.<br />
Vielmehr versucht er die Zusammenhänge von unterschiedlichen Kompositionstechniken<br />
<strong>und</strong> Satzmodellen anhand konkreter Beispiele, die aus seiner Sicht ähnlichen<br />
Prinzipien folgen, aufzuzeigen, weshalb er wohl auch die Technik des Klangzentrums<br />
mit dem Begriff der dur-moll-tonalen Tonika in Beziehung gebracht hat. Erpf weist<br />
sogar ausdrücklich darauf hin, „daß die [Satz-]Typen in reiner, deutlicher Form selten<br />
auf längeren Strecken herrschen. Sie wechseln vielmehr häufig untereinander, durchdringen<br />
sich gegenseitig <strong>und</strong> sind fast immer durchsetzt von Resten funktioneller<br />
Beziehung.“ 240 So gesehen schließen sich die <strong>Klangzentren</strong>begriffe bei Erpf <strong>und</strong> Lissa<br />
keineswegs gänzlich aus. Jedenfalls beziehen sich beide auf vergleichbare Kompositionstechniken,<br />
die in den Denkmustern der Komponisten um 1900 fest verankert waren<br />
<strong>und</strong> auf ähnliche Wurzeln hindeuten.<br />
Auch Eberles Behauptung im erwähnten Zitat, dass Skrjabins Klangzentrum „nicht ein<br />
‚klangliches Zentrum [ist], von dem die Entwicklung ausgeht <strong>und</strong> in das sie wieder<br />
zurückstrebt‘“ ist sehr fragwürdig. Er bezieht sich dabei direkt auf folgende Aussage<br />
Lissas: 241<br />
Die zwölf möglichen Transpositionen des Gr<strong>und</strong>akkordes bilden nichts an sich Selbstständiges,<br />
das sich dem Klangzentrum in seiner ursprünglichen Gestalt entgegenstellen würde, es sind bloß<br />
Schattierungen seiner Tonhöhe. 242<br />
Wie soll diese Aussage verstanden werden? Ist damit gesagt, dass die Transposition des<br />
Prometheus-Akkords auf eine andere Stufe der chromatischen Skala keinerlei klangliche<br />
Auswirkung hat, die unterschiedlichen Stufen also alle in derselben tautologischen<br />
239 Ebda., 201f.<br />
240 Ebda., S. 202.<br />
241 Vgl. Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 65.<br />
242 Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, S. 19.<br />
66
Beziehung zum Klangzentrum stehen? Wohl kaum, denn dann wäre eine Transposition<br />
des Prometheus-Akkords an sich schon überflüssig <strong>und</strong> würde der Musik keinerlei<br />
zusätzlichen Gehalt hinzufügen, eine Behauptung, der Skrjabin wohl vehement widersprochen<br />
hätte. Auch die einzelnen Umkehrungen des Klangzentrums sind in ihrem<br />
Klangcharakter sehr unterschiedlich <strong>und</strong> werden oft weniger als Umkehrungen eines<br />
einzigen Klanges wahrgenommen, sondern vielmehr als Klänge mit durchaus eigenständigen<br />
Klangqualitäten.<br />
Fest steht jedenfalls, dass Skrjabin nicht nur zwischen den unterschiedlichen Transpositionen<br />
des Prometheus-Akkords unterschieden hat, sondern auch zwischen den einzelnen<br />
Umkehrungen des Akkordes. So legt er beispielsweise Wert darauf, dass seine<br />
Stücke meist mit der Gr<strong>und</strong>form des Klangzentrums beginnen <strong>und</strong> enden. Skrjabin<br />
bezeichnete anfangs Werke sogar noch nach dem Gr<strong>und</strong>ton des zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />
Klangzentrums im Sinne einer Tonart. 243 Außerdem folgte Skrjabin Modulationsschemen<br />
die vorgaben wie die Transpositionen der <strong>Klangzentren</strong> aufeinander folgen. 244<br />
Der Wechsel von einer Transposition zur anderen ist dabei keineswegs willkürlich,<br />
sondern folgt ästhetischen <strong>und</strong> formalen Prinzipien, wie beispielsweise der Anzahl der<br />
gemeinsamen Töne zwischen zwei aufeinander folgenden Klängen. 245 In Skrjabins<br />
<strong>Klangzentren</strong>harmonik ist also – zumindest aus kompositionstechnischer Sicht – ganz<br />
offensichtlich eine vom Klangzentrum ausgehende <strong>und</strong> wieder zurückkehrende<br />
Akkordbewegung vorhanden.<br />
243 Vgl. Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 61f.<br />
244 Vgl. ebda. S. 64.<br />
245 Vgl. ebda. S. 66.<br />
67
1.9 Schlussfolgerungen<br />
Die Bedeutung des Begriffs <strong>Tonalität</strong> war im Laufe der Musikgeschichte einem ständigen<br />
Wandel unterzogen <strong>und</strong> es hat fast den Anschein, als ob man sich aus der Vielfalt<br />
der möglichen Bedeutungen jeweils jener bedienen könne, die der gerade gestellten<br />
Frage die treffende Antwort liefert. Selbst bei einzelnen Autoren, wie im Falle Schönbergs,<br />
ist die Verwendung des Begriffs nicht unbedingt eindeutig. In Anbetracht der<br />
unterschiedlichen Fragestellungen, die heute in der <strong>Musiktheorie</strong> verfolgt werden <strong>und</strong><br />
des unterschiedlichen Erkenntnisgewinnes, der daraus resultiert, scheint es wichtiger<br />
denn je einen exakten <strong>Tonalität</strong>sbegriff zu verwenden, der klar einschränkt, worüber<br />
man gerade spricht. Aussagen etwa über „die <strong>Tonalität</strong> der Zwölftonmusik“ sind bestenfalls<br />
mehrdeutig <strong>und</strong> können kaum falsifiziert werden, wenn der Begriff <strong>Tonalität</strong> nicht<br />
zuvor in einen eindeutigen Zusammenhang gebracht wurde. Wenn man den Begriff<br />
<strong>Tonalität</strong> zum Beispiel als die Beziehungen zwischen den Tönen einer Skala versteht,<br />
ist etwa die Dodekaphonie, die „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen<br />
Tönen“, durchaus als ein tonaler Typ im Sinne Fétis’ zu verstehen. 246 Unter diesem<br />
Gesichtspunkt wäre auch die Aussage, dass sich die <strong>Tonalität</strong> mit dem Beginn der<br />
Atonalität aufgelöst hat ebenso irreführend, wie der Begriff „Atonalität“ selbst. Dass der<br />
unreflektierte Begriffsgebrauch zu Missverständnissen <strong>und</strong> einer dem Begriff unangemessenen<br />
Beliebigkeit führt, ist absehbar. Vielleicht wäre es der Sache heute sogar<br />
dienlicher, wenn man versuchte, <strong>Tonalität</strong> über das zu definieren, was sie, ihren zahlreichen<br />
Bedeutungsfacetten nach, nicht ist. Dann müsste es heißen:<br />
<strong>Tonalität</strong> ist die Antithese eines imaginären Begriffs (ich verwende hier bewusst<br />
nicht die Bezeichnung „Atonalität“), der sich auf Musik bezieht, bei der keinerlei<br />
Beziehungen zwischen den verwendeten Tönen besteht, weder im vertikalen<br />
Zusammenklang, noch im horizontalen Aufeinanderfolgen. Insbesondere ist<br />
diese Musik auch dadurch gekennzeichnet, dass keinerlei tonaler oder harmonischer<br />
Bezugspunkt als Zentralklang eine besondere Rolle einnimmt.<br />
Spätestens hier muss man allerdings fragen, was es überhaupt bedeutet, wenn sich Töne<br />
oder Akkorde „aufeinander beziehen“. So einfach diese Frage im ersten Moment auch<br />
scheint, so schwierig ist es, sie im konkreten Fall zu beantworten. Betrachtet man zum<br />
246 Vgl. Dahlhaus, <strong>Tonalität</strong>, S. 624.<br />
68
Beispiel die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> im Sinne der Naturklangtheorie, so sind zumindest<br />
zwei Typen von Tonbeziehungen relevant. Einerseits die Beziehung der Töne untereinander<br />
aufgr<strong>und</strong> des Konsonanzprinzips, andererseits die Beziehung der Töne auf<br />
einen gemeinsamen Gr<strong>und</strong>ton oder -akkord, die Tonika. Wenn man den <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />
dagegen weiter fasst, ist die Voraussetzung ausreichend, dass die Töne des<br />
verwendeten Tonsystems in irgendeiner beliebigen Beziehung zu einander stehen. Unter<br />
diesem Gesichtspunkt ließe sich der Begriff wie gesagt durchaus auch auf Zwölftonmusik<br />
anwenden. Aber was ist das Kriterium dafür, dass sich die Töne einer Komposition<br />
auf einander beziehen? Nehmen wir einmal an, der Komponist selbst wäre dafür<br />
verantwortlich, den Tönen innerhalb seiner Komposition einen Bezugsrahmen zu geben.<br />
Dann wäre eine rein aleatorische Komposition eindeutig als Musik zu bezeichnen, die<br />
im Rezipienten kein „<strong>Tonalität</strong>sgefühl“ hervorruft, da die sich ergebenden Klänge als<br />
Zufallsprodukt des Kompositionsprozesses zu bewerten wären. Eine solche Aussage<br />
geht allerdings davon aus, dass die Kompositionstechnik des Komponisten direkten<br />
Einfluss auf die Wahrnehmung des Hörers hat, was selbstverständlich mehr als zweifelhaft<br />
ist. Ebenso wenig kann vorausgesetzt werden, dass im Umkehrschluss eine<br />
Komposition, in der die Akkorde während des Kompositionsprozesses eindeutig auf<br />
einander bezogen wurden, beim Hörer auch tatsächlich den Eindruck einer Bezogenheit<br />
der Klänge auslöst. Hier zeigt sich, dass wir den Begriff <strong>Tonalität</strong> kaum bewerten<br />
können, ohne dabei auch auf die subjektive Wahrnehmung <strong>und</strong> musikalische Sozialisierung<br />
des Rezipienten Rücksicht zu nehmen.<br />
Andererseits bestehen natürlich immer Tonbeziehungen sobald Töne in einem Musikstück<br />
vorhanden sind, unabhängig davon, ob wir diese Bezüge auch wahrnehmen oder,<br />
ob ein Komponist diese Bezüge als solche gedacht hat. Jeder Ton steht zu jedem<br />
anderen immer in einem bestimmten Verhältnis. Ein einzelner ausgehaltener Sinuston<br />
definiert sich sogar über eben dieses Verhältnis, da er in jedem Moment dem vorangegangenen<br />
gleicht. Im selben Ausmaß definiert sich „ein anderer Ton“ durch seine<br />
Beziehung zu dem Ton, von dem er sich unterscheidet. Hierin offenbart sich die Problematik<br />
einer <strong>Tonalität</strong>sdefinition als die einfache Bezogenheit der Töne oder Akkorde,<br />
basierend auf einer zugr<strong>und</strong>e liegenden Skala. Streng genommen ließe sich der Begriff<br />
<strong>Tonalität</strong> dann auf jede Tonbeziehung anwenden – sogar auf den Sinuston selbst – <strong>und</strong><br />
würde zu einem beliebigen, tautologischen Begriff verkommen. Dahlhaus stellt treffend<br />
fest:<br />
69
Ob die Zentrierung der Ton- oder Akkordbeziehungen um einen Gr<strong>und</strong>ton oder -akkord als<br />
essentielles oder als akzidentelles Merkmal der <strong>Tonalität</strong> gelten soll, ist ungewiß oder scheint es<br />
zu sein. Der Verzicht auf das definierende Merkmal „Zentrierung“ läßt „<strong>Tonalität</strong>“ zu einer<br />
generellen Bezeichnung für Tonbeziehungen verblassen; „<strong>Tonalität</strong>“ <strong>und</strong> „Tonsystem“ werden<br />
synonyme Ausdrücke, sofern man nicht „<strong>Tonalität</strong>“ als „Prinzip“ <strong>und</strong> „Tonsystem“ als „Erscheinungsform“<br />
begreift. Doch ist es […] überflüssig, den Sachverhalt, den der Ausdruck „Tonsystem“<br />
meint, durch einen zweiten Terminus zu bezeichnen. 247<br />
In diesem Zusammenhang ist auch Zofja Lissas Gleichsetzung von Klangzentrum <strong>und</strong><br />
Skala <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Deutung von Dodekaphonie als Weiterentwicklung der<br />
<strong>Klangzentren</strong>-Technik kritisch zu bewerten. Jede beliebige Ansammlung von Tonhöhen<br />
kann irgendeiner Skala oder – im Falle der Dodekaphonie – einer Reihe zugr<strong>und</strong>e gelegt<br />
werden, womit sich der Begriff „Klangzentrum“ auf jede beliebige Musik anwenden<br />
ließe:<br />
Wird der <strong>Tonalität</strong>sbegriff an Umfang weiter, so muß er nach den Regeln der formalen Logik an<br />
Inhalt ärmer werden. […]<br />
Ein Begriff der alle Akkorde <strong>und</strong> Akkordverbindungen umfaßt, die denkbar sind, ist inhaltslos.<br />
[…] An dem Eingeständnis, daß der „Zentralklang“ eines Satzes nicht als realer Akkord 248 in<br />
ihm vorkommen müsse, sondern konstruiert werden könne, wird die Schwäche der Konstruktion<br />
offenbar; denn man braucht, um den gemeinsamen Ursprung aller Akkorde eines Satzes zu<br />
finden, nur die kleinste Zahl der Töne, von denen mindestens einer in jedem Akkord enthalten<br />
ist, zu einem hypothetischen „Zentralklang“ zusammenzusetzen. Das Prinzip ist also, da es für<br />
alle Musik gilt <strong>und</strong> über keine etwas besagt, leer allgemein. 249<br />
Damit ist aber nicht gesagt, dass sich Skala <strong>und</strong> Klangzentrum gegenseitig ausschließen.<br />
Jede Menge von Tönen kann im vertikalen Zusammenklang als Klangzentrum dienen<br />
<strong>und</strong> zugleich in der horizontalen Aufeinanderfolge als Skala oder Reihe Verwendung<br />
finden. Jedoch umgekehrt davon auszugehen, dass jede Skala oder Reihe auch ein<br />
Klangzentrum wäre, ist ein logischer Fehlschluss. Allerdings hat die einem Werk<br />
zugr<strong>und</strong>e liegende Skala oft einen erheblichen Einfluss auf den sich ergebenden<br />
Gesamtklang. Wenn eine Skala im Sinne einer modalen Kompositionstechnik als<br />
247 Dahlhaus, Untersuchungen, S. 17.<br />
248 Dahlhaus’ Aussage, dass ein Klangzentrum als „realer Akkord“ in einem Musikstück vorkommen<br />
muss ist allerdings schwer nachvollziehbar. Gerade die dur-moll-tonale Musik lebt schließlich von<br />
einem Klangzentrum – der Tonika – das keineswegs immer vorhanden sein muss, jedoch trotzdem<br />
wahrgenommen oder zumindest gedacht werden kann.<br />
249 Carl Dahlhaus, Der <strong>Tonalität</strong>sbegriff in der neuen Musik, in: Schönberg <strong>und</strong> andere. Gesammelte<br />
Aufsätze zur Musik mit einer Einleitung von Hans Oesch, Schott: Mainz 1978, S. 111-117, hier S. 113.<br />
70
zentraler Bezugspunkt verwendet wird, dann mag es in manchen Fällen durchaus<br />
sinnvoll sein, sie als ein Klangzentrum zu behandeln. Die Sinnhaftigkeit eine Skala als<br />
Klangzentrum anzusehen ergibt sich jedoch allein aus ihrer Einzigartigkeit im Verhältnis<br />
zu anderen Skalen oder Klängen, welche ihr wiederum als <strong>Klangzentren</strong> gegenübergestellt<br />
werden können. Wenn die Skala dagegen für sich alleine steht, dann wäre sie als<br />
Klangzentrum bedeutungslos, da wir keinen Erkenntnisgewinn aus dieser Information<br />
ableiten könnten. Die Gr<strong>und</strong>reihe einer dodekaphonen Komposition muss an sich noch<br />
nichts über den Gesamtklang der Stelle aussagen, in der ihre Ableitungen verwendet<br />
werden. Vielmehr ergibt sich der Gesamtklang aus der bewussten Kombination unterschiedlicher<br />
Reihenformen <strong>und</strong> ändert sich demnach im Verlauf des Werkes ständig.<br />
Dass diese Kombination von Reihenformen auch Zentralklänge ausbildet, ist zwar<br />
möglich, kann aber nicht im Allgemeinen beantwortet, sondern muss im konkreten Fall<br />
erneut hinterfragt werden; insbesondere erzeugen gleiche Reihenformen nicht unbedingt<br />
dieselben <strong>Klangzentren</strong>.<br />
Auch wurde noch nicht geklärt, aus wessen Sicht ein Ton oder Akkord die Rolle eines<br />
Zentralklangs nun einnehmen muss, damit <strong>Tonalität</strong> vorhanden ist: Ist es der Komponist,<br />
der einem Klang eine besondere Bedeutung zukommen lässt, oder ist es der Hörer,<br />
der einen Klang als besonders bedeutend wahrnimmt? Oder ist es gar der Musiktheoretiker,<br />
der einer Komposition das Vorhandensein eines bestimmten Zentralklangs unterstellt<br />
oder neue <strong>Klangzentren</strong> aufdeckt, die weder dem Komponisten noch dem Hörer<br />
bekannt waren? Es dürfte schwierig sein diese Fragen endgültig zu beantworten, da jede<br />
dieser Positionen gleichermaßen ihre Berechtigung hat. Dahlhaus stellt fest, „daß<br />
<strong>Tonalität</strong> eine historische Kategorie ist, die das Moment der Zeit enthält. Auf einer<br />
späteren Entwicklungsstufe können Phänomene als tonal gelten, die man auf einer<br />
früheren vom Begriff der <strong>Tonalität</strong> ausschließen müßte“ 250 . Zusätzlich ist <strong>Tonalität</strong><br />
jedoch auch eine kompositionstechnische sowie eine hörpsychologische Kategorie, aus<br />
deren Sicht sich der Begriff substanziell unterscheiden kann. Die endgültige Bedeutung<br />
von <strong>Tonalität</strong> kann sich demnach immer nur aus dem jeweiligen Zusammenhang heraus<br />
erschließen. Ob die von Erpf <strong>und</strong> Lissa auf post- bzw. atonale Werke angewandte<br />
Technik des Klangzentrums, als eine Konsequenz oder ein Weiterwirken dur-molltonaler<br />
Prinzipien angesehen werden kann, hängt insofern auch von dem jeweiligen<br />
250 Ebda.<br />
71
Untersuchungsgegenstand ab. Dass aus kompositionstechnischer Sicht <strong>Klangzentren</strong><br />
auch in der Musik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts immer wieder verwendet wurden, steht außer<br />
Frage; ob diese Klänge jedoch auch aus hörpsychologischer Sicht die Rolle eines<br />
Zentralklangs einnehmen, müsste anhand konkreter Beispiele untersucht <strong>und</strong> bewiesen<br />
werden.<br />
Die vorherigen Überlegungen legen nahe, dass irgendeine Form der „Zentrierung“ für<br />
einen sinnvollen <strong>Tonalität</strong>sbegriff unerlässlich ist. Diese Feststellung scheint Richard<br />
Cohns Beobachtungen im Zusammenhang mit den „maximally smooth cycles“ in Franz<br />
Schuberts Klaviertrio in Es- Dur op. 100 (vgl. S. 52) im ersten Moment zu widersprechen.<br />
Bei genauerer Betrachtung der Takte 586-618 wird jedoch schnell deutlich, dass<br />
auch diese Harmoniefolge (vgl. Abbildung 18) durchaus Zentrierung auf unterschiedlichen<br />
musikalischen Ebenen aufweist. Zunächst ist festzustellen, dass es sich bei der<br />
fraglichen Stelle um die Coda eines Klaviertrios in Es-Dur handelt <strong>und</strong> die Tonika Es-<br />
Dur schon allein aufgr<strong>und</strong> unserer konditionierten Erwartungshaltung (durch die vorangegangenen<br />
mehr als 500 Takte sowie unseres „Extra-Opus-Wissens“ über tonale<br />
Musik) eine besondere Rolle einnimmt. Dem entsprechend beginnt der „maximally<br />
smooth cycle“ auch mit Es-Dur <strong>und</strong> schließt wieder darin, wobei Es-Dur in den Takten<br />
615-622 durch das dreimalige Wiederholen einer Kadenz (T. 614-615) als Zentralklang<br />
hervorgehoben wird. Weiters muss festgehalten werden, dass die chromatische Stimmführung<br />
der Harmonik in diesen Takten zwar eine wichtige Rolle einnimmt, für den<br />
musikalischen Gestus <strong>und</strong> die formale Struktur jedoch eine andere Kompositionstechnik<br />
weit wichtiger ist: Die Takte 597-615 bestehen aus zwei realen Sequenzen der Takte<br />
587-569 (Abbildung 32), die jeweils von einem Dur-Dreiklang ausgehend, in einen<br />
Dur-Dreiklang um eine große Terz tiefer modulieren. Diese Sequenzen exponieren den<br />
Ausgangsakkord <strong>und</strong> den Zielakkord der Modulation in besonderer Weise <strong>und</strong> sind<br />
auch für unsere Wahrnehmung von wesentlicher Bedeutung. Der großformale Verlauf<br />
dieser Harmoniefolge erzeugt durch die Sequenzen also wiederum eine Zentrierung,<br />
<strong>und</strong> zwar auf die Tonarten Es-Dur (T. 586-587), Ces/(H)-Dur (T. 587), G-Dur (T. 606)<br />
<strong>und</strong> schließlich wieder Es-Dur (T. 615). Auch in den mikroformalen harmonischen<br />
Beziehungen werden die Dreiklänge des „maximally smooth cycles“ in ihrer Bedeutung<br />
nicht einfach gleichgeschaltet. Beispielsweise tritt der Zielakkord der in Takt 597<br />
abgeschlossenen ersten Modulation – Ces-Dur – bereits in Takt 591 als übermäßiger<br />
Quintsextakkord in es-Moll auf, der die Kadenz in den darauf folgenden zwei Takten<br />
72
einleitet; damit bringt Schubert Ces/(H)-Dur auch in einen funktionalen Kontext aus<br />
Sicht von es-Moll. Schließlich ist auch noch anzumerken, dass die „maximally smooth<br />
cycles“, wie sie von Cohn beschrieben wurden, selbst schon eine Form der „Zentrierung“<br />
darstellen: Schubert hätte zum Erzeugen chromatischer Stimmführung andere<br />
Akkorde wie beispielsweise den übermäßigen Dreiklang verwenden können, entschied<br />
sich hier jedoch bewusst für die traditionellen Akkordtypen der Tonika – Dur <strong>und</strong> Moll.<br />
Abbildung 32: Schubert, Klaviertrio in Es- Dur op. 100, T. 586-598. 251<br />
Ich will Richard Cohns verdienstvolle Forschung im Zusammenhang mit der Bedeutung<br />
chromatischer Stimmführung während der Kunstmusik des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts hier<br />
keinesfalls schmälern. Natürlich treffen Cohns Beobachtungen hinsichtlich der „maximally<br />
smooth cycles“ zu <strong>und</strong> auch weitere Kompositionen zeugen von ihrer besonderen<br />
Bedeutung für die damalige Kompositionstechnik (wie auch am Beispiel Liszts <strong>und</strong><br />
Schönbergs gezeigt wurde, vgl. S. 60). Wenn man die Vorstellung eines möglichen<br />
Zentralklangs jedoch gänzlich fallen lässt, läuft man leicht Gefahr harmonische Zusammenhänge<br />
unangemessen zu verallgemeinern. In ihrer abstrakten Form bilden die<br />
„maximally smooth cycles“ keine <strong>Klangzentren</strong> aus, da ein Kreis bekanntlich keinen<br />
Anfang <strong>und</strong> kein Ende hat. Musik dreht sich jedoch nicht im Kreis, sondern bewegt sich<br />
linear fort. Deshalb wird jede konkrete harmonische Folge zumindest zwei Klänge an<br />
251 Cohn, As Wonderful as Star Clusters, S. 215.<br />
73
exponierter Stelle enthalten <strong>und</strong> damit „zentrieren“: den Anfangsklang <strong>und</strong> den Zielklang.<br />
Nachdem unsere musikalische Wahrnehmung unter anderem von unserem<br />
Gedächtnis abhängt, muss der mögliche Einfluss dieser Klänge auf die Wahrnehmung<br />
der restlichen Harmonien bei unseren Überlegungen mit berücksichtigt werden. Anstatt<br />
ein unzulängliches Theoriemodell – die absolute Zentrierung auf einen Zentralklang, die<br />
Tonika – durch ein anderes unzulängliches Theoriemodell – die absolute Dezentrierung<br />
zugunsten einer Analyse konkreter Akkordbeziehungen – zu ersetzt, sollte ein Mittelweg<br />
gef<strong>und</strong>en werden, der sowohl unmittelbare Akkord- <strong>und</strong> Tonbeziehungen, als auch<br />
die Beziehungen zu Zentralklängen mit einschließt.<br />
74
KAPITEL II<br />
ANALYTISCHE KONSEQUENZEN<br />
Die vorangegangenen Untersuchungen haben ergeben, dass eine Zentrierung auf einen<br />
Ton oder Akkord für den <strong>Tonalität</strong>sbegriff notwendig ist <strong>und</strong> dass Kompositionstechniken<br />
atonaler bzw. post-tonaler Musik möglicherweise als ein Weiterdenken dieses<br />
ursprünglich dur-moll-tonalen Prinzips gelten können. Es liegt nahe nun den Untersuchungsgegenstand<br />
– das Klangzentrum – näher zu betrachten <strong>und</strong> die <strong>Klangzentren</strong> der<br />
Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> mit den <strong>Klangzentren</strong> späterer Werke zu vergleichen. Im folgenden<br />
Kapitel werden unterschiedliche Formen der harmonischen Zentrierung dur-molltonaler<br />
Musik untersucht. Die vordergründigen Fragen, die es dabei zu beantworten gilt,<br />
sind: (1) Zeichnet sich die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> tatsächlich dadurch aus, dass ein einzelner<br />
Zentralklang immer den zentralen Bezugspunkt darstellt? (2) Ist der Akkordtyp des<br />
Zentralklangs zwangsläufig ein Dur- oder Moll-Dreiklang oder kann er auch andere<br />
Formen annehmen?<br />
2.1 <strong>Klangzentren</strong> der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong><br />
Der Zentralklang der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> ist den meisten Definitionen nach die Tonika.<br />
Dieser Denkweise folgend beziehen sich alle Töne <strong>und</strong> Akkorde auf die I. Stufe der<br />
Tonleiter. Am deutlichsten kommt diese Überlegung in den Theorien von Riemann <strong>und</strong><br />
Schenker zum Tragen. Riemann bezieht in seiner Funktionstheorie alle Akkorde direkt<br />
auf die Tonika, selbst dann, wenn diese Tonika gar nicht im analysierten Abschnitt in<br />
Erscheinung tritt. Dabei nimmt die Tonika entweder die Form eines Dur-Dreiklangs<br />
(Symbol: T) oder eines Moll-Dreiklangs (Symbol: t) ein. Schenker blendet in seinen<br />
Analysen dagegen die mikroformalen harmonischen Beziehungen, die in der Funktionstheorie<br />
im Vordergr<strong>und</strong> stehen, bewusst aus <strong>und</strong> reduziert ganze Abschnitte oder gar<br />
Werke auf die Bewegung von einer Tonika hin zur nächsten.<br />
Es wird heute meist davon ausgegangen, dass die bezeichnete Tonika nicht nur einen<br />
abstrakten Bezugspunkt einnimmt, sondern der Hörer sie auch tatsächlich in entsprechender<br />
Weise wahrnimmt. Aus analytischer Sicht legt man sich mit der Wahl der<br />
75
Tonika als Dur- oder Moll-Dreiklang also nicht nur in Bezug auf die musikalische<br />
Struktur fest, sondern man macht gleichzeitig auch eine Aussage über die hörpsychologischen<br />
Erwartungen des Rezipienten. Dabei erfüllt die Tonika vor allem zwei relevante<br />
musikalische Funktionen: (1) Sie bezeichnet einen harmonischen Ruhepunkt; die<br />
Fortschreitung zur Tonika im Rahmen einer Kadenz wird als Auflösung wahrgenommen<br />
<strong>und</strong> führt zu einer Entspannung des harmonischen Verlaufs. (2) Sie dient der<br />
formalen Gliederung. Das Erreichen der Tonika erzeugt ein Gefühl der Abgeschlossenheit<br />
<strong>und</strong> ermöglicht damit das Anschließen eines neuen musikalischen Gedankens oder<br />
aber das Beenden des Stückes.<br />
Einem ausschließlich monozentrischen <strong>Tonalität</strong>sbegriff stünde die dualistische Vorstellung<br />
gegenüber, dass sich <strong>Tonalität</strong> nicht nur über die Tonika, sondern auch über die<br />
Dominante definiert. Selbst Riemann <strong>und</strong> Schenker, die beide der Tonika eine tragende<br />
Rolle zukommen ließen, kamen nicht ohne das Miteinbeziehen der Dominante oder der<br />
Subdominante aus. Die Tonika definiert sich allein über das Vorhandensein von<br />
harmonischen Beziehungen zu anderen Tönen oder Akkorden. Schon Choron <strong>und</strong> Fétis<br />
räumten in ihren Definitionen des <strong>Tonalität</strong>sbegriffs der Dominante tendenziell einen<br />
größeren Stellenwert ein als der Tonika <strong>und</strong> auch bei den Theorien von Vogler <strong>und</strong><br />
Weber wird die Kadenz – <strong>und</strong> damit das Wechselspiel zwischen Tonika <strong>und</strong> Dominante<br />
– als wesentliches Merkmal einer Tonart angegeben (vgl. S. 16-18). Ernst Krenek<br />
schrieb 1937 über die Bedeutung der Dominant-Tonika-Beziehung:<br />
Was die Atonalität wesentlich von der <strong>Tonalität</strong> unterscheidet, ist die Dominantwirkung, die<br />
diese besitzt, die jener fehlt;<br />
Die Konstituierung unserer <strong>Tonalität</strong> wird bewirkt durch die Orientierung eines ganzen großen<br />
musikalischen Verlaufs, eines Werkes, nach einer einzigen Dominant-Tonika-Beziehung, eben<br />
jener, die die „Haupttonart“ des Werkes repräsentiert. 252<br />
Aus dieser Sicht erscheint es sinnvoller das Klangzentrum der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> als<br />
ein Konglomerat von Dominante <strong>und</strong> Tonika aufzufassen, die Vorstellung eines einzigen<br />
Klangzentrums also zu verwerfen <strong>und</strong> die Dominante als Klangzentrum der<br />
Tonika gegenüberzustellen. Dass die Dominante über weite Strecken ein eigenständiges<br />
Zentrum ausbildet, kann schon im Barock beobachtet werden. Betrachtet man bei-<br />
252 Ernst Krenek, Über neue Musik [Wien 1937], zit. nach: Beiche <strong>Tonalität</strong>, S. 11.<br />
76
spielsweise den harmonischen Verlauf von Johann Sebastian Bachs bekanntem Präludium<br />
in C-Dur BWV 846, welches wohl als ein Paradebeispiel tonaler Musik angesehen<br />
werden kann, so wird dort der Dominante ebenso viel Platz eingeräumt wie der<br />
Tonika. Einerseits übernimmt die Dominante die Rolle einer temporären Tonika in den<br />
Takten 5-13, andererseits wird der Dominantseptakkord in den Takten 24-31 über einem<br />
Dominant-Orgelpunkt auskomponiert. Auch die aus harmonischer Sicht ungewöhnlichste<br />
Stelle des Präludiums exponiert die Dominante: In den Takten 22-23 (Abbildung<br />
33) umspielen zwei verminderte Septakkorde (Fis- <strong>und</strong> As-Vermindert) den Gr<strong>und</strong>ton<br />
der Dominante (Fis–As–G) <strong>und</strong> leiten so den Dominant-Orgelpunkt der folgenden<br />
Takte ein.<br />
Abbildung 33: J. S. Bach, Präludium in C-Dur BWV 846, T. 22-24.<br />
Wie die Tonika erfüllt auch die Dominante zwei primäre musikalische Funktionen: (1)<br />
Sie erzeugt harmonische Spannung, die in der Auflösung zur Tonika als Lösung empf<strong>und</strong>en<br />
wird. (2) Sie dient ebenfalls der formalen Gliederung. Ausgedehnte Orgelpunkte<br />
oder Auftaktakkorde kündigen beispielsweise oft die Rückkehr zum Thema bzw. zur<br />
„Haupttonart“ an.<br />
Auch in den meisten dualistischen Interpretationen ist jedoch eine eindeutige Hierarchisierung<br />
der <strong>Klangzentren</strong> zugunsten der Tonika vorhanden. Besonders deutlich tritt<br />
diese Hierarchie in den dialektischen Theorien Moritz Hauptmanns zutage. Dominante<br />
<strong>und</strong> Subdominante treten dort als Antithese dem Zentralklang der Tonika gegenüber<br />
<strong>und</strong> erfüllen erst in der Synthese mit der Tonika ihre endgültige Bestimmung. Diese<br />
Hierarchisierung entspricht auch in vielen Werken des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts der<br />
musikalischen Realität, sowohl auf mikroformaler, als auch auf makroformaler Ebene.<br />
Nicht zuletzt prägt das abstrakte Schema der Sonatensatzform, eben diese Hierarchisierung<br />
deutlich aus. Dem gegenüber zeigt die Entwicklung der Harmonik des 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert jedoch eine deutliche Tendenz, dass diese Hierarchisierung mehr <strong>und</strong> mehr<br />
aufgebrochen wurde <strong>und</strong> damit andere Klänge neben der Tonika an Bedeutung gewannen.<br />
77
Zunächst ist festzustellen, dass die Rolle der Tonika in der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> zugunsten<br />
der Dominante mehr <strong>und</strong> mehr zurückgedrängt wurde. Einerseits wurden die<br />
Durchführungen, die sich meist in weiten Strecken hauptsächlich dominantischen <strong>und</strong><br />
weiterführenden Techniken widmen, immer länger <strong>und</strong> komplexer, andererseits wurde<br />
dem dominantischen „Auftaktakkord“, der die Rückführung von der Durchführung zur<br />
Reprise einleitet, in den Sonatensätzen immer mehr Bedeutung beigemessen. Weiters<br />
nehmen auch dissonante Akkorde, die im Sinne der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> eigentlich als<br />
Dominanten bewertet werden müssten, in der Hochromantik häufig die Funktion eines<br />
spannungsfreien Akkords ein. Georg Andreas Sorge klassifizierte im Vorgemach der<br />
musicalischen Composition 253 bereits 1745 den übermäßigen Dreiklang als einen<br />
konsonanten Dreiklang unter den „scharfen musikalischen Gewürzen“ 254 . Carl Friedrich<br />
Weitzmann sah in seiner Schrift Der Übermäßige Dreiklang 255 den übermäßigen<br />
Dreiklang als einen der vier natürlichen Dreiklänge Dur, Moll, vermindert <strong>und</strong> übermäßig<br />
an. 256 Weitzmann veröffentlicht auch ein Tonnetz, das alle 12 Töne als Kreuzprodukt<br />
von verminderten Septakkorden <strong>und</strong> übermäßigen Dreiklängen darstellt<br />
(Abbildung 34). 257<br />
Abbildung 34: Weitzmanns Zwölftonmatrix. 258<br />
253 Georg Andreas Sorge, Vorgemach der musicalischen Composition, Lobenstein 1745.<br />
254 Georg Andreas Sorge, zit. nach: Larry Todd, Franz Liszt, Carl Friedrich Weitzmann, and the Augmented<br />
Triad, in: The second practice of nineteenth-century tonality, Lincoln: University of Nebraska<br />
Press 1996, S. 153-177, hier S. 154.<br />
255 Carl Friedrich Weitzmann, Der Übermäßige Dreiklang, Berlin 1853.<br />
256 Vgl. Todd, Franz Liszt, Carl Friedrich Weitzmann, S. 157.<br />
257 Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 14.<br />
258 Weitzmann. Der übermäßige Dreiklang, Bsp. aus: Richard Cohn, Weitzmann’s Regions, My Cycles,<br />
and Douthett’s Dancing Cubes, in: Music Theory Spectrum (Bd. 22,1), 2000, S. 89-103, hier S. 91.<br />
78
Erste Anzeichen dieser Entwicklung, die letztendlich in der endgültigen Emanzipation<br />
der Dissonanz im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert ihren Höhepunkt fand, kann man bereits in den<br />
Durchführungen mancher klassischer Sonatensatzformen erkennen. So verselbständigen<br />
sich die ausgedehnten Orgelpunkte der Rückführung gelegentlich in einer Weise, dass<br />
sie weniger eine dominantische Wirkung entfalten, sondern vielmehr als Ruhepunkte<br />
<strong>und</strong> statische <strong>Klangzentren</strong> wirken. Ein ausgedehnter Orgelpunkt auf der Dominante<br />
findet sich beispielsweise in Beethovens Sonate op. 28 (T. 219-256). In den ersten acht<br />
Takten des Auftaktakkords (T. 219-226) wird die Dominante traditionell mit Quartsext-<br />
Vorhalten auskomponiert. In den Takten 228-256 (Abbildung 35) wird sie dagegen als<br />
konsonanter Akkord ohne die kleine Sept eingesetzt, was dazu führt, dass ihre eigentliche<br />
Funktion, die Spannung vor der Auflösung in die Tonika (T. 257), fast verloren<br />
geht.<br />
Abbildung 35: Beethoven, Sonate op. 28 „Pastorale“, T. 240-261.<br />
Beethovens Sonate op. 13 (T. 167-187, Abbildung 36) weist dagegen einen eigentlich<br />
dissonanten Dominantseptakkord als Auftaktakkord auf. Durch die chromatischen<br />
Umspielungen der Akkordtöne (T. 167-170 <strong>und</strong> T. 175-178) sowie die Harmonik der<br />
Takte 171-174 bzw. 179-186, wirkt die Dominante hier jedoch wie ein harmonischer<br />
Ruhepunkt, der keiner zwingenden Auflösung mehr bedarf.<br />
79
Zu diesen Beispielen ist anzumerken, dass aus hörpsychologischer Sicht natürlich nach<br />
wie vor die Tonika als unterschwelliges Klangzentrum mitschwingt, die Hierarchisierung<br />
also keinesfalls aufgehoben ist. Dies liegt jedoch hauptsächlich an unserer<br />
Erwartungshaltung in Bezug auf den formalen Ablauf der Sonatensatzform <strong>und</strong> weniger<br />
an der Spannung des Auftaktakkords selbst, ist also direkt von unserer musikalischen<br />
Sozialisierung bedingt. Gerade diese Erwartungshaltung wird aber in der Hochromantik<br />
immer häufiger enttäuscht, sodass es spätestens seit der Musik Wagners <strong>und</strong> Liszts<br />
kaum Veranlassung mehr gibt eine bestimmte – oder überhaupt eine – Auflösung eines<br />
Klanges zu erwarten.<br />
Abbildung 36: Beethoven, Sonate op. 13 „Pathétique“, T. 173-189.<br />
Die Dominante wurde in Rückführungen auch unabhängig von Orgelpunkten als eigenständiger<br />
Bezugspunkt der Harmoniefolgen eingesetzt. So schreibt Schönberg in den<br />
Gr<strong>und</strong>lagen der musikalischen Komposition:<br />
In komplizierteren Kompositionen wird die liquidierende Passage über dem Orgelpunkt auf der<br />
Dominante durch eine Reihe von Segmenten ersetzt, die Schlußsätzen ähnlich sind, außer daß sie<br />
80
sich, statt der Tonika, wiederholt dem Auftaktakkord nähern. Sie können innere Modulation enthalten<br />
oder „schweifende“ Harmonie, die aber auf verschiedenem Wege immer wieder zum Auftaktakkord<br />
zurückkehrt. 259<br />
Als Beispiele solcher Auftaktakkorde nennt Schönberg Beethovens 3. <strong>und</strong> 5. Symphonie.<br />
260 In solchen zum Teil sehr ausgedehnten Passagen der Rückführung wird der<br />
Schwerpunkt des tonalen Klangzentrums von der Tonika zur Dominante hin verlagert,<br />
allerdings natürlich mit der damit verb<strong>und</strong>enen Erwartung, dass die Tonika in der<br />
Reprise auch tatsächlich wiederkehrt. Auf der anderen Seite findet man in Sonatensätzen<br />
auch häufig das Ausweiten der Coda <strong>und</strong> damit meist der Tonika-Region. Diese<br />
Praxis könnte durchaus als eine direkte Reaktion auf die zunehmende Bedeutung der<br />
Dominante interpretiert werden. So ist beispielsweise die Coda in Beethovens 3. Symphonie<br />
auf 135 Takte ausgeweitet <strong>und</strong> erzeugt damit einen formalen Ausgleich in Bezug<br />
auf die ausgedehnte Rückführung.<br />
Es sprechen noch weitere Argumente dafür, dass die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
nicht aus Sicht eines einzigen Klangzentrums gedeutet werden sollte. Neben der<br />
zunehmenden Bedeutung der Dominante werden auch andere Regionen immer häufiger<br />
als zentrale Bezugspunkte eingesetzt. In diesem Zusammenhang wäre zunächst die<br />
Ambivalenz zwischen Dur <strong>und</strong> Moll zu nennen, die von Komponisten seit jeher ausgenutzt<br />
wurde, um zwischen diesen beiden Klangcharakteren zu wechseln. Es gibt wohl<br />
kaum ein größeres Werk in der Literatur, das nicht sowohl Dur als auch Moll in längeren<br />
Abschnitten ausgiebig behandelt. Hier wäre einerseits die diatonische Beziehung<br />
zwischen einer Durtonart mit der parallelen Molltonart zu nennen. Siegfried Wilhelm<br />
Dehn bezeichnete 1840 die Verwandtschaft zwischen I. <strong>und</strong> VI. Stufe, gemeinsam mit<br />
der Verwandtschaft zwischen I. <strong>und</strong> III. Stufe, als den größtmöglichen<br />
Verwandschaftsgrad. Er begründete dies mit der großen Anzahl konsonanter Intervalle<br />
in diesen Klängen in Bezug auf die Dur-Tonleiter (vgl. S. 22). Als weitere wichtige<br />
Verwandtschaftsbeziehung ist die chromatische Beziehung zwischen einer Durtonart<br />
<strong>und</strong> der Molltonart auf derselben Stufe zu nennen. Diese Art der Verwandtschaft wurde<br />
in Gottfried Webers 1817 veröffentlichtem Tonnetz als Verwandtschaft ersten Grades<br />
gekennzeichnet <strong>und</strong> damit sogar als wichtiger charakterisiert als die Verwandtschaft<br />
259 Schönberg, Die formbildenden Tendenzen der Harmonie, S. 113.<br />
260 Ebda.<br />
81
zwischen Dur <strong>und</strong> paralleler Molltonart (vgl. Abbildung 7). Bella Brover-Lubovsky<br />
argumentiert, dass diese Doppeldeutigkeit zwischen Dur <strong>und</strong> Moll auf derselben Stufe<br />
bereits bei venezianischen Komponisten des frühen 17. Jahrh<strong>und</strong>erts eine häufig<br />
wiederkehrende Gr<strong>und</strong>konstellation in der tonalen Anlage von Werken darstellt (z.B.<br />
bei Antonio Vivaldi, Benedetto Marcello <strong>und</strong> Tomaso Albinoni). 261 Insbesondere im 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert wurden diese (<strong>und</strong> weitere) Verwandtschaften zwischen Dur <strong>und</strong> Moll<br />
teilweise an ihre äußersten Grenzen getrieben, sodass es in manchen Harmoniefolgen<br />
kaum möglich ist, ein eindeutiges Klangzentrum auszumachen. Vielmehr scheint die<br />
Musik dann zwischen zwei Welten zu schweben <strong>und</strong> einmal der Dur-Tonika, ein<br />
anderes Mal der Moll-Tonika den Vorzug zu geben.<br />
Zusätzlich zu den ambivalenten <strong>Klangzentren</strong> der I. Stufe in Dur <strong>und</strong> Moll sowie der<br />
VI. Stufe in Moll kommen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert noch weitere <strong>Klangzentren</strong> hinzu, welche<br />
die alleinige Vorherrschaft der Tonika zunehmend in Frage stellen. Diese Entwicklung<br />
wurde insbesondere durch die häufige Verwendung von mehrdeutigen Akkorden wie<br />
dem verminderten Septakkord <strong>und</strong> dem übermäßigen Dreiklang hervorgerufen. Eine<br />
große Anzahl von vorwiegend mediantischen Akkordbeziehungen konnten so als neue<br />
<strong>Klangzentren</strong> der Tonika gegenübergestellt werden. Dies führte direkt zu jenen<br />
harmonischen Verläufen, die Schönberg später als „schwebende <strong>Tonalität</strong>“ bezeichnete.<br />
Eine eindeutige Angabe der Tonika als einzigen Bezugsklang ist in solchen Harmoniefolgen<br />
weder aus Sicht der Analyse, noch aus Sicht des Hörers möglich bzw. sinnvoll.<br />
Es hat fast den Anschein als hätten die soziokulturellen Entwicklungen des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
die mit der Französischen Revolution die Vorherrschaft des Adels über den<br />
Bürger beendeten, auch eine analoge Revolution im hierarchischen System der Dur-<br />
Moll-<strong>Tonalität</strong> hervorgerufen.<br />
Bereits in den Einleitungen zu Beethovens Streichquartetten wird ein eindeutiger<br />
Tonikabezug oft bewusst hinausgezögert. Im Streichquartett op. 59/3 werden beispielsweise<br />
mehrere <strong>Klangzentren</strong> angedeutet (G-Dur, a-Moll <strong>und</strong> Es-Dur), die Tonika C-Dur<br />
wird jedoch erst in Takt 43 eindeutig bestätigt (Abbildung 37). Es ist zwar möglich die<br />
Harmonik dieser Einleitung funktionstheoretisch in Bezug auf die Tonika zu deuten,<br />
dies würde aber wohl kaum der tatsächlichen Wahrnehmung <strong>und</strong> Erwartungshaltung<br />
261 Bella Brover-Lubovsky, Venetian Clouds and Newtonian Optics, in: <strong>Musiktheorie</strong> als interdisziplinäres<br />
Fach (musik.theorien der gegenwart 4), Saarbrücken: Pfau 2010, in Bearbeitung.<br />
82
des Hörers entsprechen. Selbst wenn man versucht, die ersten neun Takte aus Sicht der<br />
Dominante G-Dur zu deuten, wird man nicht der tatsächlichen Wahrnehmungssituation<br />
in Takt 11 gerecht, in der sich die vermeintliche Dominante ohne Gr<strong>und</strong>ton mit tiefalterierter<br />
None (T. 8-10) plötzlich in einen B-Dur-Septakkord verwandelt, der nach Es-Dur<br />
weiterleitet. Außerdem deuten die ersten 5 Takte der Einleitung eher auf die Tonart a-<br />
Moll hin als auf G-Dur <strong>und</strong> den verminderten Septakkord auf Fis im ersten Takt hört<br />
man im Nachhinein eher als einen Vorhalt zum nachfolgenden F 7 (das zum übermäßigen<br />
Quintsextakkord umgedeutet wird) <strong>und</strong> nicht als Dominante zu G. Auch den<br />
verminderten Septakkord auf H in den Takten 26-28 stellt Beethoven in ein harmonisches<br />
Umfeld, das nicht an C-Dur erinnert. Erst mit Beginn des Hauptthemas in T. 30<br />
wird zum ersten Mal C-Dur als Tonart angedeutet <strong>und</strong> schließlich in T. 43 bestätigt.<br />
Doch auch vor dieser Bestätigung zögert Beethoven in Takt 41 C-Dur nochmals hinaus,<br />
indem er zunächst einen Dominantseptakkord auf C setzt.<br />
Diese Einleitung scheint sich Deutungsversuchen aus Sicht eines einzigen Zentralklangs<br />
vehement zu widersetzen. Vielmehr hat es den Anschein als kreise die Harmonik – ganz<br />
im Sinne von Schönbergs schwebender <strong>Tonalität</strong> – kontinuierlich um mehrere Zentralklänge<br />
ohne sich dabei eindeutig festzulegen. Dieses Wechselspiel verschiedener<br />
<strong>Klangzentren</strong> ist nicht nur für die Analyse von Bedeutung, auch unsere Wahrnehmung<br />
vermag hier kaum einen einzelnen Bezugspunkt festzumachen.<br />
83
Abbildung 37: Beethoven, Streichquartett Nr. 9 op. 59/3, T. 1-44.<br />
Ein weiteres Beispiel Beethovens, in dem ein eindeutiger Zentralklang über weite<br />
Strecken außer Kraft gesetzt wird, ist die Variation Nr. 20 aus den „Diabelli“ Variationen<br />
op. 120 (Abbildung 38). Die Variation beginnt zunächst sehr vorsichtig C-Dur<br />
als Tonika zu etablieren. Aus Sicht dieser Tonika handelt es sich bei dem verminderten<br />
Septakkord am Ende von Takt 8 um eine Dominante mit tiefalterierter None im Bass.<br />
Derselbe Akkordtyp verwandelt sich jedoch plötzlich in der zweiten Hälfte des nächsten<br />
Takts in eine „vagierende“ Klangfolge. Durch die Verbindung eines g-Moll-<br />
Septakkords mit einem Quintsextakkord auf Gis (T. 10-11) <strong>und</strong> die Verbindung eines<br />
verminderten Septakkords auf Ais mit einem C-Dur-Dreiklang (T. 12-13) verschwindet<br />
84
in den Takten 10-13 jeglicher dur-moll-tonale Bezug. Mehr noch, man hat hier fast das<br />
Gefühl, als ob der verminderte Septakkord selbst für einen kurzen Augenblick die Rolle<br />
eines Klangzentrums eingenommen hat. Der G-Moll-Septakkord in Takt 10 wirkt dabei<br />
als ein Spannungsakkord, der sich in einen E-Dur-Septakkord (Gis im Bass) auflöst, das<br />
verbindende Element ist jedoch der verminderte Septakkord auf As des vorangegangenen<br />
Taktes, der als unterschwelliges Klangzentrum den Gesamtklang beeinflusst. In<br />
Takt 14 bereitet Beethoven diesem Spuk zunächst ein Ende, indem er – dem Thema der<br />
Variation entsprechend – die Phrase in die Dominantregion auflöst.<br />
Abbildung 38: Beethoven Variation Nr. 20 aus Variationen op. 120.<br />
Auch der weitere harmonische Verlauf dieser Variation ist sehr auffällig. In den Takten<br />
13-19 wird deutlich, dass die Harmonik einem bestimmten Auflösungsschema folgt:<br />
Auf die schwere Taktzeit wird ein dissonanter Akkord gesetzt, der sich in einen weniger<br />
dissonanten Akkord auf der leichten Taktzeit auflöst. Die Takte 21-24 setzen dieses<br />
Schema fort, allerdings steht nun auf der leichten Taktzeit ein verminderter Septakkord<br />
auf E bzw. B <strong>und</strong> G. Dies bestärkt die vorherige Vermutung, dass der verminderte<br />
Septakkord hier als ein Zentralklang behandelt wird. Alle Töne der Takte 21-24 ent-<br />
85
stammen der mit dem verminderten Septakkord eng verwandten Ganzton-Halbton-<br />
Skala auf E. Wie zuvor der g-Moll-Septakkord, werden in diesen Takten die Dominantseptakkorde<br />
auf C <strong>und</strong> Es (enharmonisch umgedeutet) in den verminderten Septakkord<br />
aufgelöst. Dies wird auch durch die Notation der Vorzeichen in Takt 24 (Dis – E in der<br />
Oberstimme) deutlich. Auch im weiteren Verlauf der Variation bleibt ein eindeutiger<br />
Tonartbezug aus, bis sich die Harmonik schließlich im letzten Takt nach C-Dur auflöst.<br />
Mit der tragenden Rolle des verminderten Septakkordes nimmt Beethoven in dieser<br />
Variation viele harmonische Neuerungen der Hochromantik vorweg, wie später nach<br />
am Beispiel von Richard Wagners Parsifal zu sehen sein wird.<br />
Besonders auffällig ist die Ambivalenz des Klangzentrums insbesondere auch in den<br />
späten Klavierstücken von Franz Liszt. Bereits in Funérailles (1849) hatte Liszt die<br />
beiden <strong>Klangzentren</strong> f-Moll <strong>und</strong> E-Dur fast gleichberechtigt nebeneinander verwendet<br />
<strong>und</strong> dabei die gemeinsame Terz der beiden Akkorde als Bindeglied genutzt. 262 Bei La<br />
lugubre gondola I (1882) stellt Liszt anstelle der Tonika sogar eine bitonale Mischung<br />
zwischen E-Dur <strong>und</strong> f-Moll. Das erste Intervall der Melodiestimme von La lugubre<br />
gondola I deutet f-Moll an, bei den Takten 6-10 handelt es sich jedoch um einen Ausschnitt<br />
aus der E-Dur-Tonleiter. Zusammengehalten wird die Melodie durch einen<br />
übermäßigen Dreiklang auf E, der mit den beiden Akkorden E-Dur <strong>und</strong> f-Moll jeweils<br />
zwei gemeinsame Töne enthält (Abbildung 39). 263 In Unstern! sinistre, disastro (nach<br />
1881), in der Liszt verwandte Techniken anwendet, geht er sogar so weit, dass die Töne<br />
von E-Dur <strong>und</strong> f-Moll zu einem einzigen Klanggemisch vereint werden. 264<br />
262 Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 46-67.<br />
263 Ebda., S. 21f.<br />
264 Ebda., S. 30.<br />
86
Abbildung 39: Liszt, La lugubre gondola I, Takte 1-22.<br />
In diesem Abschnitt wurde gezeigt, dass es in der Musik des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts oft<br />
schwierig ist einen eindeutigen Zentralklang festzumachen <strong>und</strong> auch der Akkordtyp des<br />
Zentralklangs ist nicht klar definierbar. So nehmen in der romantischen Literatur anstelle<br />
der traditionellen Dreiklänge Dur <strong>und</strong> Moll auch dissonante Klänge – wie der<br />
Dominantseptakkord, der verminderte Septakkord oder der übermäßige Dreiklang – den<br />
Platz eines zentralen Bezugspunkts ein. Nun stellt sich die Frage, ob diese dissonanten<br />
<strong>Klangzentren</strong> nur aus systematisch-analytischer bzw. aus kompositionstechnischer Sicht<br />
eine Bedeutung haben, oder ob auch unsere Wahrnehmung diese Klänge als zentrale<br />
Ruhepunkte akzeptieren kann. Gerade bei Orgelpunkten über einer Dominante oder in<br />
Rückführungen einer Sonatensatzform scheint es ganz offensichtlich, dass man als<br />
Hörer weiterhin das Bedürfnis nach der Auflösung der Dominante in die Tonika hat <strong>und</strong><br />
diese Erwartung wird in den allermeisten Fällen auch erfüllt. So gesehen nimmt die<br />
Dominante dann zwar eine zentrale Rolle ein, die Tonika schwingt jedoch als unterschwelliger<br />
Zentralklang weiterhin mit. Dem gegenüber gibt es jedoch Beispiele, wie<br />
87
einige der späten Klavierwerke Liszts, die darauf hindeuten, dass auch dissonante<br />
Klänge durchaus als <strong>Klangzentren</strong> wahrgenommen werden, die kein zwingendes Auflösungsbedürfnis<br />
mehr hervorrufen. Auch die zeitgenössische Musik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
hat mit der Emanzipation der Dissonanz <strong>und</strong> des Geräuschs eindrucksvoll bewiesen,<br />
dass ein Auflösungsbedürfnis dissonanter Klänge immer nur vom jeweiligen<br />
harmonischen bzw. stilistischen Kontext abhängt. Kreneks Aussage, dass der wesentliche<br />
Unterschied zwischen Atonalität <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong> „die Dominantwirkung [ist], die<br />
diese besitzt, die jener fehlt“ (vgl. S. 76) deutet genau auf diesen Zusammenhang hin. In<br />
anderen musikalischen Strömungen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wiederum, die primär im durmoll-tonalen<br />
Kontext verstanden werden – wie beispielsweise dem Blues oder dem Jazz<br />
– ist die Tonika sogar meistens ein dissonanter Klang, den unsere Wahrnehmung<br />
durchaus als Ruhepunkt zu akzeptieren scheint.<br />
88
2.2 Richard Wagner: Einleitung zu Tristan <strong>und</strong> Isolde<br />
Das Loslösen von der Tonika als harmonisches Klangzentrum fand seinen ersten Höhepunkt<br />
in der viel diskutierten Einleitung (bzw. dem „Vorspiel“) zu Richard Wagners<br />
Tristan <strong>und</strong> Isolde. Der so genannte „Tristan-Akkord“ – der dem Tonvorrat eines<br />
„halbverminderten Septakkords“ 265 entspricht – wurde im Laufe der Musikgeschichte<br />
unterschiedlichsten Deutungen unterzogen, nicht zuletzt mit dem Wunsch ihn einem<br />
vorgegebenen Theoriemodell gefügsam zu machen. Ich werde mich in der vorliegenden<br />
Analyse weniger dem Wesen des Tristan-Akkords widmen, sondern vielmehr den<br />
unterschiedlichen <strong>Klangzentren</strong>, die in der Tristan-Einleitung eine Rolle spielen.<br />
Abbildung 40: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 1-11.<br />
Es ist durchaus möglich in den ersten vier Takten des Tristan (Abbildung 40) a-Moll als<br />
zugr<strong>und</strong>e liegenden Zentralklang anzunehmen, was der am häufigsten anzutreffenden<br />
harmonischen Deutung entspricht. 266 Die ersten drei Töne könnten dann als eine Um-<br />
265 Ich werde in der vorliegenden Analyse darauf verzichten den Akkordtyp des Tristan-Akkords gemäß<br />
einer der vielen Deutungsmöglichkeiten als z.B. „Unterseptimenakkord“ (Martin Vogel, Der Tristan-<br />
Akkord <strong>und</strong> die Krise der modernen Harmonielehre, Düsseldorf: Gesellschaft zur Förderung der<br />
systematischen Musikwissenschaft 1962, S. 140) oder „Doppelleittonklang“ (Erpf, Studien zur<br />
Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik, S. 51 u. S. 162) , zu bezeichnen. Jegliche Akkordbezeichnungen sind in<br />
weiterer Folge als eine Bezeichnung des abstrakten Tonvorrats im Sinne eines pitch sets zu verstehen<br />
<strong>und</strong> werden jeweils nach dem Gr<strong>und</strong>ton der Terzenschichtung oder, bei äquidistanten Klängen, nach<br />
dem Basston benannt; enharmonische Verwechslungen werden für die Benennung des Tonvorrates<br />
ignoriert. Der Autor geht davon aus, dass der Leser anhand des Notentextes versteht um welche konkreten<br />
Klänge es sich während der Diskussion handelt.<br />
266 Vgl. unter anderem: Vogel, Der Tristan-Akkord, S. 140; Erpf, Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik,<br />
S. 51 u. S. 162; Ernst Kurth, Romantische Harmonik <strong>und</strong> ihre Krise in Wagners „Tristan“,<br />
Berlin: Max Hessels 1920, S. 44. Für weiterer Interpretationen des Tristan-Akkords vgl. auch Diether<br />
89
spielung von a-Moll ohne Terz angesehen werden <strong>und</strong> die erste Phrase würde in Takt 3<br />
auf der Dominante von a-Moll – E 7 – schließen. Gegen diese Interpretation spricht<br />
allerdings, dass in a-Moll während des gesamten Vorspiels kein einziges Mal kadenziert<br />
wird. A-Dur kommt in der Einleitung zwar vor, jedoch erst in Takt 24 <strong>und</strong> dort nur für<br />
die kurze Dauer einer punktierten Viertel innerhalb eines harmonischen Kontexts, der<br />
eher E-Dur vermuten lässt. Der Hörer wird zu diesem Zeitpunkt den A-Dur-Dreiklang<br />
wohl kaum mehr mit dem E-Dur-Septakkord aus Takt 4 (bzw. T. 16) in Verbindung<br />
bringen. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass der geschulte Hörer, der die romantische<br />
Musik vor dem Tristan gut kennt, nach den ersten vier Takten zunächst einmal von der<br />
Tonika a-Moll ausgeht. Dies ändert sich jedoch schlagartig in den Takten 5-7, mit der<br />
leicht veränderten realen Sequenz der ersten drei Takte um eine kleine Terz höher.<br />
Würde man der vorherigen Argumentation weiter folgen, dann müsste man Takt 7 als<br />
Dominante nach C hören. Auf C-Dur würde die Nähe zur vorangegangenen Tonart a-<br />
Moll hindeuten, c-Moll könnte dagegen wegen des Tons Gis/As der Takte 5-6 nahe<br />
liegen. In den Takten 8-11 wird die erste Phrase ein drittes Mal (diesmal stärker abgeändert)<br />
variiert. Takt 10 könnte man aus Sicht von C-Dur als einen Vorhalt zu einem<br />
übermäßigen Dreiklang auf C deuten (Abbildung 41), der in Takt 11 zu einem Dominantseptakkord<br />
auf H weitergeführt wird. Damit wäre die Tonika der Takte 10-11 E-<br />
Dur oder e-Moll.<br />
A5+<br />
) R -:<br />
-:<br />
-:<br />
-:<br />
- -)<br />
* - - E§<br />
Abbildung 41: Tristan-Vorspiel, T. 10, gedeutet als Tonika mit übermäßiger Quint.<br />
Der einzige Zentralklang, der aus Sicht der Funktionstheorie in diesen ersten Takten<br />
wenigstens annähernd bestätigt wurde, ist C-Dur. Dafür spricht einerseits die Nähe zum<br />
anfänglichen a-Moll, andererseits die Quasi-Auflösung in einen übermäßigen Dreiklang<br />
de la Motte, Harmonielehre [1976], München: Deutscher Taschenbuch Verlag / Bärenreiter 9 1995, S.<br />
225-228.<br />
90
auf C in Takt 10. C-Dur wird als Zentralklang in den folgenden Takten (T. 17-20) sogar<br />
bestätigt <strong>und</strong> in ganz traditionellen harmonischen Wendungen vier Takte lang ausgekostet.<br />
Außerdem wird zum Schluss der Einleitung die Anfangsphrase mit einem<br />
Orgelpunkt auf G in die Tonart c-Moll umgedeutet (Abbildung 42, T. 100-106), auf<br />
deren Dominante das Tristan-Vorspiel schließlich endet.<br />
Abbildung 42: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 100-111.<br />
Unsere Wahrnehmung scheint dieser Interpretation jedoch nicht exakt zu folgen. Zwar<br />
ist es denkbar den 3. Takt als Dominante in a-Moll zu hören, ob man jedoch tatsächlich<br />
in den folgenden Takten mit jedem neuen Dominantseptakkord einen Wechsel des<br />
Zentrums nach C <strong>und</strong> schließlich nach E wahrnimmt, obwohl weder a-Moll noch C-Dur<br />
eindeutig bestätigt wurde, ist zu bezweifeln. Spätestens nach dem 7. Takt hat sich<br />
unsere Wahrnehmung darauf eingestellt, dass ihre Erwartung bislang nicht erfüllt<br />
wurde. Außerdem nehmen die Dominantseptakkorde E 7 , G 7 <strong>und</strong> H 7 in diesem harmonischen<br />
Umfeld einen sehr stabilen Platz ein, der gar keiner zwingenden Auflösung<br />
bedarf. Dieser Effekt entsteht dadurch, dass die Dominantseptakkorde hier, im Verhältnis<br />
zu dem Tristan-Akkord, die „konsonanteren“ Klänge darstellen. Diese in sich<br />
ruhende Dominantwirkung wird auch noch durch die Auflösung der übermäßigen Quart<br />
(Ais) in die Quint (H) des Zielakkords verstärkt. Dies ist durchaus vergleichbar mit der<br />
Auflösung des G-Moll-Septakkords in den Quintsextakkord auf Gis in Beethovens<br />
„Diabelli“-Variation Nr. 20 (vgl. Abbildung 38). Ernst Kurth schreibt über die besagte<br />
Stelle der Tristan-Einleitung:<br />
91
Ein weiteres technisches Merkmal tritt schon bei dieser ersten Akkordverbindung des „Tristan“<br />
hervor; nämlich die eigentümliche Erscheinung, daß (mit dem zweiten Akkord) ein Septakkord<br />
nach der vorangehenden Alterationsdissonanz als Auflösungsform eintritt, <strong>und</strong> zwar auch der<br />
Wirkung nach als eine Auflösung, die sich hier einem konsonanten Klangeindruck nähert. 267<br />
Die Dominantseptakkorde nehmen hier demnach auf mikroformaler Ebene die Rolle<br />
von <strong>Klangzentren</strong> ein. Betrachtet man den formalen Ablauf der ersten 16 Takte unter<br />
diesem Gesichtspunkt, so sieht man, dass sich neben den <strong>Klangzentren</strong> C-Dur <strong>und</strong> a-<br />
Moll auch ein weiteres Klangzentrum auf E etabliert. Die Akkordfolge der Dominantseptakkorde<br />
– E 7 , G 7 , H 7 , E 7 – kann dann als eine Art „Kadenz“ bezogen auf das Klangzentrum<br />
E gedeutet werden.<br />
Bevor ich auf die Harmonik dieser ersten 16 Takte in Bezug auf das Klangzentrum E<br />
genauer eingehe, möchte ich nochmals einen kurzen Exkurs zu Franz Liszt machen.<br />
Wie angedeutet finden sich in Liszts Spätwerk häufig Stellen, die sich auf die beiden<br />
<strong>Klangzentren</strong> der I. Stufe (E-Dur) <strong>und</strong> der tiefalterierten II. Stufe (f-Moll) beziehen 268<br />
(vgl. S. 86). Als Bindeglied zwischen diesen beiden <strong>Klangzentren</strong> verwendet Liszt<br />
meist den übermäßigen Dreiklang auf E (Abbildung 43a) sowie den verminderten<br />
Dreiklang auf F (Abbildung 43b). Eine weitere Variante zur Verbindung von E-Dur <strong>und</strong><br />
f-Moll, die Liszt vorwiegend im Klavierstück Funérailles einsetzt, ist das Umdeuten der<br />
Dominante von f-Moll zu einem übermäßigen Dreiklang auf C, der wiederum dem<br />
übermäßigen Dreiklang auf E entspricht (Abbildung 43c). In diesem Zusammenhang<br />
verwendet Liszt auch eine direkte Verbindung zwischen dem Dominantseptakkord auf<br />
C <strong>und</strong> dem Dur-Dreiklang auf E, die man aus Sicht von f-Moll als einen erweiterten<br />
Trugschluss auffassen könnte (Abbildung 43d). 269<br />
267 Kurth, Romantische Harmonik, S. 47. Kurth führt diese ruhende Wirkung des Dominantseptakkords<br />
auf seine Terzenschichtung zurück: „das Ohr [fasst] die Rückkehr des musikalischen Gewebes in<br />
einen auf Terzlagerung zurückzuführenden Akkord als Einrenkung in ein von der Natur vorgezeichnetes<br />
System <strong>und</strong> als Ruhepunkt im musikalischen Kräftespiel [auf …].“ (Vgl. Ernst Kurth, Die<br />
Voraussetzungen der Theoretischen Harmonik, Bern: Max Drechsel 1913).<br />
268 Nachdem beide <strong>Klangzentren</strong> oft in gleichem Maße betont werden könnte man umgekehrt auch von<br />
der I. Stufe f-Moll <strong>und</strong> der erhöhten VII. Stufe E-Dur sprechen. Die Problematik der exakten Bezeichnung<br />
spiegelt gewissermaßen unsere mangelhafte Symbolschrift für multiple <strong>Klangzentren</strong> wider, da<br />
sowohl Stufentheorie als auch Funktionstheorie von einem einzigen Klangzentrum ausgehen. Im Zusammenhang<br />
mit mehreren <strong>Klangzentren</strong> wäre es vielleicht ratsam die übliche Stufenbezeichnung<br />
fallen zu lassen <strong>und</strong> statt dessen nur Akkordbezeichnungen wie z.B. „E/Fm“ zu verwenden. In der<br />
Jazztheorie gibt es beispielsweise für polytonale Akkorde verschiedene Bezeichnungsmöglichkeiten,<br />
bei der insbesondere die Bezeichnung mittels eines schrägen oder horizontalen Balkens zwischen den<br />
beiden Akkorden sinnvoll erscheint.<br />
269 Vgl. dazu auch Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 60ff.<br />
92
Abbildung 43: Harmonische Zusammenhänge zwischen E-Dur <strong>und</strong> f-Moll.<br />
Besonders deutlich treten diese Beziehungen in den Takten 21-25 von Liszts oben<br />
erwähntem Klavierstück Unstern! zum Vorschein (Abbildung 44). In Takt 22 würde der<br />
Hörer hier – mit dem hinzugefügten F im Bass – als Zentralklang wahrscheinlich f-Moll<br />
annehmen, in den Takten 23-25 kommt es jedoch zu einer Umspielung eines übermäßigen<br />
Dreiklangs auf E. Strukturell gesehen vereint diese Stelle sowohl die Charakteristik<br />
von E-Übermäßig als auch von F-Vermindert.<br />
Abbildung 44: Liszt, Unstern!, Takte 21-25.<br />
Die Beziehung der beiden Zentralklänge auf C <strong>und</strong> E in der Einleitung zu Wagners<br />
Tristan sind den Beziehungen zwischen E-Dur <strong>und</strong> f-Moll bei Liszt nicht unähnlich. So<br />
ist die Tonart C-Dur als Dominante zu f-Moll in dem oben vorgestellten Schema sogar<br />
implizit vorhanden (vgl. Abbildung 43d). Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen<br />
C-Dur <strong>und</strong> E-Dur sind zum Vergleich in Abbildung 45 dargestellt. E-Dur hat mit C-Dur<br />
einen gemeinsamen Ton E, der jeweils der Gr<strong>und</strong>ton bzw. die Terz der Akkorde ist.<br />
Direkt sind die beiden Akkorde über den übermäßigen Dreiklang auf C bzw. E verb<strong>und</strong>en,<br />
mit dem beide Klänge jeweils zwei gemeinsame Töne teilen. Indirekt besteht<br />
auch noch eine Verbindung über F-Vermindert, das aus Sicht von C-Dur als<br />
Dominantseptnonenakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton <strong>und</strong> Quinte gedeutet werden kann.<br />
93
Abbildung 45: Harmonische Zusammenhänge zwischen C-Dur <strong>und</strong> E-Dur.<br />
Unter diesen Gesichtspunkten kann der Tristan-Akkord in Takt 2 wenigsten auf drei<br />
verschiedene Weisen gedeutet werden: aus Sicht der <strong>Klangzentren</strong> a-Moll bzw. C-Dur<br />
<strong>und</strong> aus Sicht des Klangzentrums E-Dur. Im ersten Fall könnte man den Tristan-Akkord<br />
als Vorhalt zu einem übermäßigen Terzquartakkord deuten, also doppeldominantisch zu<br />
a-Moll (Abbildung 46 links) oder dominantisch zu C-Dur. Die Deutung in a-Moll<br />
könnte man als die traditionelle funktionstheoretische Erklärung des Tristan-Akkords<br />
ansehen. 270 Dem zufolge müsste man den Melodieschritt Gis–A als eine Bewegung von<br />
der Sext zur Sept hören – das entspricht aber kaum der tatsächlichen Wahrnehmungssituation.<br />
Aus Sicht des Klangzentrums E-Dur ergibt sich dagegen ein etwas anderes<br />
Bild. Der halbverminderte Septakkord auf F hat wie der verminderte Dreiklang auf F<br />
(vgl. Abbildung 45) zwei gemeinsame Töne mit E-Dur (Gis <strong>und</strong> H), eine umständliche<br />
Deutung aus Sicht der Dominante ist also gar nicht unbedingt notwendig. Statt dessen<br />
könnte man den halbverminderten Septakkord auf F bereits als einen direkten Vorhalt<br />
zur Tonika E-Dur deuten (Abbildung 46 rechts). 271 Die Melodielinie Gis–A–Ais–H<br />
wäre dann einfach ein Durchgang von der Terz zur Quint des Zentralklanges E-Dur <strong>und</strong><br />
die kleine Sept könnte als zusätzliche Farbe des Zielklanges bewertet werden.<br />
F& : / D7<br />
Y7 _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 8<br />
5ö 2ö _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 1<br />
Abbildung 46: Tristan-Akkord aus Sicht von a-Moll (links) <strong>und</strong> aus Sicht von E-Dur (rechts).<br />
270<br />
Vgl. Erpf, Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik, S. 162.<br />
271<br />
Erpf bezeichnet diese Beziehung als Doppelleittonklang da die Prim durch zwei Leittöne erreicht wird<br />
(vgl. Ebda., S. 51 u. S. 162.).<br />
94
Jedoch entspricht auch diese Interpretation nicht in jeder Hinsicht unserer Wahrnehmung<br />
der ersten Takte des Tristan. Vielmehr scheint es eher so zu sein, dass wir<br />
eine Kombination beider genannten Varianten hören <strong>und</strong> sich insofern auch alle<br />
Akkorde – a-Moll, C-Dur <strong>und</strong> E-Dur – neben einander als <strong>Klangzentren</strong> etablieren. Die<br />
oben erwähnte Beziehung zwischen C-Dur <strong>und</strong> E-Dur über den verminderten Dreiklang<br />
auf F (vgl. Abbildung 45) ist es auch, die zum Schluss des Vorspiels die Interpretation<br />
der Anfangstakte in c-Moll ermöglicht (vgl. Abbildung 42).<br />
Für die weiteren Takte ergibt sich, unter Bezug auf die beiden Zentralklänge C-Dur <strong>und</strong><br />
E-Dur folgendes Bild: Der Tristan-Akkord in Takt 6 (As-Halbvermindert) dient als<br />
Bindeglied zwischen dem in Takt 3 erreichten Zentralklang E 7 <strong>und</strong> der Dominante G 7<br />
des zweiten Zentralklangs C, in den sich die zweite Phrase in Takt 7 auflöst (Abbildung<br />
47 links). Der halbverminderte Septakkord auf As fügt dem Zentralklang E 7 dabei<br />
lediglich die große None hinzu (Abbildung 47 rechts) <strong>und</strong> hat mit dem nachfolgenden<br />
G 7 wiederum die Terz <strong>und</strong> die Quint gemeinsam. Der erreichte Dominantseptakkord auf<br />
G kann auf formaler Ebene als ein vorübergehender Zentralklang zwischen den Klängen<br />
E 7 <strong>und</strong> H 7 angesehen werden.<br />
A(E-Dur) 3ö Y2(E-Dur) D(C-Dur)<br />
Abbildung 47: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 5-8 (links); Verbindung zwischen E 7 <strong>und</strong> dem halbverminderten<br />
Septakkord auf Gis.<br />
Der halbverminderte Sek<strong>und</strong>akkord in Takt 10 stellt entsprechend der Interpretation in<br />
Abbildung 41 einen Vorhalt zu einem übermäßigen Dreiklang auf C dar. Dieser Dreiklang<br />
steht zu den Zentralklängen C-Dur <strong>und</strong> E-Dur im selben Verhältnis <strong>und</strong> enthält<br />
von beiden Klängen den Gr<strong>und</strong>ton sowie die Terz (vgl. Abbildung 45). Die Verbindung<br />
zur nachfolgenden Dominante von E könnte man dem entsprechend wiederum aus Sicht<br />
beider Zentralklänge deuten. In Takt 16 wird H 7 schließlich in den Zentralklang E 7<br />
aufgelöst, der aber sofort zur Subdominante von C-Dur (T. 17) weitergeführt wird.<br />
95
Das darauf folgende prägnante Thema (Abbildung 48, T. 17-22, „Motiv der Blickbegegnung“),<br />
das vom Klangzentrum C-Dur in die Region der Subdominantparallele d-<br />
Moll moduliert (T. 22), ist für den weiteren harmonischen Verlauf des Vorspiels von<br />
wesentlicher Bedeutung. Zunächst bestätigen diese Takte den Zentralklang C-Dur, in<br />
den darauf folgenden Takten 23-29 wird jedoch als Ausgleich sofort wieder E-Dur in<br />
das Zentrum gerückt (bzw. in T. 28f die Dominante zu E-Dur). Auch der Zentralklang<br />
a-Moll gewinnt durch die Ausweichung zur Subdominante d-Moll (T. 22) wieder<br />
implizit an Bedeutung.<br />
Abbildung 48: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 17-29.<br />
Nach zwei Takten Überleitung (T. 30f) erklingt dieses Thema ein zweites Mal in C-Dur,<br />
allerdings in einer Variation <strong>und</strong> mit leicht veränderter Harmonisierung (Abbildung 49,<br />
T. 33-36). Interessant ist, dass Wagner nun auch den Zentralklang C-Dur ganz offen als<br />
Dominantseptakkord ohne Auflösung einsetzt. Zunächst in Takt 35 als Vorbereitung des<br />
anschließenden g-Moll-Dreiklangs <strong>und</strong> schließlich auch in Takt 37f als Abschluss der<br />
Phrase. Takt 41f endet abermals auf der Dominante des zweiten Zentralklang E-Dur, der<br />
in Takt 46 auch bestätigt wird.<br />
96
Abbildung 49: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 32-42.<br />
In den Takten 55-63 tritt das Thema schließlich zweimal hintereinander auf, wobei mit<br />
den beiden neuen Themenvarianten wiederum die beiden <strong>Klangzentren</strong> C-Dur <strong>und</strong> E-<br />
Dur einander gegenübergestellt werden (Abbildung 50). In den Takten 55-58 steht das<br />
Thema zunächst in E-Dur <strong>und</strong> ist dabei um einen halben Takt verschoben. In Takt 58<br />
moduliert das Thema jedoch nicht wie gewohnt zur Subdominantparallele fis-Moll,<br />
sondern endet mit einem Trugschluss auf einem D-Dur-Dreiklang in erster Umkehrung.<br />
Dieser leitet als Doppeldominante in die zweite Themenvariante über, die nun in C-Dur<br />
erscheint (59-62). In Takt 62 wird das Thema dann ein weiteres Mal nach E-Dur<br />
weitergeführt <strong>und</strong> in dieser Tonart endet der Abschnitt schließlich. Es folgt ein ausgedehnter<br />
Orgelpunkt über dem Klangzentrum E 7 in den Takten 63-70, der mit der<br />
Akkordfolge E 7 –G 7 –H 7 –E 7 der Einleitung beendet wird (T. 70-73).<br />
97
Abbildung 50: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 55-63.<br />
Eine weitere sehr interessant Stelle in Bezug auf das Klangzentrum sind die Takte 78-<br />
83. Hier wird zunächst in den Takten 78f ein halbverminderter Septakkord auf C umspielt,<br />
der in Takt 79 über den Dominantseptakkord B 7 zu einem halbverminderten<br />
Septakkord auf F weitergeleitet wird. Man könnte hier im ersten Moment vermuten,<br />
dass das Klangzentrum es-Moll ist, dies wird jedoch zu keinem Zeitpunkt bestätigt.<br />
Statt dessen scheint es in den folgenden 4 Takten fast, als würde der halbverminderte<br />
Septakkord, der enharmonisch umgedeutet dem Tristan-Akkord aus Takt 2 entspricht,<br />
für kurze Zeit selbst zu einem eigenständigen Klangzentrum werden (Abbildung 51).<br />
Besonders auffällig ist dabei auch, dass in Takt 80 ein E-Dur-Dreiklang enharmonisch<br />
umgedeutet <strong>und</strong> nun auf den halbverminderten Septakkord auf F bezogen wird (Ces–<br />
As–E, 6. Achtel). Dies suggeriert, dass Wagner den hohen Verwandtschatftsgrad dieser<br />
beiden Akkorde bewusst ausgenutzt hat, um unterschiedlichste harmonische Beziehungen<br />
zu erzeugen. In Takt 83 wird der Tristan-Akkord wieder in seine ursprüngliche<br />
Gestalt umgedeutet <strong>und</strong> löst sich dem Beginn entsprechend in den Dominantseptakkord<br />
E 7 auf (T. 84). Damit erfüllen die Takte 80-83 gewissermaßen auch die Funktion eines<br />
Auftaktakkords zu dem Zentralklang E 7 .<br />
98
Abbildung 51: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 80-84.<br />
Am Beispiel der Tristan-Einleitung konnte gezeigt werden, dass die Annahme mehrerer<br />
<strong>Klangzentren</strong> in romantischer Musik aus analytischer Sicht durchaus eine Berechtigung<br />
hat. Ob Wagner tatsächlich sowohl E-Dur als auch C-Dur als Zentralklänge konzipiert<br />
bzw. komponiert hat, ist eine Frage, die sich nur schwer beantworten lässt – es gibt in<br />
der Tristan-Einleitung jedoch auf mikro- <strong>und</strong> makroformaler Ebene mehrere Anzeichen<br />
die darauf hindeuten. Durch die besondere Behandlung des Dominantseptakkords sowie<br />
des halbverminderten Septakkords ist diese Einleitung auch ein Beispiel dafür, dass<br />
ursprünglich dissonante Klänge in der Spätromantik zunehmend als eigenständige <strong>und</strong><br />
stabile <strong>Klangzentren</strong> eingesetzt wurden. In der Entwicklung der europäischen Musikgeschichte<br />
kann dies als Vorläufer für komplexere <strong>Klangzentren</strong> angesehen werden, wie<br />
sie später zum Beispiel von Skrjabin, Bartók oder Schönberg eingesetzt wurden.<br />
99
2.3 Richard Wagner: Parsifal, Vorspiel zum dritten Akt<br />
Im Vorspiel zum dritten Akt des Parsifal führt Wagner die Techniken des Tristan-<br />
Vorspiels weiter. Diesmal steht jedoch nicht ein Dominantseptakkord als Zentralklang<br />
im Vordergr<strong>und</strong>, sondern ein verminderter Septakkord. Der verminderte Septakkord hat<br />
hier als Klangzentrum auch eine tonsymbolische Bedeutung. Das Vorspiel stellt Parsifals<br />
Irrfahrt dar <strong>und</strong> es gibt wohl keinen Klang, der innerhalb der Dur-Moll-Harmonik<br />
eine harmonische Irrfahrt besser ausdrücken könnte, als der verminderte Septakkord;<br />
von dem aus in praktisch alle Tonarten moduliert werden kann, der dabei jedoch keine<br />
Tonart in besonderer Weise hervorhebt. In den ersten vier Takten des Vorspiels<br />
(Abbildung 52) könnte man – den Vorzeichen entsprechend – als Klangzentrum zunächst<br />
b-Moll vermuten. Dafür spricht, dass die ersten drei Töne (B–F–Des) eine<br />
Zerlegung eines b-Moll-Dreiklangs sind <strong>und</strong> dass ein b-Moll-Dreiklang in erster Umkehrung<br />
die letzte Viertel im zweiten Takt bildet. Auch der dritte Takt ließe sich aus<br />
Sicht von b-Moll sehr gut deuten. Der es-Moll-Sextakkord ohne Quint auf der dritten<br />
Viertel dieses Taktes wäre dann eine Subdominante, die auf der vierten Viertel in die<br />
Dominante F 7 mit Quartvorhalt mündet. Diese offensichtlichen Bezüge zu b-Moll<br />
werden jedoch immer wieder durch verminderte Septakkorde eingetrübt. Im zweiten<br />
Takt auf der zweiten Viertel sowie zu Beginn des dritten Takts klingt jeweils ein verminderter<br />
Septakkord auf G, der sich aus Sicht von b-Moll nur schwer erklären lässt.<br />
Auf der zweiten Viertel des vierten Taktes klingt ein verminderter Septakkord auf Ges,<br />
der sich in b-Moll immerhin als Dominante ohne Gr<strong>und</strong>ton deuten ließe. Allerdings<br />
wäre dann die Weiterführung dieses Klangs in den verminderten Septakkord auf D (T.<br />
4, 4. Viertel) sehr ungewöhnlich.<br />
100
Abbildung 52: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4.<br />
Abbildung 53 zeigt eine harmonische Reduktion dieser Takte mit hinzugefügten<br />
Akkordsymbolen, in denen die verminderten Septakkorde hervorgehoben wurden. Die<br />
harmonischen Beziehungen, die Wagner in diesen vier Takten vorstellt, sind bis auf<br />
wenige Ausnahmen für den gesamten weiteren Verlauf des Vorspiels gr<strong>und</strong>legend <strong>und</strong><br />
kehren in den unterschiedlichsten Varianten wieder.<br />
Abbildung 53: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; harmonische Reduktion.<br />
Bevor ich mich der Analyse dieses Vorspiels im Detail widme, diskutiere ich zunächst<br />
einige harmonische Eigenschaften des verminderten Septakkords, die für die weitere<br />
Harmonik des Vorspiels wesentlich sind. Die wohl gr<strong>und</strong>legendste Eigenschaft des<br />
verminderten Septakkords ist, dass er wie der übermäßige Dreiklang ein äquidistanter<br />
Akkord ist, der die Oktave in vier gleiche Teile teilt. Dem entsprechend gibt es – bezogen<br />
auf den Tonvorrat – nur drei unterschiedliche verminderte Septakkorde. Daraus<br />
ergibt sich, dass jeder verminderte Septakkord zu den beiden anderen jeweils im Abstand<br />
einer kleinen Sek<strong>und</strong> steht. Wenn man den verminderten Septakkord als Klangzentrum<br />
annimmt, dann können also streng genommen nur drei dieser <strong>Klangzentren</strong> mit<br />
unterschiedlichem Tonvorrat während eines Werks verwendet werden (sofern man von<br />
101
einer gleichstufigen zwölftönigen Stimmung ausgeht). Die „Modulation“ von einem<br />
verminderten Septakkord in einen anderen kann also einfach durch eine harmonische<br />
Rückung des Zentralklangs um eine kleine Sek<strong>und</strong> geschehen. Diese Akkordketten aus<br />
verminderten Septakkorden sind seit dem Barock üblich <strong>und</strong> wurden auch von Franz<br />
Liszt gerne eingesetzt, wie beispielsweise im Klavierstück La lugubre gondola II. 272<br />
Dabei ist die traditionelle Variante das Verschieben eines verminderten Septakkords um<br />
eine kleine Sek<strong>und</strong> nach unten (aus funktionstheoretischer Sicht eine Dominantbeziehung<br />
273 ), aber auch das Verschieben um eine kleine Sek<strong>und</strong> nach oben ist durchaus<br />
üblich (vgl. z.B. J. S. Bachs Chromatische Fantasie <strong>und</strong> Fuge BWV 903, T. 34;<br />
Abbildung 58 weiter unten). Genau diese Art der harmonischen Rückung findet sich im<br />
Prinzip auch in den Takten 3-4 des hier behandelten Parsifal-Vorspiels, allerdings wird<br />
die harmonische Folge G°–Ges°–F° (D im Bass) durch die umgebenden Harmonien<br />
überdeckt. In diesen beiden Takten erklingt damit also auch der gesamte Tonvorrat der<br />
Zwölftonleiter.<br />
Eine weitere Eigenschaft des verminderten Septakkords die sich aus den bisherigen<br />
Eigenschaften ergibt ist, dass jeder Ton der restlichen Zwölftonskala als eine direkte<br />
Nebennote des verminderten Septakkords angesehen werden kann. Der verminderte<br />
Septakkord ist tatsächlich der einzige Akkord, bei dem jeder akkordfremde Ton der<br />
Zwölftonskala von einem Akkordton genau eine kleine Sek<strong>und</strong>e entfernt ist. Abbildung<br />
54 zeigt die verschiedenen Stufen des verminderten Septakkords auf C <strong>und</strong> verdeutlicht<br />
damit auch diesen Zusammenhang: Jede akkordfremde Stufe kann chromatisch in einen<br />
Akkordton weitergeleitet werden. Ich werde im Folgenden Stufenbezeichnungen bezogen<br />
auf den verminderten Septakkord gemäß Abbildung 54 benennen. Dabei bezeichnen<br />
die Stufen I, III, V <strong>und</strong> VII die Akkordtöne des verminderten Septakkords <strong>und</strong><br />
die Stufen II, IV, VI <strong>und</strong> VIII die akkordfremden Töne. Akkordfremde Töne werden<br />
immer mit einem Vorzeichen (Kreuz <strong>und</strong> B) versehen um ihre chromatische Nähe zu<br />
einem der Akkordtöne zu kennzeichnen.<br />
272 Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 11f.<br />
273 Der verminderte Septakkord entspricht dann einer Dominante ohne Gr<strong>und</strong>ton mit tiefalterierter None<br />
<strong>und</strong> Sept im Bass. Die Sept löst sich dabei um eine kleine Sek<strong>und</strong> nach unten in die Terz des nächsten<br />
Akkords auf, bei dem es sich wiederum um eine Dominante ohne Gr<strong>und</strong>ton <strong>und</strong> tiefalterierter None<br />
handelt, diesmal jedoch mit der Terz als Basston.<br />
102
Abbildung 54: Die Stufen des verminderten Septakkords.<br />
Die oktatonischen Skalen, die mit dem verminderten Septakkord in einer engen Beziehung<br />
stehen, können auch als Durchgänge dieses Akkords angesehen werden. Dieser<br />
Zusammenhang wird in Abbildung 55 dargestellt. Dabei entspricht Abbildung 55a der<br />
Ganzton-Halbton-Skala <strong>und</strong> Abbildung 55b der Halbton-Ganzton-Skala auf C.<br />
Abbildung 55: Oktatonische Skalen als Durchgänge eines verminderten Septakkords.<br />
Wenn der verminderte Septakkord das harmonische Klangzentrum darstellt, dann<br />
können seine Nebennoten nicht nur als Durchgänge angesehen werden, sondern auch als<br />
Vorhalte. Wiederum ist dabei jede Nebennote chromatischer Vorhalt eines Akkordtons.<br />
Abbildung 56 zeigt die möglichen chromatischen Vorhalte zu einem verminderten<br />
Septakkord auf C. Die Akkordtypen, die auf den Vorhaltstönen entstehen, sind dabei<br />
halbverminderte Septakkorde (Abbildung 56a) <strong>und</strong> Dominantseptakkorde (Abbildung<br />
56b), die in Kleinterzbeziehungen sowie im Tritonusabstand zu einander stehen. Die<br />
Gr<strong>und</strong>töne dieser Septakkorde ergeben damit wiederum den Tonvorrat eines verminderten<br />
Septakkords (im Falle der Dominantseptakkorde H–D–F–A).<br />
103
Abbildung 56: Chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord.<br />
Die Auflösung des halbverminderten Septakkords im vierten Takt von Abbildung 56a<br />
(CØ7 _ Cº7) entspricht im Wesentlichen der ersten Auflösung des Tristan-Akkords im<br />
Tristan-Vorspiel, mit dem Unterschied, dass sich der halbverminderte Septakkord dort<br />
in einen Dominantseptakkord auflöst, der Basston also ebenfalls chromatisch nach<br />
unten weitergeführt wird (FØ7 _ E7). Abbildung 57 verdeutlicht diesen Zusammenhang:<br />
die Stimmführung der Tristan-Auflösung wurde dort in zwei separate Schritte aufgeteilt,<br />
die über den verminderten Septakkord verb<strong>und</strong>en sind. Auch J. S. Bach verwendet<br />
bereits vergleichbare Durchgänge <strong>und</strong> Vorhalte zum verminderten Septakkord.<br />
Abbildung 58 zeigt die Takte 32-35 aus Bachs Chromatische Fantasie <strong>und</strong> Fuge in d-<br />
Moll BWV 903. Der Dominantseptakkord auf D (Terz im Bass) in Takt 32 (3. Viertel)<br />
entspricht dabei der Beziehung des zweiten Takts von Abbildung 56b <strong>und</strong> kann als<br />
Durchgangsakkord des verminderten Septakkords auf Fis gedeutet werden. Der anschließende<br />
Dominantseptakkord auf H (Terz im Bass) entspricht dem ersten Takt von<br />
Abbildung 56b <strong>und</strong> löst sich diesmal in einen verminderten Septakkord auf Dis auf. Die<br />
in Abbildung 56 dargestellten Akkordbeziehungen entsprechen auch den „Tower<br />
Powers“ von Jack Douthett <strong>und</strong> Peter Steinbach (vgl. Abbildung 20).<br />
Abbildung 57: Tristan-Auflösung über den verminderten Septakkord.<br />
104
Abbildung 58: J. S. Bach, Chromatische Fantasie <strong>und</strong> Fuge in d-Moll BWV 903, T. 32-35.<br />
Eine weitere Möglichkeit diese Vorhalte zu harmonisieren besteht darin, dass die<br />
Vorhalte nicht als Septakkorde gesetzt werden, sondern als Dreiklänge. Dabei wird der<br />
Vorhaltston verdoppelt <strong>und</strong> um eine große Sek<strong>und</strong> in umgekehrter Richtung zum<br />
eigentlichen Vorhaltston aufgelöst. Abbildung 59 zeigt einige Möglichkeiten wie diese<br />
doppelten Vorhalte ausgesetzt werden können. Die Dreiklänge, die durch den doppelten<br />
Vorhalt gebildet werden, sind Moll- (Abbildung 59a) <strong>und</strong> Durdreiklänge (Abbildung<br />
59b).<br />
Abbildung 59: Doppelte chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord.<br />
Durch diese recht einfache Systematik erhält man 16 Akkorde, die man direkt auf das<br />
Klangzentrum eines verminderten Septakkords beziehen kann. Dabei haben die Dreiklänge<br />
jeweils zwei, die Septakkorde drei gemeinsame Töne mit dem Klangzentrum.<br />
Erweitert man dies auf die restlichen verminderten Septakkorde, dann lassen sich alle<br />
Dur- <strong>und</strong> Molldreiklänge sowie alle halbverminderten Septakkorde <strong>und</strong> Dominantseptakkorde<br />
auf eines der drei <strong>Klangzentren</strong> beziehen. Dies liegt in der Struktur des verminderten<br />
Septakkords begründet: Jeder beliebige Mehrklang lässt sich chromatisch in die<br />
Akkordtöne eines verminderten Septakkords weiterführen.<br />
105
In der folgenden Analyse werde ich untersuchen, wie sich diese Akkordbeziehungen auf<br />
die Harmonik des Vorspiels zum 3. Akt des Parsifal auswirken. Gezeigt wurde bereits,<br />
dass die Tonart b-Moll in den ersten vier Takten immer wieder durch verminderte<br />
Septakkorde in Frage gestellt wird. Wenn wir die genannten Akkordbeziehungen auf<br />
den verminderten Septakkord auf G anwenden, dann ergibt sich folgendes Harmonieschema<br />
(Abbildung 60).<br />
Abbildung 60: Harmonische Beziehungen des verminderten Septakkords auf G.<br />
Die Beziehungen zu b-Moll, Ges-Dur, G-Halbvermindert <strong>und</strong> dem Dominantseptakkord<br />
auf Ges sind in dieser Abbildung hervorgehoben, um ihre besondere Bedeutung für das<br />
Parsifal-Vorspiel (3. Akt) anzudeuten. Die Harmoniefolge der ersten drei Takte (b-Moll<br />
– Ges-Dur – Ges 7 – G° – b-Moll – G°; vgl. Abbildung 53) des Vorspiels lässt sich<br />
diesem Schema folgend als eine gerichtete Folge ansehen, die das Klangzentrum G°<br />
vorbereitet.<br />
Abbildung 61 zeigt die harmonischen Beziehungen der ersten vier Takte bezogen auf<br />
den verminderten Septakkord. Dabei werden mit den Zahlen die Stufen des verminderten<br />
Septakkords (vgl. Abbildung 54) in ähnlicher Weise bezeichnet, wie dies in<br />
Riemanns Funktionstheorie bezogen auf die Tonika geschieht. Aus dieser Sicht stellen<br />
die ersten beiden Takte einen Vorhalt zum verminderten Septakkord dar, der sich auf<br />
der zweiten Viertel des zweiten Taktes auflöst. Besonders interessant ist die zweite<br />
Hälfte des dritten Taktes. Dieser kann sowohl aus Sicht von G° als auch aus Sicht des<br />
nachfolgenden Ges° gedeutet werden <strong>und</strong> wird somit als harmonisches Bindeglied<br />
zwischen G° <strong>und</strong> Ges° genutzt. Die melodische Linie der Oberstimme (b–c 1 –es 1 –des 1 )<br />
ist – bezogen auf G° – eine Umspielung der Quint, bereitet jedoch das Klangzentrum<br />
Ges° bereits vor: Der zugr<strong>und</strong>e liegende es-Moll-Sextakkord ohne Quint auf der dritten<br />
106
Viertel dieses Taktes nimmt aus Sicht von Ges° die gleiche Funktion ein wie der b-<br />
Moll-Dreiklang in G°. Die Auflösung des F 7 nach Ges° im vierten Takt (#8–1) ent-<br />
spricht der Auflösung von Ges 7 nach G° im zweiten Takt. Den verminderten Septakkord<br />
auf D habe ich, dem Tonvorrat entsprechend, in einen verminderten Septakkord auf F<br />
umgedeutet, um so den harmonischen Verlauf in kleinen Sek<strong>und</strong>en deutlicher darzu-<br />
stellen (Gº – Gbº – Fº). Auch im weiteren Verlauf der Analyse werde ich versuchen<br />
verminderte Septakkorde nicht nur gemäß ihrem tatsächlichen Gr<strong>und</strong>ton zu deuten,<br />
sondern auch gemäß ihrer strukturellen <strong>und</strong> formalen Funktion.<br />
Abbildung 61: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; bezogen auf den verminderten<br />
Septakkord.<br />
Abbildung 62 zeigt den harmonischen Prozess der ersten vier Takte in Form eines<br />
gerichteten Graphen. Die Bezeichnungen „+1“ <strong>und</strong> „-1“ beziehen sich dabei auf den<br />
verminderten Septakkord innerhalb desselben Rechtecks <strong>und</strong> stehen für die chromatische<br />
Erhöhung eines Akkordtons („+1“; z.B. b-Moll <strong>und</strong> G-Halbvermindert aus Sicht<br />
von G-Vermindert) bzw. die chromatische Erniedrigung eines Akkordtons (z.B. Ges-<br />
Dur oder Ges 7 aus Sicht von G-Vermindert). Die Pfeile markieren jene Zustandsänderungen<br />
der Akkorde, die in den jeweiligen Takten vorhanden sind. Man erkennt am<br />
Graphen deutlich, wie die Umspielung des verminderten Septakkords – <strong>und</strong> damit auch<br />
die dur-moll-tonalen Beziehungen – mit jedem neuen verminderten Septakkord weniger<br />
werden, bis in der zweiten Hälfte des vierten Takts nur noch die Auflösung von D-<br />
Halbvermindert in D-Vermindert überbleibt. Außerdem sieht man, dass die harmonischen<br />
Beziehungen in Bezug auf G° am konsequentesten auskomponiert wurden.<br />
107
Start<br />
+1 -1 +1 -1<br />
Gº<br />
T. 1-3 T. 3-4<br />
T. 4<br />
Fº<br />
+1<br />
Gbº<br />
Abbildung 62: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; Graph-Darstellung des harmonischen<br />
Prozesses.<br />
In ähnlicher Weise wie während des Tristan-Vorspiels werden in diesen ersten Takten<br />
des Parsifal-Vorspiels (3. Akt) mehrere <strong>Klangzentren</strong> etabliert, die nicht nur analytische<br />
Konsequenzen fordern, sondern auch unsere Wahrnehmung des Werks nachhaltig<br />
beeinflussen. Interessanterweise nimmt jedoch das Klangzentrum b-Moll im weiteren<br />
Verlauf des Vorspiels eine relativ unbedeutende Rolle ein. Während der Dominantseptakkord<br />
im Tristan-Vorspiel noch der Tonika in mancher Beziehung untergeordnet war,<br />
komponiert Wagner den verminderten Septakkord nun mit all seinen Konsequenzen als<br />
eigenständiges Klangzentrum. Fast jede Harmoniefolge des Parsifal-Vorspiels lässt sich<br />
direkt auf die harmonischen Beziehungen in Abbildung 60 zurückführen <strong>und</strong> mündet in<br />
einen verminderten Septakkord, der ohne jedwede Auflösung als tonaler Bezugspunkt<br />
dient.<br />
In den Takten 5-12 (Abbildung 63) stehen die verminderten Septakkorde auf D <strong>und</strong> E/G<br />
im Zentrum. Dabei werden die Takte 5-6 in den Takten 7-8 um einen Ganzton höher<br />
sequenziert (T. 7) bzw. um einen Halbton höher imitiert (T. 8). Die Dreiklänge gis-Moll<br />
<strong>und</strong> E-Dur in Takt 5 stehen im selben Verhältnis zu F° wie zuvor b-Moll <strong>und</strong> Ges-Dur<br />
zu G°. Dieser Zusammenhang tritt auch in der Sequenz in Takt 8 in Erscheinung, in<br />
dem wiederum b-Moll <strong>und</strong> Ges-Dur (enharmonisch umgedeutet) klingen. Der C-Dur-<br />
Dreiklang im fünften Takt leitet die „Tonart“ E°/G° ein <strong>und</strong> führt damit wieder zum<br />
Zentralklang der ersten Takte zurück. Der Dominantseptakkord auf Fis im sechsten Takt<br />
108
ist, vergleichbar mit dem Ges 7 in Takt 2, ein Vorhaltsakkord zu E°/G°. Die Auflösung<br />
des halbverminderten Septakkords in Takt 7 (b8–7) entspricht dabei der Auflösung in<br />
Takt 4 (3. Viertel) <strong>und</strong> kann wie gesagt als Variante der Tristan-Auflösung angesehen<br />
werden. Dieselbe Auflösung wird auch in Takt 10 wieder verwendet <strong>und</strong> hat im weiteren<br />
Verlauf des Vorspiels eine wesentliche motivische Bedeutung. In Takt 12 löst sich<br />
die Phrase schließlich erneut nach G° auf, sodass G° als die „Haupttonart“ des Vorspiels<br />
vermutet werden kann. Abbildung 64 zeigt wiederum einen gerichteten Graphen dieses<br />
Prozesses, bei dem die besondere Bedeutung von G-Vermindert deutlich sichtbar wird.<br />
Abbildung 63: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; harmonische Reduktion.<br />
109
Gº<br />
T. 12<br />
Start<br />
Dº -1 -1 +1<br />
+1<br />
T. 8-11<br />
Dº +1<br />
-1<br />
T. 5 T. 5-8<br />
D-Dur<br />
Abbildung 64: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; Graph-Darstellung des harmonischen<br />
Prozesses.<br />
Aus formaler Sicht hat das Parsifal-Vorspiel damit in den Takten 1-12 in gewissem<br />
Sinne eine „Kadenz“ über dem verminderten Septakkord auf G durchlaufen, in der auch<br />
kurzzeitig in die beiden „Nebentonarten“ Ges° <strong>und</strong> F° ausgewichen wurde. Takt 12, der<br />
in Takt 13 wiederholt wird („Ritt-Motive“ K<strong>und</strong>rys; erstmals Beginn des I. Akts),<br />
scheint G° als Klangzentrum (Abbildung 65) zu bestätigen. Die Harmonik dieses Taktes<br />
wird im weiteren Verlauf des Stückes noch öfters aufgegriffen <strong>und</strong> lässt die bisher<br />
genannten harmonischen Zusammenhänge besonders deutlich erkennen. Der halbverminderte<br />
Septakkord auf E sowie der Es-Dur-Dreiklang stehen dabei zu G° im selben<br />
Verhältnis wie der Ges-Dur-Dreiklang <strong>und</strong> der halbverminderte Septakkord auf G (vgl.<br />
Abbildung 60). Die Takte 12-13 werden in den Takten 14-15 um einen Halbton höher<br />
auf As° sequenziert <strong>und</strong> in Takt 16 nochmals auf A° <strong>und</strong> B° (diesmal in einer diminuierten<br />
Variante). Takt 17 führt schließlich über den verminderten Septakkord auf As/F<br />
wieder zurück zu G° (Abbildung 66). Somit bilden die Takte 12-18 eine weitere<br />
„Kadenz“ in G°, diesmal werden die „Nebentonarten“ jedoch in aufsteigenden Sek<strong>und</strong>enschritten<br />
erreicht: G° – As° – A° – B°/G° – As° – G°.<br />
Gº<br />
110
Abbildung 65: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 12; harmonische Reduktion.<br />
Abbildung 66: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 13-18 (Klavierauszug).<br />
In Takt 18 werden deutlich Bezüge zum Klangzentrum e-Moll hergestellt, das wie b-<br />
Moll in Takt 1 als Nebenklang zu G° aufgefasst werden kann <strong>und</strong> zu b-Moll im Tritonusverhältnis<br />
steht. Auch das Motiv des ersten Taktes wird hier erneut aufgenommen<br />
<strong>und</strong> verarbeitet. Die halbverminderten Septakkorde auf Cis (1. <strong>und</strong> 2. Viertel) <strong>und</strong> G (3.<br />
Viertel) sind wiederum als Nebenklänge in Bezug auf G° zu deuten.<br />
111
Die Takte 19-21 verarbeiten nochmals die Harmonik aus Takt 12 <strong>und</strong> leiten in Takt 21<br />
über G° in das „Gralsmotiv“ (Abbildung 67, T. 21-22) über, das zum ersten Mal im<br />
Vorspiel scheinbar eindeutige dur-moll-tonale Harmonik in das Zentrum der Aufmerksamkeit<br />
stellt. Doch auch die in der ursprünglichen Fassung reine Diatonik des Gralsmotivs<br />
ist hier in verminderte Septakkorden eingebettet. So löst sich die Phrase zum<br />
Ende von Takt 21 nicht wie erwartet nach Es-Dur auf, sondern wird in einen verminderten<br />
Septakkord auf E weitergeführt (T. 22, 1. Viertel). In Takt 23 wird die Sequenzierung<br />
des Motivs eine große Sept höher (D-Dur) erneut in einen verminderten Septakkord,<br />
dieses Mal auf H, „aufgelöst“. Die hörpsychologische Wirkung des Gralsmotivs<br />
im Kontext des verminderten Klangzentrums ist erstaunlich <strong>und</strong> wirkt hier fast wie ein<br />
Besucher eines fremden Sterns. Dies zeigt wie gefestigt die harmonischen Bezüge um<br />
den verminderten Septakkord an dieser Stelle bereits sind <strong>und</strong> dass sich die daraus<br />
resultierende musikalische Syntax offensichtlich auch im (Unter-) Bewusstsein des<br />
Hörers etabliert hat.<br />
Abbildung 67: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 21-24 (Klavierauszug).<br />
In den folgenden Takten (Abbildung 68, T. 22-37) wird hauptsächlich das Klangzentrum<br />
H° bzw. später As° auskomponiert. Auf großformaler Ebene erfüllt dieser<br />
durchführungsartige Abschnitt eine ähnliche Funktion wie ein Auftaktakkord in durmoll-tonaler<br />
Musik. Die bisherigen harmonischen Bezüge <strong>und</strong> Motive werden – hier<br />
bezogen auf H° – weiter entwickelt <strong>und</strong> variiert. Besonders auffällig ist an diesen<br />
112
Takten, dass die Bedeutung des „Nonvorhalts“ zum verminderten Septakkord nun in<br />
besonderer Weise akzentuiert wird (in der Abbildung durch vertikale Pfeile markiert).<br />
Diese Vorhalte entsprechen dem Vorhalt des halbverminderten Septakkords auf H in<br />
Takt 23 (bzw. T. 4, T. 7 <strong>und</strong> T. 10), mit dem Unterschied, dass der Vorhaltston nun im<br />
Akkord bereits enthalten ist. Die Sequenz des „Torenspruch-Motivs“ der Takte 24-27 in<br />
den Takten 28-31 führt dazu, dass in den Takten 23-33 „Nonvorhalte“ die strukturelle<br />
Basis bilden, welche den Auflösungen der halbverminderten Septakkorde HØ (T. 23), FØ<br />
(T. 29) <strong>und</strong> AbØ (T.30-33) entsprechen. Erst in Takt 34 löst sich diese harmonische<br />
Folge schließlich in einen verminderten Septakkord auf As auf. Aus dieser Sicht könnte<br />
man diesen Abschnitt als einen ausgedehnten Vorhalt zum verminderten Septakkord<br />
ansehen. Dies entspricht der Deutung, dass Wagner hier einen durchführungsartigen<br />
Abschnitt im Sinne eines Auftaktakkords komponiert hat, allerdings mit dem Unterschied,<br />
dass der Auftaktakkord sich zunächst nach As° <strong>und</strong> nicht nach G° – dem eigentlichen<br />
Klangzentrum des Vorspiels – auflöst (G° erscheint erst wieder in Takt 37).<br />
Zudem ist die Ähnlichkeit dieses Abschnitts zu den Takten 79-84 des Tristan-Vorspiels<br />
auffällig: Dort wurde der halbverminderte Septakkord als ein Auftaktakkord zum<br />
Zentralklang E 7 auskomponiert (vgl. Abbildung 51).<br />
Die beiden Septakkorde G 7 <strong>und</strong> B 7 in Takt 24 <strong>und</strong> Takt 28 stellen in Bezug auf H°<br />
wiederum jene Nebenklänge dar, die im Parsifal-Vorspiel schon zuvor mehrfach<br />
Verwendung fanden (vgl. z.B. T. 3, 6 <strong>und</strong> 9); der Klang Ces–Es–B in Takt 34 ist in<br />
entsprechender Weise aus Sicht von As° zu deuten. In Takt 35, kurz vor dem Erreichen<br />
des Zentralklangs G°, wird wiederum mit einer Auflösung eines halbverminderten<br />
Septakkords (EbØ) nach Bes/A° ausgewichen. Die Takte 35-37 wirken daher wie eine<br />
kleine Abschlusskadenz des Abschnitts (T. 24-37) auf As°. An der Notation des Fes-<br />
Dur-Dreiklangs in Takt 34 (As-Fes-Ces) erkennt man dabei recht deutlich, dass dieser<br />
Klang aus Sicht von As° zu interpretieren ist.<br />
113
Abbildung 68: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 23-37; harmonische Reduktion.<br />
Nach der Rückkehr zum Klangzentrum G° in Takt 37 folgt eine „diatonische“ Sequenz<br />
in kleinen Terzen, die diesen Zentralklang nochmals als „Haupttonart“ bestätigt<br />
(Abbildung 69, T. 39-43). Wagner setzt die harmonischen Beziehungen zwischen dem<br />
Dominantseptakkord <strong>und</strong> dem Moll-Dreiklang zum verminderten Septakkord hier in<br />
besonders plakativer Weise aus. Durch die chromatische Gegenbewegung der Stimmen<br />
(„Motiv der verdorrten Blumen“; Ende von Akt II) lösen sich die Dominantseptakkorde<br />
Es 7 (T. 39), C 7 (T. 41) <strong>und</strong> A 7 (T. 43) über die Molldreiklänge g-Moll, e-Moll <strong>und</strong> cis-<br />
Moll alle in den Tonvorrat des verminderten Septakkords auf G auf. Damit hat Wagner<br />
im Parsifal-Vorspiel (3. Akt) alle in Abbildung 56 <strong>und</strong> Abbildung 59 vorgestellten<br />
Möglichkeiten der Auflösung zum verminderten Septakkord zumindest einmal verwendet.<br />
Das Vorspiel endet schließlich in Takt 45 mit einem halbverminderten Septakkord<br />
auf Es. Im anschließenden Teil „Von dorther kam das Stöhnen“ löst Wagner<br />
diesen halbverminderten Septakkord – im Sinne des Tristan-Akkords – nach D-Dur auf<br />
<strong>und</strong> schließlich nach d-Moll.<br />
114
Abbildung 69: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 38-48; harmonische Reduktion.<br />
Wagner hat im Parsifal-Vorspiel zum dritten Akt die Konsequenzen aus dem Tristan-<br />
Vorspiel gezogen <strong>und</strong> den Zentralklang der Tonika fast vollständig durch einen (ursprünglich)<br />
dissonanten Akkordtyp – den verminderten Septakkord – ersetzt. Anders<br />
jedoch als in manchen Spätwerken Liszts schafft es Wagner im Pasifal-Vorspiel (3.<br />
Akt) durch den geschickten Einsatz von bekannten Akkordtypen – dem Dur- <strong>und</strong> Moll-<br />
Dreiklang, dem Dominantseptakkord <strong>und</strong> dem halbverminderten Septakkord – weiterhin<br />
das Gefühl dur-moll-tonaler Bezüge zu einem gewissen Grad aufrecht zu erhalten.<br />
Dennoch etabliert sich das Klangzentrum des verminderten Septakkords in einer Weise,<br />
dass Reste der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> (wie z.B. das Gralsmotiv in T. 21-22) hier wie<br />
Fremdkörper gegenüber der inhärenten musikalischen Syntax erscheinen.<br />
115
2.4 Arnold Schonbergs Frühwerk<br />
Arnold Schönberg war einer jener Komponisten, die in ihrer Musik die Dur-Moll-<br />
<strong>Tonalität</strong> an ihre Grenzen trieben <strong>und</strong> sich in letzter Konsequenz von ihr loslösten. 274<br />
Als Schönberg sich 1894 mit den Kompositionen Richard Wagners <strong>und</strong> Franz Liszts<br />
vertraut machte, hatte sich die harmonische Syntax der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> bereits<br />
zusehends von der Zentrierung auf einen einzelnen Zentralklang entfernt. Der hohe<br />
Grad chromatischer Stimmführung, die überschäumende Alterationstechnik sowie der<br />
Einsatz von symmetrischen Akkorden <strong>und</strong> äquidistanten Harmoniefolgen führten dazu,<br />
dass die Tonika nicht mehr im selben Maße die wichtige Funktion der formalen Gliederung<br />
ausüben konnte wie zuvor. Diese Entwicklung wurde auch durch die zunehmende<br />
Emanzipation der Dissonanz verstärkt. Dissonante Vielklänge, die nun auch als harmonische<br />
Ruhepunkte Verwendung fanden, stellten die Funktion der Tonika immer mehr<br />
in Frage. 275<br />
Schönberg war sich der Problematik bewusst <strong>und</strong> es hat den Anschein, dass er in seinen<br />
frühen Werken gezielt versuchte dieser Tendenz entgegenzuwirken. Die Tonika wurde<br />
von ihm in Form von Dur- <strong>und</strong> Moll-Dreiklängen in besonderer Weise akzentuiert, um<br />
so im formalen Verlauf „durch eine gewisse Einheitlichkeit eine gewisse Geschlossenheit<br />
zu erzielen“ 276 . Hans Redlich schrieb über Schönbergs <strong>Tonalität</strong>:<br />
Vergleicht man die Werke seiner ersten Periode mit gleichzeitig entstandenen Werken etwa von<br />
Strauß, Reger oder Pfitzner, so fällt vor allem bei Schönberg das starke Gravitieren zum F<strong>und</strong>amentalton,<br />
die ausgesprochene <strong>Tonalität</strong>sfarbe […] auf […]. […]<br />
Das Klangspiel in Es zu Anfang der Gurrelieder, das hartnäckige Zurückstreben zum d-Moll des<br />
Anfangs im d-Moll Quartett, das eigensinnige lydische E-Dur der Kammersymphonie welches<br />
das Werk wie eine Eisenklammer in allen Teilen zusammenhält – wo gibt es bei einem anderen<br />
Meister ähnliche Stellen, ja Werke von solcher tonaler Eindeutigkeit, von solcher Überbetonung<br />
der f<strong>und</strong>amentalen Gr<strong>und</strong>stimmung? 277<br />
274<br />
Dazu ist allerdings anzumerken, dass Schönberg in einigen seiner späten Werke, wie beispielsweise<br />
der zweiten Kammersymphonie op. 38 wieder zur <strong>Tonalität</strong> zurückkehrte <strong>und</strong> dabei einige Techniken<br />
der Zwölftonkomposition auch auf tonale Musik anwandte.<br />
275<br />
Vgl. auch Catherine Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies: the crystallization and redescovery of<br />
a style, Aldershot: Ashgate 2000, S. 1.<br />
276<br />
Schönberg, Harmonielehre, S. 27.<br />
277<br />
Hans Friedrich Redlich, Schönbergs <strong>Tonalität</strong>, in: Anrnold Schönberg <strong>und</strong> seine Orchesterwerke,<br />
Wien: Universal Edition 1927, S. 22-24, hier S. 22f.<br />
116
Doch konnte das gezielte Zentrieren auf den Zentralklang der Tonika den Tendenzen<br />
der neuen musikalischen Syntax offensichtlich nicht mehr länger entgegenwirken. Über<br />
sein zweites Streichquartett op. 10 (1907–1908), das als Wendepunkt den Übergang zur<br />
Atonalität kennzeichnet, schreibt Schönberg:<br />
Schon im ersten <strong>und</strong> zweiten Satz kommen Stellen vor, in denen die unabhängige Bewegung der<br />
einzelnen Stimmen keine Rücksicht darauf nimmt, ob deren Zusammentreffen in „anerkannten“<br />
Harmonien erfolgt. Dabei ist hier […] eine Tonart an allen Kreuzwegen der formalen Konstruktion<br />
deutlich ausgedrückt. Doch konnte die überwältigende Vielheit dissonanter Klänge nicht<br />
länger durch gelegentliche Anbringung von solchen tonalen Akkorden ausbalanciert werden, die<br />
man gewöhnlich zum Ausdruck einer Tonart verwendet. 278<br />
Im Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 (1899) finden sich erste Anzeichen dafür, dass<br />
es Schönberg immer schwerer fiel, die Tonika als Zentralklang zu festigen. Catherine<br />
Dale kommt zu dem Schluss, dass:<br />
[…] as in [the first chamber symphony] op. 9, Schoenberg was uncertain about the amount of<br />
dominant preparation necessary in order to create closure in his tonally expanded style. […]<br />
Moreover, the evasion of the dominant and, in particular, its substitution by whole-tone and<br />
quartal harmonies […] are anticipated in op. 4 […]. 279<br />
Die Harmonik des Streichsextetts ist gekennzeichnet durch Passagen dur-moll-tonaler<br />
Dezentrierung zugunsten dissonanter Klänge sowie der anschließenden Rückkehr zur<br />
Tonika als formalen Bezugspunkt. Die Takte 138-139, die Schönberg selbst als eine<br />
Stelle unbestimmbarer <strong>Tonalität</strong> bezeichnete (vgl. S. 42), 280 weisen beispielsweise<br />
Gemeinsamkeiten mit der Zentrierung auf einen verminderten Septakkord auf, die<br />
bereits in der Harmonik des Parsifal-Vorspiels zum dritten Akt besprochen wurde (vgl.<br />
S. 101-106). Abbildung 70 zeigt, dass die Harmonik hier aus Sicht der verminderten<br />
Septakkorde D° <strong>und</strong> F° als Nebennoten bzw. Vorhalte gedeutet werden kann (die<br />
Zahlen beziehen sich dabei wie zuvor bei den Parsifal-Analysen auf die Stufen des<br />
verminderten Septakkords; vgl. dazu Seite 102 sowie Abbildung 54). Insofern ist<br />
tatsächlich die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> dieser Takte unbestimmbar, da das Klangzentrum<br />
nicht einen Dur- oder Moll-Dreiklang, sondern einen verminderten Septakkord darstellt.<br />
278 Schönberg, Rückblick, S. 437.<br />
279 Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 6.<br />
280 Schönberg, Rückblick, S. 437.<br />
117
Abbildung 70: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140; Klavier-Reduktion.<br />
Auch der formale Zusammenhang wird in der Verklärten Nacht nicht mehr ausschließlich<br />
über die Tonika hergestellt. Statt dessen verwendet Schönberg einen<br />
Dominantseptnonenakkord mit der None im Bass, um die formale Gliederung hervorzuheben.<br />
Theodor W. Adorno schrieb:<br />
Dieser wechselnder Auflösungen fähige Akkord erscheint in der „Verklärten Nacht“ wiederholt,<br />
<strong>und</strong> zwar an entscheidenden Einschnitten der Form, absichtsvoll anorganisch. Er bewirkt<br />
Zäsuren im Idiom. Ähnlich verfährt dann Schönberg in der Ersten Kammersymphonie mit dem<br />
berühmt gewordenen, ebenfalls in der traditionellen Harmonielehre nicht verzeichneten Quartenakkord.<br />
Er wird zur Leitharmonie <strong>und</strong> markiert alle wichtigen Einschnitte <strong>und</strong> Verklammerungen<br />
der großen Form. 281<br />
Schönberg sah bekanntlich symmetrische Klänge wie den übermäßigen Dreiklang den<br />
Quartenakkord oder den sechsstimmigen Ganztonakkord, als Alterationen der Dominante<br />
an. In seiner Harmonielehre löste er diese Klänge konsequent in andere Klänge<br />
auf bzw. führte sie in andere Klänge weiter. Abbildung 71 zeigt die Auflösung des<br />
281 Theodor W. Adorno, Sprache <strong>und</strong> ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren, in: Theodor W.<br />
Adorno: Gesammelte Schriften Bd. 16 (Musikalische Schriften I-III), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978,<br />
S. 649-664, hier S. 655.<br />
118
Ganztonakkords (links) <strong>und</strong> des Quartenakkords (rechts); es fällt dabei auf, dass Schönberg<br />
den Quartenakkord hier nicht in Toniken, sondern in Dominanten auflöst.<br />
Abbildung 71: Auflösung des Ganztonakkords (links) <strong>und</strong> des Quartenakkords (rechts) nach<br />
Schönberg. 282<br />
Dennoch sah Schönberg die symmetrischen Akkorde durchaus auch als eigenständige<br />
Klänge an. 283 Dies wird z.B. an seiner „Auflösung“ eines Quartenakkords in einen<br />
Ganztonakkord besonders deutlich. Abbildung 72 zeigt, wie ein Quartenakkord durch<br />
die chromatische Stimmenbewegung von drei Stimmen zunächst in einen Ganztonakkord<br />
geführt wird <strong>und</strong> anschließend durch das Weiterführen der übrigen drei Stimmen<br />
ein Quartenakkord um eine kleine Sek<strong>und</strong> tiefer entsteht. Dieses Beispiel weist erneut<br />
auf die große Bedeutung der chromatischen Stimmführung für die spättonale Harmonik<br />
hin (vgl. auch Schönbergs Orchesterstück Farben op. 16/3; S. 59f).<br />
Abbildung 72: Weiterführen eines Quartenakkords in einen Ganztonakkord nach Schönberg. 284<br />
Der Dualismus zwischen Tonika <strong>und</strong> Dominante war in Schönbergs Musik besonders<br />
stark ausgeprägt. Schönberg ersetzte die Dominante sukzessive mit symmetrischen<br />
Klängen, die als „vagierende“ Akkorde in praktisch jede beliebige Tonart weitergeführt<br />
werden können. Dies führt zu einer Dezentrierung der dur-moll-tonalen Tonika in<br />
Passagen der Dominante einerseits <strong>und</strong> zu einer überbetonten Zentrierung der Tonika<br />
im Rahmen von Schlusskadenzen andererseits. In der symphonischen Dichtung für<br />
282 Schönberg, Harmonielehre, S. 469 u. 485.<br />
283 Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 12.<br />
284 Schönberg, Harmonielehre, S. 485.<br />
119
Orchester Pelleas <strong>und</strong> Melisande op. 5 (1902–1903) wurden Ganzton- <strong>und</strong> Quartenakkorde<br />
von Schönberg zum ersten Mal konsequent eingesetzt. 285 In seiner Harmonielehre<br />
stellt er eine Passage aus Pelleas <strong>und</strong> Melisande als Beispiel für Ganztonharmonik<br />
vor. 286 Durch die chromatische Gegenbewegung der Stimmen eines übermäßigen<br />
Dreiklangs entsteht auf jeder zweiten Viertel ein Ganztonakkord. Diese Technik ist in<br />
gewissem Sinne das Gegenteil von Richard Cohns „maximally smooth cycles“, da<br />
keiner der Akkorde einen gemeinsamen Akkordton besitzt. Es handelt sich also um<br />
einen „maximally rough cycle“, der auf jeder Viertel den gesamten Tonvorrat einer der<br />
beiden Ganztonskalen erklingen lässt. Die Ganztonskala bestimmt den Gesamtklang<br />
diese Stelle in einer Weise, dass sie selbst die Funktion eines Klangzentrums einnimmt.<br />
Abbildung 73: Schönberg, Pelleas <strong>und</strong> Melisande op. 5, 3 Takte vor Ziffer 32. 287<br />
Schönbergs erste Schaffensperiode kulminierte in der Kammersymphonie op. 9. Es ist<br />
bekannt, dass Quarten- <strong>und</strong> Ganztonakkorde in diesem Werk eine wesentliche Rolle<br />
einnehmen <strong>und</strong> dabei den dur-moll-tonalen Kontext immer wieder in Frage stellen. In<br />
der Kammersymphonie folgt Schönberg mit einer Sonatensatzform 288 einem klaren durmoll-tonalen<br />
Formschema <strong>und</strong> setzt diesem formale Abschnitte gegenüber, deren<br />
<strong>Klangzentren</strong> auf Quarten- <strong>und</strong> Ganzton-Harmonik basieren. Dieses Prinzip stellt<br />
Schönberg bereits in den einleitenden Takten (Abbildung 74) der Kammersymphonie<br />
vor <strong>und</strong> es bestimmt von da an die gesamte harmonische Syntax. Zuerst wird in den<br />
Takten 1-2 ein Quartenakkord gesetzt, der in Takt 3 in einen unvollständigen Ganztonakkord<br />
weitergeführt wird. In Takt 4 löst sich dieser in einen F-Dur-Dreiklang auf (aus<br />
Sicht von E-Dur die Tonart des neapolitanischen Sextakkords).<br />
285<br />
Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 8.<br />
286<br />
Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 470.<br />
287<br />
Ebda.<br />
288<br />
Vgl. Claus-Steffen Mahnkopf, Gestalt <strong>und</strong> Stil. Schönbergs Kammersymphonie <strong>und</strong> ihr Umfeld,<br />
Kassel: Bärenreiter 1994, S. 35-46.<br />
120
Abbildung 74: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 1-4; Klavierauszug.<br />
Anthony Payne schrieb, dass<br />
the fact that many such paragraphs end in tonal cadence should not lead us to overemphasize the<br />
structural importance of tonality. The absence of key-feeling prior to these terminal points sometimes<br />
lends them an arbitrary air, and in theory their punctuating function could be replaced by<br />
one of the many referential features, harmonic, melodic or rhythmic. 289<br />
Catherine Dale weist in weiterer Folge darauf hin, dass diese weiterweisenden Merkmale<br />
(„referential features“), bei denen es sich unter anderem um Quarten- <strong>und</strong> Ganztonakkorde<br />
handelt, in Kadenzen nicht nur die Dominante, sondern gelegentlich auch<br />
die Tonika ersetzen. Die harmonischen Fortschreitungen basieren dabei auf dem Prinzip<br />
der stufenweisen Stimmführung. 290<br />
Das Quartenmotiv der Takte 4-6 stellt eine Horizontalisierung des Quartenakkords dar<br />
<strong>und</strong> wird in Takt 6-7 wieder der Ganztonharmonik gegenübergestellt. Takt 8 leitet die<br />
Kadenzierung in E-Dur (T. 9-10) über einen verminderten Septakkord auf A ein, der<br />
hier als Dominante mit Sept im Bass zu deuten ist. Der Kontrast zwischen der dur-molltonalen<br />
Dezentrierung der Takte 5-9 <strong>und</strong> der anschließenden Betonung der Tonika im<br />
Rahmen der Kadenz (T. 9-10) ist hier sehr deutlich ausgeprägt <strong>und</strong> wird auch im weiteren<br />
Verlauf der Kammersymphonie immer wieder thematisiert.<br />
289 Anthony Payne, zit. nach Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 21.<br />
290 Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 21f.<br />
121
Abbildung 75: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 5-10; Klavierauszug.<br />
In weiterer Folge wird der Quartenakkord sowie das Quartenmotiv – vergleichbar mit<br />
dem Dominantseptnonenakkord der Verklärten Nacht – an Schlüsselpositionen eingesetzt,<br />
um die formale Gliederung der Sonatensatzform zu markieren (z.B. Anfang <strong>und</strong><br />
Ende der Durchführung [T. 278-280 u. T. 376-377] sowie Beginn der Coda [T. 573-<br />
581]). 291 Damit unterstützt das Klangzentrum des Quartenakkords auch die formbildende<br />
Funktion der dur-moll-tonalen Tonika. In der dritten Hälfte der Durchführung<br />
erfahren die <strong>Klangzentren</strong> des Quartenakkords <strong>und</strong> des übermäßigen Dreiklangs ihren<br />
Höhepunkt. Ab der vierten Viertel von Takt 334 dient eine Ganztonskala auf C als<br />
Klangzentrum, auf das die durchgeführten Themen bezogen werden. Der Höhepunkt<br />
dieser Stelle beginnt ab Takt 354: Durch gegenläufige übermäßige Dreiklänge klingt auf<br />
jeder Viertel ein anderer Ganztonakkord. In diese Ganztonharmonik wird zugleich auch<br />
das Quartenmotiv eingebettet, womit hier gewissermaßen eine Kombination der beiden<br />
<strong>Klangzentren</strong> wirksam ist. Zum Schluss bleibt nur noch die Quartenharmonik übrig, die<br />
ab Takt 364 in Form ausgehaltener Quartenakkorde diesen Abschnitt beendet<br />
(Abbildung 76).<br />
291 Vgl. Mahnkopf, Gestalt <strong>und</strong> Stil, S. 70f; Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 24f.<br />
122
Abbildung 76: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 364-368; Klavierauszug. 292<br />
In Schönbergs erster Schaffensperiode prallen die Gegensätze zwischen der dur-molltonalen<br />
Tonika <strong>und</strong> symmetrischen <strong>Klangzentren</strong> wie dem Ganzton- <strong>und</strong> dem Quartenakkord<br />
direkt aufeinander. Schönberg zog daraus die Konsequenz, die Tonika als<br />
Klangzentrum fallen zu lassen <strong>und</strong> entschloss sich während der atonalen Phase andere<br />
Klänge als harmonische Bezugspunkte zu verwenden. Dennoch sind die Kompositionstechniken,<br />
die Schönberg später anwandte, durchaus mit den Techniken seiner ersten<br />
Schaffensperiode vergleichbar. So setzt Schönberg auch weiterhin <strong>Klangzentren</strong> ein, die<br />
als formbildende Ruhepunkte dienen, wie z.B. im Klavierstück op. 19/6 oder im<br />
Orchesterstück Farben op. 16/3. Chromatische <strong>und</strong> stufenweise Stimmführungstechniken<br />
werden dabei häufig mit der Technik des Klangzentrums kombiniert <strong>und</strong> führen<br />
zu Klangprozessen, die das Klangzentrum transformieren <strong>und</strong> auch die formale Struktur<br />
der Werke mit beeinflussen.<br />
292 Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 25.<br />
123
SCHLUSSWORT<br />
<strong>Tonalität</strong> – oder vielmehr jene Eigenschaft, die wir mit diesem Begriff assoziieren – ist<br />
ein komplexer <strong>und</strong> vielschichtiger Gedankenkomplex, der sich auf allen musikalischen<br />
Parametern entfaltet. Die Vorstellung eine „allgemein gültige Norm des Begriffs<br />
<strong>Tonalität</strong> festsetzten zu wollen“ wäre utopisch. Viele Aspekte, die den <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />
begleiten, wie z.B. die Bedeutung metrischer <strong>und</strong> rhythmischer Strukturen, die Instrumentationstechnik<br />
oder auch die Interpretation, mussten in der vorliegenden Arbeit<br />
weitgehend unberücksichtigt blieben, zeugen jedoch von dem Beziehungsreichtum, der<br />
den Begriff begleiten kann. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass bestimmte Konstanten<br />
für einen sinnhaften <strong>Tonalität</strong>sbegriff notwendig sind, da der Begriff sonst zu einer<br />
Beliebigkeit tendieren würde, die seiner Bedeutung nicht gerecht wird. Ohne eine<br />
differenzierte Zentrierung auf ein oder mehrere <strong>Klangzentren</strong>, welche den Klängen eine<br />
relative Bedeutsamkeit <strong>und</strong> einzigartige Funktion im harmonischen Verlauf zugesteht,<br />
wird nicht nur der Begriff <strong>Tonalität</strong> bedeutungslos, sondern auch der Begriff des Klangzentrums<br />
selbst. Ein Klangzentrum kann für sich alleine nicht existieren; der Begriff<br />
„Zentrum“ beinhaltet zwangsläufig, dass andere Klänge vorhanden sein müssen die im<br />
Verhältnis zu diesem eine „geringere“ – oder vielmehr andere Bedeutung einnehmen.<br />
Es versteht sich von selbst, dass die Klänge dabei unterschiedliche Funktionen einnehmen<br />
<strong>und</strong> ihre relative Bedeutung deshalb immer abhängig vom konkreten musikalischen<br />
Kontext neu hinterfragt werden muss. Streng genommen existiert zu keinem<br />
Zeitpunkt ein einzelner Zentralklang, auf den sich alle anderen Klänge beziehen.<br />
Stattdessen bestehen mehrere potenzielle Zentralklänge, deren relative Bedeutung<br />
ständig von anderen Klängen in Frage gestellt wird. Abhängig von der harmonischen<br />
Syntax entscheidet sich immer wieder aufs Neue, welche Klänge wir als zentral wahrnehmen<br />
bzw. welche Bedeutung wir ihnen beimessen. Auch die Stimmführung der<br />
Akkordverbindungen darf in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden.<br />
Stimmführung <strong>und</strong> Zentrierung gehen in der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> Hand in Hand <strong>und</strong><br />
bedingen sich gegenseitig: Die zunehmende chromatische Stimmführung in der zweiten<br />
Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts führte zu Zusammenklängen, welche die dur-moll-tonale<br />
Syntax streckenweise außer Kraft setzte. Umgekehrt führte die zunehmende Zentrierung<br />
auf symmetrische Akkorde sowie auf Harmoniefolgen in großen <strong>und</strong> kleinen Terzen zu<br />
124
einer vorwiegend chromatischen Stimmführung wie beispielsweise den „maximally<br />
smooth cycles“ Richard Cohns.<br />
Unter diesen Gesichtspunkten ist es notwendig, das Wesen des Zentralklangs dur-molltonaler<br />
Musik neu zu bewerten. Der Zentralklang ist ein Klang, der sich durch seine<br />
direkten Beziehungen zu anderen Klängen, seine formbildende Wirkung oder allgemein<br />
seine harmonische Funktion in besonderer Weise auszeichnet. Dabei ist festzuhalten,<br />
dass der Akkordtyp des Zentralklangs sich nicht alleine auf Dur- <strong>und</strong> Molldreiklänge<br />
einschränken lässt, sondern auch andere Formen annehmen kann. Wir können zwischen<br />
örtlichen <strong>Klangzentren</strong>, die sich durch die unmittelbare Stimmführung der Akkordfolgen<br />
ergeben, <strong>und</strong> übergeordneten <strong>Klangzentren</strong>, die als entfernte Bezugspunkte eine<br />
Bedeutung einnehmen, unterscheiden. Allerdings können, abhängig vom Untersuchungsgegenstand,<br />
durchaus unterschiedliche Klangbeziehungen <strong>und</strong> <strong>Klangzentren</strong> in<br />
einem Werk wirksam sein. Wenn wir die Kompositionstechnik untersuchen, wäre es<br />
denkbar auch ein „ideelles“ Klangzentrum anzunehmen: zum Beispiel einen Klang, der<br />
als kompositorischer Ausgangspunkt alle weiteren Klänge generiert, jedoch selbst gar<br />
nicht zum Einsatz kommt. Ob dieser Klang auch als Klangzentrum wahrgenommen<br />
wird, ist in diesem Zusammenhang aus kompositionstechnischer Sicht irrelevant. Aus<br />
hörpsychologischer Sicht sind dagegen nur jene <strong>Klangzentren</strong> von Interesse, die auch<br />
tatsächlich als solche wahrgenommen werden; „wahrgenommen“ im eigentlichen Sinn<br />
des Wortes: nämlich etwas als wahr bzw. real annehmen. Auch in diesem Fall muss das<br />
Klangzentrum nicht unbedingt als reales akustisches Ereignis existieren, sondern<br />
lediglich in der Vorstellung des Rezipienten.<br />
Nachdem ein Klang als Singularität kein Klangzentrum darstellt, sondern erst durch das<br />
Vorhandensein anderer Akkorde als solches erkannt wird, ist zu keinem Zeitpunkt nur<br />
ein einzelnes Klangzentrum von Bedeutung. Eine Tonika muss zumindest durch das<br />
Vorhandensein der Dominante bestätigt werden, womit automatisch auch die Dominante<br />
als potenzielles Klangzentrum an Bedeutung gewinnt. So entsteht eine Hierarchie<br />
von Klängen, die abhängig von der harmonischen Syntax unterschiedliche <strong>Klangzentren</strong><br />
in unterschiedlicher Weise akzentuiert. Diese Hierarchie kann im einfachsten Fall eine<br />
Form annehmen, wie sie zum Beispiel von Moritz Hauptmann postuliert wurde: die<br />
Tonika steht im Zentrum, während die Dominant- <strong>und</strong> Subdominantregionen lediglich<br />
als untergeordnete <strong>Klangzentren</strong> die Tonikaregion bestätigen. Chromatische Stimm-<br />
125
führung sowie „vagierende“ <strong>und</strong> äquidistante Akkorde führen jedoch zwangsläufig zu<br />
einer harmonischen Syntax, die diese Hierarchie aufbricht <strong>und</strong> anderen <strong>Klangzentren</strong><br />
eine größere Bedeutung zukommen lässt. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass<br />
mehrere <strong>Klangzentren</strong> eine annähernd gleiche Bedeutung erlangen. Im Spezialfall<br />
könnte dies theoretisch soweit führen, dass alle Klänge die gleiche Bedeutung haben<br />
<strong>und</strong> eine Zentrierung der Harmonik – <strong>und</strong> damit ihre harmonische Gestalt – nicht mehr<br />
gegeben ist; der Begriff des Klangzentrums würde in diesem Fall bedeutungslos<br />
werden. Ob jedoch eine Harmonik, in der jeder Klang dieselbe Bedeutung bzw. Funktion<br />
hat, auch praktisch umgesetzt werden kann, ist zu bezweifeln.<br />
So gesehen existiert die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> nicht. Statt dessen gibt es selbst in einzelnen<br />
Werken eine Vielzahl unterschiedlicher <strong>Tonalität</strong>en, die sich aus der relativen<br />
Bedeutung der vorhandenen Klangbeziehungen ergeben. Diese Klangbeziehungen<br />
entstehen dabei sowohl in der direkten Aufeinanderfolge der einzelnen Klänge als auch<br />
in ihrer Bezogenheit auf ein oder mehrere <strong>Klangzentren</strong>. Es ist jedoch möglich bestimmte<br />
Tendenzen in der harmonischen Hierarchie aufzudecken, um so Gemeinsamkeiten<br />
<strong>und</strong> Unterschiede der zugr<strong>und</strong>e liegenden <strong>Tonalität</strong>en zu kommunizieren.<br />
Die Frage in wie weit der Begriff des Klangzentrums in der Musik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
als ein Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien gelten kann ist nicht nur eine Frage<br />
der Terminologie, sondern auch unseres historischen Selbstverständnisses <strong>und</strong> unserer<br />
Wahrnehmung. Es gilt zu beantworten, welche musikalischen Parameter tatsächlich mit<br />
der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> „verloren“ gegangen sind <strong>und</strong> welche Parameter lediglich eine<br />
Entwicklung durchgemacht haben. Schließlich gilt es zu beantworten ob wir komplexe<br />
<strong>Klangzentren</strong> der neuen Musik wie dissonante Vielklänge in ähnlicher Weise als Ruhepunkte<br />
akzeptieren können wie die Tonika der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong>. Dass auch in atonaler<br />
<strong>und</strong> post-tonaler Musik <strong>Klangzentren</strong> als formbildende Kompositionstechniken<br />
Verwendung fanden, wurde an den Beispielen von Schönberg <strong>und</strong> Skrjabin gezeigt. Ob<br />
diese Klänge jedoch auch hörpsychologisch mit der Wirkung einer Tonika verglichen<br />
werden können, bleibt vorerst offen. Sicher scheint allerdings bereits zu sein, dass die<br />
Antwort auf diese Frage nicht ausschließlich von unserer Hörphysiologie abhängt,<br />
sondern auch von unserem Gedächtnis, unserer musikalischen Erfahrung <strong>und</strong> unserem<br />
sozialen Umfeld. Ob Zwölftonmusik eine <strong>Tonalität</strong> ausbildet, kann im Allgemeinen<br />
nicht beantwortet, sondern müsste am konkreten Beispiel immer neu hinterfragt werden.<br />
126
Es ist durchaus möglich, gemäß „den Regeln“ der Dodekaphonie zu komponieren <strong>und</strong><br />
dabei den Eindruck spätromantischer Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> zu erzeugen. Ebenso ist es<br />
aber auch möglich, eine zwölftönige Passage so zu konzipieren, dass sie den Anschein<br />
höchstmöglicher Bezuglosigkeit – <strong>und</strong> damit Bedeutungslosigkeit – der entstandenen<br />
Klänge erweckt.<br />
Richard Cohn schrieb 1999 in Bezug auf ein Zitat – „Schubert’s tonality is as wonderful<br />
as star clusters“ 293 – von Donald Francis Tovey:<br />
The traditional metaphorical source for tonal relations is the solar system, where positions are<br />
determined relative to a central unifying element. A star cluster evokes a network of elements<br />
and relations, none of which hold prior privileged status. These two contrasting images of cosmic<br />
organization provide a lens through which to compare two conceptions of tonal organization<br />
in Schubert’s music. 294<br />
Sternenhaufen <strong>und</strong> Sonnensysteme entstehen – um bei dieser Analogie zu bleiben –<br />
aufgr<strong>und</strong> desselben Prinzips: der Gravitation. Die Schönheit eines Sternenhaufens<br />
ergibt sich aus seiner internen Struktur; die Sterne des Haufens tragen dabei, abhängig<br />
von ihrer Masse, in unterschiedlichem Maße zu seiner einzigartigen Gestalt bei. Gerade<br />
die Zentrierung – das Ausformen von differenzierten Strukturen – macht das Wesen<br />
eines Sternenhaufens aus. Ohne die Gravitation würde er sich in eine homogene <strong>und</strong><br />
charakterlose Masse von Molekülen auflösen.<br />
293 Donald Francis Toveys, zit. nach: Richard Cohn, As Wonderful as Star Clusters: Instruments for<br />
Gazing at Tonality in Schubert, in: 19th-Century Music (1999/22,3), S. 213-232, hier S. 213.<br />
294 Cohn, As Wonderful as Star Clusters, S. 213.<br />
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Wissenschaftliche Begründung der Musik, in: Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen<br />
auf dem Gebiet d. Naturwissenschaft (Bd. 25 oder neue Folge Bd. 13), Leipzig:<br />
Gerhardt & Reisland 1863, S. 481-487.<br />
134
ABBILDUNGSVERZEICHNIS<br />
Abbildung 1: Auflösung Dominante → Tonika. ........................................................ 13<br />
Abbildung 2: Auflösung V 7 → V 6 .............................................................................. 13<br />
Abbildung 3: Auflösung eines verminderten Septakkords nach Fétis. ...................... 14<br />
Abbildung 4: C-Dur Kadenz Gottfried Webers.......................................................... 18<br />
Abbildung 5: Verwandtschaftsreihe der Tonarten nach Siegfried Wilhelm Dehn..... 23<br />
Abbildung 6: Schema der Tonartverwandtschaften nach Siegfried Wilhelm Dehn... 24<br />
Abbildung 7: Schema der Tonartverwandtschaften nach Gottfried Weber................ 25<br />
Abbildung 8: Hauptmanns dialektischer Tonartbegriff.............................................. 28<br />
Abbildung 9: Dialektische Tonartbeziehungen Hauptmanns. .................................... 29<br />
Abbildung 10: Oettingens Tonnetz............................................................................... 32<br />
Abbildung 11: Riemanns Tonnetz. ............................................................................... 36<br />
Abbildung 12: Schenkers Ursatz-Varianten; Terzzug, Quintzug, Oktavzug................ 37<br />
Abbildung 13: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140..................................... 43<br />
Abbildung 14: Alternierende Terzenskala.................................................................... 49<br />
Abbildung 15: Transformations-Graphen; Beethovens Sonate op. 57.......................... 50<br />
Abbildung 16: Beziehungen der unterschiedlichen Transformationen nach Hyer....... 51<br />
Abbildung 17: Cohns „maximally smooth cycles“....................................................... 52<br />
Abbildung 18: Schubert, Klaviertrio in Es-Dur op. 100; T. 586-598........................... 52<br />
Abbildung 19: „Dancing Cubes“. ................................................................................. 53<br />
Abbildung 20: „Power Towers“. .................................................................................. 54<br />
Abbildung 21: Akkordfolge in C-Dur funktionstheoretisch gedeutet. ......................... 54<br />
Abbildung 22: Akkordfolge in C-Dur im Sinne der Neo-Riemann-Theorie gedeutet. 55<br />
Abbildung 23: Zentralklang aus Schönberg, Klavierstück op. 19/6............................. 57<br />
Abbildung 24: Schönberg, Klavierstück op. 19/6. ....................................................... 58<br />
Abbildung 25: Webern, 5 Lieder op. 4/1, Takte 1-5..................................................... 59<br />
Abbildung 26: Schönbergs Orchesterstück Farben op. 16/3; T. 1-9............................ 60<br />
Abbildung 27: Skrjabins Prometheus-Akkord auf A. .................................................. 61<br />
Abbildung 28: Prometheus, Takte 1-10; harmonische Reduktion. .............................. 61<br />
Abbildung 29: a) Die Skala des Prometheus-Akkords,<br />
b) die mixolydische Skala mit erhöhter Quart...................................... 62<br />
Abbildung 30: Akkorde in Quarten- <strong>und</strong> Terzschichtung über der mixolydischen<br />
Skala mit erhöhter Quart........................................................................63<br />
Abbildung 31: Dur-moll-tonale Deutung des Prometheus-Akkords............................ 63<br />
Abbildung 32: Schubert, Klaviertrio in Es- Dur op. 100, T. 586-598.......................... 73<br />
Abbildung 33: J. S. Bach, Präludium in C-Dur BWV 846, T. 22-24. .......................... 77<br />
Abbildung 34: Weitzmanns Zwölftonmatrix................................................................ 78<br />
Abbildung 35: Beethoven, Sonate op. 28 „Pastorale“, T. 240-261. ............................. 79<br />
Abbildung 36: Beethoven, Sonate op. 13 „Pathétique“, T. 173-189............................ 80<br />
Abbildung 37: Beethoven, Streichquartett Nr. 9 op. 59/3, T. 1-44. ............................. 84<br />
Abbildung 38: Beethoven Variation Nr. 20 aus Variationen op. 120........................... 85<br />
Abbildung 39: Liszt, La lugubre gondola I, Takte 1-22............................................... 87<br />
Abbildung 40: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 1-11. ...................................................... 89<br />
Abbildung 41: Tristan-Vorspiel, T. 10, gedeutet als Tonika mit übermäßiger Quint. . 90<br />
Abbildung 42: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 100-111. ................................................ 91<br />
Abbildung 43: Harmonische Zusammenhänge zwischen E-Dur <strong>und</strong> f-Moll. .............. 93<br />
Abbildung 44: Liszt, Unstern!, Takte 21-25. ............................................................... 93<br />
135
Abbildung 45: Harmonische Zusammenhänge zwischen C-Dur <strong>und</strong> E-Dur. .............. 94<br />
Abbildung 46: Tristan-Akkord aus Sicht von a-Moll <strong>und</strong> aus Sicht von E-Dur. ......... 94<br />
Abbildung 47: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 5-8; Verbindung zwischen E 7 <strong>und</strong><br />
dem halbverminderten Septakkord auf Gis. ......................................... 95<br />
Abbildung 48: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 17-29. .................................................... 96<br />
Abbildung 49: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 32-42. .................................................... 97<br />
Abbildung 50: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 55-63. .................................................... 98<br />
Abbildung 51: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 80-84. .................................................... 99<br />
Abbildung 52: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4. ................................. 101<br />
Abbildung 53: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; harm. Reduktion. .... 101<br />
Abbildung 54: Die Stufen des verminderten Septakkords.......................................... 103<br />
Abbildung 55: Oktatonische Skalen als Durchgänge eines verm. Septakkords......... 103<br />
Abbildung 56: Chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord...................... 104<br />
Abbildung 57: Tristan-Auflösung über den verminderten Septakkord...................... 104<br />
Abbildung 58: J. S. Bach, Chrom. Fantasie <strong>und</strong> Fuge BWV 903, T. 32-35............... 105<br />
Abbildung 59: Doppelte chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord....... 105<br />
Abbildung 60: Harmonische Beziehungen des verminderten Septakkords auf G...... 106<br />
Abbildung 61: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; bezogen auf den<br />
verminderten Septakkord.................................................................... 107<br />
Abbildung 62: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; Graph-Darstellung<br />
des harmonischen Prozesses............................................................... 108<br />
Abbildung 63: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; harm. Reduktion. .. 109<br />
Abbildung 64: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; Graph-Darstellung.110<br />
Abbildung 65: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 12; harm. Reduktion....... 111<br />
Abbildung 66: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 13-18 (Klavierauszug). .. 111<br />
Abbildung 67: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 21-24 (Klavierauszug). .. 112<br />
Abbildung 68: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 23-37; harm. Reduktion. 114<br />
Abbildung 69: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 38-48; harm. Reduktion. 115<br />
Abbildung 70: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140; Klavier-Reduktion... 118<br />
Abbildung 71: Auflösung des Ganztonakkords <strong>und</strong> des Quartenakkords.................. 119<br />
Abbildung 72: Weiterführen eines Quartenakkords in einen Ganztonakkord............ 119<br />
Abbildung 73: Schönberg, Pelleas <strong>und</strong> Melisande op. 5, 3 Takte vor Ziffer 32........ 120<br />
Abbildung 74: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 1-4; Klavierauszug. ........... 121<br />
Abbildung 75: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 5-10; Klavierauszug. ......... 122<br />
Abbildung 76: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 364-368; Klavierauszug. ... 123<br />
Abbildung 77: Tabelle der Tonverwandtschaften nach Gottfried Weber................... 139<br />
136
ANHANG<br />
a) Weiterführende Literatur<br />
BAKER, James M.: Scriabin's Implicit Tonality, in: Music Theory Spectrum (Bd. 2),<br />
1980, S. 1-18.<br />
BAUER, Hans-Joachim: Wagners „Parsifal“. Kriterien der Kompositionstechnik,<br />
München-Salzburg: Emil Katzbichler 1977.<br />
BRINER, Andres: A New Comment on Tonality, in: Journal of Music Theory (Bd. 5,1),<br />
1961, S. 109-112.<br />
BROWN, Matthew, DEMPSTER, Douglas, HEADLAM, Dave: The #IV(bV) Hypo-<br />
thesis: Testing the Limits of Schenker's Theory of Tonality, in: Music Theory<br />
Spectrum (Bd. 19, 2), 1997, S. 155-183.<br />
CHERLIN, Michael: Schoenberg and Das Unheimliche: Spectres of Tonality, in: The<br />
Journal of Musicology (Bd. 11, 3), 1993, S. 357-373.<br />
CLAMPITT, David: Alternative Interpretations of Some Measures from "Parsifal", in:<br />
Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 321-334.<br />
COLLIN, Mason: Versuch einer Analyse. <strong>Tonalität</strong>, Symmetrie <strong>und</strong> latentes Reihendenken<br />
in Bartóks viertem Streichquartett (1957), in: Zur Musikalischen Analyse,<br />
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, S. 241-260.<br />
DAHLHAUS Carl:<br />
― <strong>Tonalität</strong> – Struktur <strong>und</strong> Prozeß, in: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften in 10<br />
Bänden Bd. 2 (Allgemeine Theorie der Musik II), Laaber: Laaber 2001, S. 393-401.<br />
― Tristan-Harmonik <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong>, in: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften in 10<br />
Bänden Bd. 2 (19. Jahrh<strong>und</strong>ert IV. Richard Wagner – Texte zum Musiktheater),<br />
Laaber: Laaber 2004, S. 435-442.<br />
― Über den Begriff der tonalen Funktion, in: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften in<br />
10 Bänden Bd. 2 (Allgemeine Theorie der Musik II), Laaber: Laaber 2001, S. 187-<br />
196.<br />
FORKEL, Johann Nikolaus: Musikalisch-kritische Bibliothek Bd. 3, Gotha: Carl<br />
Wilhelm Ettinger 1779.<br />
GERLACH, Reinhard: Mystik <strong>und</strong> Klangmagie in Anton von Weberns hybrider <strong>Tonalität</strong>.<br />
Eine Jugendkrise im Spiegel von Musik <strong>und</strong> Dichtung der Jahrh<strong>und</strong>ertwende, in:<br />
Archiv für Musikwissenschaft (Bd. 33,1), 1976, S. 1-27.<br />
137
HINRICHSEN, Hans-Joachim: "Eines der dankbarsten Mittel zur Erzielung musikalischer<br />
Formwirkung". Zur Funktion der <strong>Tonalität</strong> im Frühwerk Arnold Schönbergs,<br />
in: Archiv für Musikwissenschaft (Bd. 57,4), 2000, S. 340-361.<br />
KUPKOVIC, Ladislav: The Role of Tonality in Contemporary and 'Up-to-Date'<br />
Composition, in: Tempo, New Series (Bd. 135), 1980, S. 15-19.<br />
LORENZ, Alfred: Der musikalische Aufbau von Richard Wagners „Parsifal“, Tutzing:<br />
Hans Schneider 1966.<br />
LOWINSKY, Edward E.: Tonality and Atonality, in: Music & Letters (Bd. 43,3), 1962,<br />
S. 295-298.<br />
MARK, Christopher: Contextually Transformed Tonality in Britten, in: Music Analysis<br />
(Bd. 4,3), 1985, S. 265-287.<br />
MARX, Adolf Bernhard: Die Lehre von der musikalischen Komposition, praktisch<br />
theoretisch Bd. 4 [1847], neu bearbeitet von Hugo Riemann, Leipzig: Breitkopf <strong>und</strong><br />
Härtel 5 1888.<br />
MCCRELESS, Patrick: Ernst Kurth and the Analysis of the Chromatic Music of the<br />
Late Nineteenth Century, Music Theory Spectrum (Bd. 5), 1983, S. 56-75.<br />
NEMECEK, Robert: Untersuchungen zum frühen Klavierschaffen von Piere Boulez,<br />
Kassel: Gustav Bosse 1998.<br />
PERSCHMANN, Wolfgang: Richard Wagner Parsifal. Schwanenschluß - Wissenskuß -<br />
glühende Befreiung, Graz: Richard-Wagner-Gesellschaft 1991.<br />
RIEMANN, Hugo:<br />
― Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, Leipzig: Max Hesses 1923.<br />
― Geschichte der <strong>Musiktheorie</strong> im IX. - XIX. Jahrh<strong>und</strong>ert, Hildesheim: Georg Olms<br />
1964.<br />
SCHMITT, Theo: Zur Entstehung der harmonischen <strong>Tonalität</strong>, in: Archiv für Musikwissenschaft<br />
(Bd. 41,1), 1984, S. 27-34.<br />
SCHÖNBERG, Arnold: Stil <strong>und</strong> Gedanke, Frankfurt a. M. : Fischer Taschenbuch 1992.<br />
STUMPF, Carl, Tonpsychologie [1883] (2 Bände), Leipzig: Hirzel 1965.<br />
TOVEY, Donald F.: Tonality, in: Music & Letters, (Bd. 9,4), 1928, S. 341-363.<br />
VON DER NÜLL, Edwin: Moderne Harmonik, Leipzig: Fr. Kistner 1932.<br />
WHITE, Harry: The Holy Commandments of Tonality, in: The Journal of Musicology<br />
(Bd. 9,2), 1991, S. 254-268.<br />
WIENPAHL, Robert W.: English Theorists and Evolving Tonality, in: Music & Letters<br />
(Bd. 36,4), 1955, S. 377-393.<br />
138
) Sonstiges<br />
Abbildung 77: Tabelle der Tonverwandtschaften nach Gottfried Weber. 295<br />
295 Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 86<br />
139