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Gastkommentar<br />
Dieses Jahr wurde die Europäische<br />
Union um zwei neue Länder, Rumänien<br />
und Bulgarien, erweitert. „Europas<br />
Familie“, zu der Tschechien seit<br />
bereits drei Jahren gehört, ist auf<br />
27 Staaten angewachsen. Der größte<br />
Teil des europäischen Kontinents<br />
wird einig, sozioökonomische Indizes<br />
werden gleicher. Von Nutzen wäre es<br />
doch, wenn die Nationen ihre Identität<br />
nicht einbüßten.<br />
Die Anfänge des tschechischen<br />
Staates fallen ins 9. Jahrhundert. In<br />
den über tausend Jahren ihres Bestehens<br />
pflegte die tschechische Gesellschaft<br />
reiche kulturelle Traditionen<br />
und trug zur Entwicklung der europäischen<br />
Zivilisation bei. Damit es auch in<br />
der Zukunft weiter geht, muß man sich<br />
hierzulande der Verbundenheit des<br />
Landes mit Europa bewußt werden,<br />
nationale Traditionen achten und ihre<br />
Weiterpflege üben. Eine unschätzbare<br />
Hilfe leisten den Menschen in Tschechien<br />
beinahe 2 Millionen Landsleute,<br />
die in der Welt verstreut leben. Bemerkenswert<br />
ist es, wie tiefe Bindungen<br />
zur tschechischen Heimat die<br />
Tschechen im Ausland hegen, obwohl<br />
manche von ihnen sie nur aus Erinnerungen<br />
ihrer Vorfahren kennen. Was<br />
die Pflege der tschechischen Traditionen<br />
betrifft, sind unsere Landsleute im<br />
Ausland für uns ein großes Beispiel.<br />
Tschechien hat mit reichen Traditionen<br />
aufzuwarten. Zu ihnen zählt auch Leistungen<br />
tschechischer Persönlichkeiten,<br />
deren Namen weltweit berühmt wurden.<br />
Obwohl Tschechien ein kleines Land<br />
ist, hat es viele alte und touristisch<br />
attraktive Sehenswürdigkeiten vorzuweisen.<br />
Zwölf bedeutende tschechische<br />
Sehenswürdigkeiten wurden in die Weltkultur-<br />
und naturerbeliste der UNESCO<br />
aufgenommen, zwölf Gebiete wurden zu<br />
UNESCO-Biosphärenreservaten erklärt.<br />
Diese Denkmäler und Reservate<br />
stellen nur einen Bruchteil des kulturellen<br />
und Naturreichtums Tschechiens<br />
dar. Auch dieses Erbe bildet einen Teil<br />
der tschechischen Traditionen. Dazu gehören<br />
aber auch die reiche tschechische<br />
Historie, Kunst-, Literatur- und<br />
Theatergeschichte. Auf das tschechische<br />
Nationalerbe kann man mit Fug<br />
und Recht stolz sein. Es ist unsere<br />
Pflicht, es zu erhalten und zu pflegen,<br />
so daß wir zur Bereicherung des weltweiten<br />
Erbes einen Beitrag leisten.<br />
Tomáš Pojar<br />
Erster Vizeaußenminister und Vizeaußenminister<br />
für Bilaterale Beziehungen<br />
Inhalt<br />
Rückkehr auf die Herrschaft<br />
Interview mit Frau Bettina<br />
Lobkowicz, Schloßfrau von Mělník<br />
Seite 4 – 7<br />
Wappen in den Ländern<br />
der Böhmischen Krone<br />
Über Wappen als Erbe des Adels,<br />
die Entwicklung städtischer Wappen<br />
und die Staatssymbolik<br />
Seite 8 – 11<br />
Das kleine Welttheater<br />
In den Kulissen des ostböhmischen<br />
Ortes Kuks findet ein Theaterfestival<br />
ohnegleichen statt.<br />
Seite 12 – 15<br />
Ein Garten Europas<br />
Die Eisgrub-Feldsberger Anlage ist<br />
ein vollkommen erhaltener Garten<br />
aus der Epoche der Aufklärung.<br />
Seite 16 – 19<br />
Galerie<br />
Romantisches Erbe – Burgruinen<br />
hierzulande<br />
Seite 20 – 21<br />
KHM<br />
Der zerrissene romantische Dichter<br />
Karel Hynek Mácha provoziert mit<br />
seiner poetischen Botschaft bis heute.<br />
Seite 22 – 25<br />
Imagination und Faszination<br />
Photograph Josef Sudek – die<br />
schönsten Photos von Tschechiens<br />
idyllischer wie Industrielandschaft<br />
Seite 26 – 29<br />
Genius des tschechischen Barock<br />
Jan Blažej Santini-Aichel<br />
amalgamierte gotische und<br />
barocke Baukunst<br />
Seite 30 – 33<br />
Puzzle Tschechien<br />
Neuigkeiten schwarz auf weiß<br />
und – in Farbe<br />
Seite 34 – 35<br />
Comenius von Rembrand<br />
van Rijn<br />
Bild aus einer florentinischen<br />
Galerie wurde als Portrait des<br />
namhaften Pädagogen bestimmt.<br />
Seite 36 – 38<br />
Die Zeitschrift Im Herzen Europas erscheint sechsmal jährlich<br />
und vermittelt auf ihren Seiten ein Bild über das Leben in<br />
der Tschechischen Republik. Die Beiträge präsentieren die<br />
Ansichten ihrer Autoren und müssen nicht mit den offiziellen<br />
Standpunkten der tschechischen Regierung übereinstimmen.<br />
Der Nachdruck der publizierten Materialien ist nur mit<br />
Zustimmung des Herausgebers gestattet. Abonnementbestellungen<br />
sind an die Redaktion der Zeitschrift zu richten.<br />
Herausgegeben vom Verlag Theo in Zusammenarbeit mit<br />
dem Außenministerium der Tschechischen Republik.<br />
Anschrift der Redaktion:<br />
J. Poppera 18, 530 06 Pardubice, Česká republika<br />
Chefredakteur: Pavel Šmíd<br />
Graphische Redaktion: Karel Nedvěd<br />
Vorsitzender des Redaktionsbeirats: Zuzana Opletalová,<br />
Leiter der Pressestelle des Außenministeriums der ČR<br />
und Pressesprecher des Außenministers<br />
Redaktionsbeirat: Libuše Bautzová, Pavel Fischer, Vladimír<br />
Hulec, Robert Janás, Milan Knížák, Martin Krafl, Eva<br />
Ocisková, Tomáš Pojar, Jan Šilpoch, Petr Vágner, Petr Volf,<br />
Marek Skolil<br />
Deutsche Übersetzung: Institut für Germanistik<br />
Philosophische Fakultät der Masaryk-Universität Brno<br />
Druck: VČT Sezemice<br />
ISSN 1211–9296<br />
Theo Verlag – Internet:<br />
http://www.theo.cz<br />
E-Mail: pavelsmid@theo.cz<br />
3
4<br />
Rückkehr auf die<br />
Herrschaft<br />
Gespräch mit Bettina Lobkowicz<br />
Mit einer über sechs<br />
Jahrhunderte hin belegten<br />
Tradition ist das Geschlecht<br />
derer von Lobkowicz<br />
eines der ältesten böhmischenAdelsgeschlechter.<br />
Sowohl als Priester als<br />
auch als Politiker oder<br />
Fürsten des Heiligen Römischen<br />
Reiches spielten<br />
sie eine nicht unbeachtliche<br />
Rolle in der böhmischen<br />
wie europäischen<br />
Geschichte. Vertreter dieser<br />
Adelsfamilie bekleideten<br />
die Ämter des Böhmischen<br />
Obersten Kanzlers,<br />
des kaiserlichen Obersthofmarschalls<br />
oder höchste<br />
diplomatische Posten.<br />
In der Mitte des 18.<br />
Jahrhunderts teilte sich<br />
die Familie in zwei Zweige,<br />
den Raudnitzer und<br />
den Melniker, auf. In der<br />
stürmischen Zeit des 20.<br />
Jahrhunderts kam der<br />
Besitz der Lobkowicz aus<br />
Wappen des Hauses Lobkowicz mit der<br />
Devise: „Asche bin ich, Asche werd’ich<br />
sein“ verweist auf den alten Namen der<br />
Familie – Popel (: Asche)<br />
Bettina Lobkowicz<br />
Photo: Jadran Šetlík<br />
Mělník (Melnik) in die<br />
Hände der Nationalsozialisten<br />
und wurde später<br />
durch die Kommunisten<br />
verstaatlicht. Vor der kommunistischen<br />
Gefahr emigrierte<br />
der Großteil der<br />
Familie ins Ausland. 1948<br />
tat dies auch der Besitzer<br />
mehrerer Schlösser und<br />
ausgedehnter Weingüter<br />
Otakar Lobkowicz. Er<br />
war damals 26 Jahre alt,<br />
als er in die Schweiz ging,<br />
und um er Jahre später<br />
wurde im sein Sohn Jiří<br />
geboren. In der Schweiz<br />
widmete sich Otakar Lobkowicz<br />
dem Bankwesen.<br />
Aber auch in den Jahren<br />
der Verbannung vergaß<br />
er seinen Geburtsort<br />
und seine Heimat nicht.<br />
„Ins Exil hatte er eine<br />
Reihe von Bildern und<br />
Photographien von Mělník<br />
mitgebracht, diese<br />
Gegend konnte er niemals<br />
Schloß Mělník, auf dem Bergeshang liegt<br />
ein Vorzeige-Weingarten<br />
vergessen. Immer wieder erzählte er mir<br />
über die Stadt und ihre Umgebung“, erinnert<br />
sich sein Sohn Jiří. Nach dem Fall des Kommunismus,<br />
im Jahre 1990, kehrte Otakar Lobkowicz<br />
mit Sohn Jiří und Schwiegertochter<br />
Bettina auf „sein“ Schloß nach Mělník zurück.<br />
Zum Familienbesitz kamen außer dem Melniker<br />
Schloß und seinen Weinbergen das<br />
Schloß Hořín (Hořin) und das ehemalige<br />
Kloster in Pšovka (Schopka). Erstmals befragten<br />
wir nun Frau Bettina Lobkowicz, geborene<br />
Egli, nach den Umständen der Rückkehr<br />
nach Böhmen.<br />
Mein Schwiegervater, Herr Otakar, war für<br />
mich ein typischer Tscheche, bescheiden, witzig<br />
und immer wieder in seiner Sprache, dem Tschechischen,<br />
übersprudelnd. Die fast fünfzig Jahre<br />
Porträt der Prinzessin Bettina Lobkowicz,<br />
Lucie Crocro (200 x 126 cm), die Malerei wurde<br />
durch das Projekt Femancipation inspiriert<br />
(www.femancipation.com, www.meadowmosaic.com)<br />
Bettina Lobkowicz in der Zeichnung von<br />
Tomáš Císařovský (www.cisarovsky.cz)
in der Fremde haben allerdings auch einen<br />
Weltbürger aus ihm gemacht. Mit großer Freude<br />
kehrte er nach Hause zurück, ohne sich dessen<br />
bewußt zu sein, daß die Heimat nicht nur<br />
räumliche, sondern auch zeitliche Ausmaße hat.<br />
Er freute sich darauf, in sein damaliges Zuhause<br />
zurückzukehren, welches aber 1990 schon<br />
nicht mehr existierte. Die Rückkehr auf die<br />
Herrschaft in Mělník sehnte er sein Leben lang<br />
herbei, die Rückgabe erfolgte 1992, in seinem<br />
70. Lebensjahr. Ich beklagte sein Hinscheiden<br />
sehr, das ihn kurz darauf ereilte, auch weil keiner<br />
von uns beiden, weder Jiří noch ich Erfahrungen<br />
im Zusammenleben mit den Tschechen hatten.<br />
In der Person Herrn Otakars verloren wir auch<br />
einen weisen Ratgeber und Kenner des tschechischen<br />
Naturells.<br />
Was hat Sie dazu bewogen, in Mělník zu<br />
bleiben?<br />
Es war für uns eine Gelegenheit und zugleich<br />
eine Herausforderung. Mit der erfolgten Zurückerstattung<br />
von Mělník stand außer Zweifel, daß<br />
wir hier bleiben und versuchen würden, die<br />
Chance auszunutzen, nicht nur unseren Besitz,<br />
sondern auch unsere Vergangenheit wiederzugewinnen.<br />
Auf der anderen Seite ging es uns nicht<br />
darum, längst vergangene Zeiten wiederzubeleben,<br />
wir wollten die Rückkehr zur Familiengeschichte<br />
„modern“ auffassen.<br />
Zeitgenössische Abbildung des Schlosses von Mělník<br />
Persönlichkeit<br />
Anakreon<br />
Der sei nicht mein Genoß, der mir<br />
zum Weine beim vollen<br />
Becher von Fehden erzählt und<br />
von dem leidigen Krieg<br />
Vielmehr der in geselligem Frohsinn<br />
gerne der Musen<br />
Und Aphrodites holdseliger Gaben<br />
gedenkt.<br />
Übers. Eduard Mörike<br />
Hängt damit auch zusammen, auf welche<br />
Weise Sie an die Familientradition der Kelterung<br />
edler Weine anknüpften?<br />
Ja. Ich glaube unsere Stärke liegt darin, daß<br />
wir uns unweit von Prag befinden. Wenn man<br />
erlesenen australischen oder chilenischen Wein<br />
trinkt, so bleibt seine Herkunft anonym. Auf<br />
das Schloß in Mělník kommen Interessenten,<br />
die es begrüßen, daß sie die Weinkeller selbst<br />
besuchen und die Weinberge begehen können.<br />
Sie werden so Zeugen des Kelterprozesses<br />
als solchen. Wir haben große Fortschritte in<br />
der Technologie gemacht, wir stehen vor dem<br />
Abschluß der Modernisierung der Schloßkeller.<br />
Es ist mir gelungen, eine neue Art der<br />
Weinlagerung durchzusetzen, das sogenannte<br />
Barrique, die Reifung des Weins in kleinen neuen<br />
Eichenfässern aus getoasteten Holz und von ausgezeichneter<br />
Qualität.<br />
Wie arbeiten Sie mit den Tschechen zusammen?<br />
Als ich hierher kam, schaute ich nicht auf die<br />
„politische“ Vergangenheit der Menschen, denen<br />
5
6<br />
ich begegnete, darauf, wie sie sich im Sozialismus<br />
verhalten haben. Ich weiß nicht, wie<br />
ich selber mich in dieser schwierigen Zeit verhalten<br />
hätte. Ich habe ein Staatsgut mit all<br />
seinen Beschäftigten und Traditionen übernommen,<br />
es gab hier drei Kellermeister, von<br />
denen jeder hier sein eigenes Büro hatte,<br />
und es war nicht einfach, sie in den Keller zu<br />
kriegen. Es ging um einen langwierigen Entwicklungsprozeß,<br />
manche Leute wollten etwas<br />
ändern, andere konnten – oder wollten nicht.<br />
Schließlich stellte ich mir ein Team von Leuten<br />
zusammen, die etwas machen wollten, und mit<br />
denen ich wunderbar zusammenarbeite. Ich<br />
beschäftige heute nur Tschechen. Ich arbeite<br />
nicht für den größeren Ruhm der „Primadonna<br />
Lobkowicz“, jeder präsentiert sich selbst mit<br />
seiner Arbeit. Meine Mitarbeiter verwirklichen<br />
ihre eigenen Pläne in Übereinstimmung mit<br />
den meinen, und das ist gut so.<br />
Sie machen eine Menge für die Stadt Mělník<br />
und die Ortsansässigen, so haben sie<br />
beispielsweise die Reparatur der Orgel mitsubventioniert<br />
…<br />
Für manche der Einheimischen bin und<br />
bleibe ich die „Schloßherrin“, in ihren Vorstellung<br />
halten sie mich für die „Ortsdiktatorin“. Von<br />
Anfang an halte ich mich daran, daß ich mich<br />
nicht im Schloß verstecken kann, sondern unter<br />
die Leute gehen muß, wenn ich hier leben will.<br />
Ich möchte, daß die Leute hier wissen, daß es<br />
nicht meine Absicht ist, nur unseren Familienbesitz<br />
wieder in Ordnung zu bringen, sondern<br />
auch zum Gemeinwohl unserer Gesellschaft<br />
beizutragen. An mir selbst beobachte ich, daß<br />
die Tendenz besteht, nur das Eigene aufmerksam<br />
zu hüten, und ich denke, daß man keine so<br />
beschränkte Sichtweise haben sollte.<br />
Das erinnert mich an die Ideale der Adligen …<br />
Ich stamme nicht von einem Adelsgeschlecht,<br />
aber dennoch war es bei uns zu Hause so üblich.<br />
Schloß Mělník, Grüner Salon<br />
Treffen der Nachfahren des Přemyslidenhauses in Ledeburger Garten, Bettina Prinzessin Lobkowicz,<br />
Theresa Gräfin Neipperg, geb. Prinzessin Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst mit Gatten, Doyen<br />
des Treffens Josef Hubert Graf Neipperg (v.l.n.r.)<br />
Jeder Mensch sollte, meiner Meinung nach, das<br />
Ghetto seiner eigenen Wände verlassen, ob es<br />
sich nun um ein Ghetto für Arme oder ein Villenviertel<br />
– das Ghetto der Reichen – handelt.<br />
In einer Kleinstadt wie Mělník leben eigentlich<br />
alle in einer Gemeinschaft. Auch deshalb haben<br />
wir die Tradition der Melniker Weinverkostung<br />
eingeführt, eigentlich geht es um eine Art „Party<br />
mit den ortsansässigen Weinbauern“. Wir wollten<br />
so die gesunde Konkurrenz in dieser Gegend<br />
unterstützen. Wir sind hier die größten Weinproduzenten<br />
und es könnte jemandem unbegreiflich<br />
vorkommen, daß wir die Konkurrenz<br />
begrüßen. Wir brauchen die Konkurrenz, damit<br />
wir nicht bequem werden und unseren hohen<br />
Standard halten. Die Vielfalt der hiesigen<br />
Weinsorten trägt zur Bekanntheit der Region<br />
bei. Die internationale Konkurrenz nötigt uns,<br />
die Preise niedrig zu halten. Der Wein muß gut<br />
und dabei billig sein.<br />
Ist ihr Unternehmen einträglich?<br />
Schon, aber es ist nicht ganz einfach. Wir<br />
müssen sehr viel in die Immobilien investieren,<br />
aber auf der anderen Seite verkaufen wir einen<br />
großen Teil unserer Weine direkt hier im Schloß,<br />
ohne Marketingkosten.<br />
Das Schloß bekommt ein Aussehen zurück,<br />
daß es gut 300 Jahre nicht mehr gehabt<br />
hat. Wann wird die Rekonstruktion abgeschlossen<br />
sein?<br />
Es fehlt nur noch eine einzige Fassade und<br />
drei Säle, das bedeutet noch etwa anderthalb<br />
Jahre Arbeit und dann ist die Instandsetzung vollständig<br />
abgeschlossen.<br />
Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?<br />
Als wir hier anfingen, dachte ich, daß alles<br />
schneller gehen würde, die Geschäftstätigkeit wie<br />
auch die Rekonstruktion des Schlosses. Aber so<br />
gehen wir unseren Weg Schritt für Schritt. Über<br />
unsere Herrschaft hier in Mělník entschied,
daß von Anfang an ein Produkt – nämlich der<br />
Wein – vorhanden war. Bei dem Schloß in Hořín,<br />
welches uns ebenfalls zurückgegeben wurde, fehlt<br />
so etwas, und deshalb bleibt es für die nächste<br />
Zeit eine „tote“ Investition.<br />
Und ihre ganz persönlichen Pläne?<br />
Zu den Sprachen, die ich beherrsche, möchte<br />
ich noch Russisch lernen. Vor allem wegen der<br />
russischen Literatur, ich liebe Dostojewski, aber<br />
ich kenne auch moderne russische Autoren. Ein<br />
wenig fürchte ich die sprachliche Vereinheitlichung<br />
der Welt, durch vereinfachten universellen<br />
englischen Slang. Das könnte sich negativ<br />
auf die menschliche Kreativität auswirken. Literatur<br />
ist meine lebenslange Liebe, sie ist für mich<br />
das ideale Mittel zur Entspannung. Ehrlich<br />
gesagt, beschränke ich das gesellschaftliche<br />
Leben auf das Minimum.<br />
Wenden wir uns Ihren Eindrücken über<br />
Tschechien zu. Was halten Sie von der tschechischen<br />
Kultur?<br />
Man könnte fast sagen, daß wir in der Schweiz<br />
kein solches Kulturerbe haben! Es ist bewundernswert,<br />
daß sich die Tschechen trotz des Kommunismus<br />
ein reiches kulturelles und geistiges<br />
Leben erhalten haben, besonders in den Familien.<br />
Hier herrscht ein hohes kulturelles und<br />
Bildungsniveau.<br />
Was gefällt ihnen an den Tschechen?<br />
Der Witz, der tschechische Humor. Auch die<br />
Kreativität, vor allem die Fähigkeit, zu improvisieren.<br />
Das gefällt mir wirklich gut.<br />
Und was dagegen gefällt ihnen nicht?<br />
Das sich die Menschen hier nicht immer ganz<br />
gleich sind. Es fehlt manchmal an Mut. Zum Beispiel<br />
im Verkehr mit den Ämtern, als Schweizerin<br />
komme ich auf ein Amt und die Behörde steht mir<br />
zur Verfügung, das weiß ich, und die Beamten<br />
wissen das auch recht gut. Den Tschechen würde<br />
es gut tun, wenn sie es lernen würden, anderen<br />
offen ins Gesicht zu sagen, was ihnen nicht<br />
gefällt. Nicht es allen ringsumher zu sagen, nur<br />
nicht dem, den es betrifft.<br />
Hat Sie Ihre „tschechische Erfahrung“ verändert?<br />
Ganz bestimmt. Ich bin heute schon mehr<br />
Tschechin, als ich es vor mir selbst zugeben mag.<br />
Etikett von Tomáš Císařovský Etikett von Petr Nikl<br />
Auswahl von Etiketten der Barrique-Weine (1993-2000), Jiří Votruba<br />
Von klein auf sehnte ich mich danach, zur<br />
Verbesserung der Gesellschaft beizutragen. Aber<br />
bei uns in der Schweiz war alles schon „fertig“.<br />
Für unsere Generation findet sich kaum ein<br />
solcher gesellschaftlicher Wirkungskreis, wie ich<br />
es mir vorgestellt hatte. Ich habe ihn erst hier<br />
gefunden. Aber ich habe auch festgestellt, daß<br />
es schwerer Arbeit bedarf, die viel Kraft kostet.<br />
Ich habe viele Menschen erlebt, die sehr motiviert<br />
waren und von Energie strotzten, aber dann stellten<br />
sich Mißerfolge ein, und heute weiß keiner, wo<br />
diese Leute eigentlich geblieben sind. Das kann<br />
ich mir nicht erlauben. Ich setze auf Zuverlässigkeit,<br />
kann und will nichts vorhersagen oder weit<br />
in die Zukunft vorausplanen. Ich kann nur sagen:<br />
kommen Sie in fünf Jahren nach Mělník.<br />
Für das Gespräch dankt die Redaktion.<br />
Redaktion<br />
Photos: Jiří Heller (www.heller.cz, www.pozitivninoviny.cz),<br />
Archiv von Bettina und Jiří Lobkowicz,<br />
CzechTourism<br />
7
8<br />
Wappen in den Ländern<br />
der Böhmischen Krone<br />
Im Laufe von Jahrtausenden hat sich<br />
die Menschheit verschiedenste figurative<br />
Zeichensysteme geschaffen. Eines<br />
der dauerhaftesten dieser Art ist die<br />
Wappenkunde, die im Laufe des 12.<br />
Jahrhunderts als ein Bestandteil der<br />
Ritterkultur in Westeuropa ihren Anfang<br />
nahm. Die freien Flächen der Ritterschilde<br />
boten sich geradezu zur künstlerischen<br />
Ausgestaltung an, und so<br />
zeigten sich bald bei Turnieren und<br />
Kriegszügen Schilder mit den unterschiedlichsten<br />
geometrischen Figuren<br />
und Bildern von Tieren. Westeuropa<br />
wurde geradezu von der heraldischen<br />
Welle überschwemmt.<br />
Diese Mode breitete sich weiter aus,<br />
denn der gerade entstehende Erbadel<br />
machte sich diese neuen Symbole<br />
zu als Erbzeichen zu<br />
eigen. Zuerst wurden sie nur<br />
von den Adligen in Gebrauch<br />
genommen, später schlossen<br />
sich auch Länder, Städte,<br />
Universitäten, Kirchenämter,<br />
Gilden, Innungen und andere<br />
Institutionen an.<br />
Im Königreich Böhmen<br />
lassen sich die Anfänge der<br />
Wappenkunst auf das Ende<br />
des 12. Jahrhunderts datierten.<br />
Vom Ende des Jahres 1197<br />
stammt das Siegel des Grafen<br />
Hroznata, der 1897 von Papst<br />
Leo als Märtyrer bestätigt wurde.<br />
Sein Wappen, drei Hirschgeweihe im<br />
goldenen Feld, benutzte sein Geschlecht<br />
– die Herren von Vrtba – bis zu seinem<br />
Erlöschen 1830. Das zweitälteste Adelswappen<br />
ist das Siegel Wittikos II. (Vítek<br />
der Jüngere von Prčice /Prčitz/,<br />
von Plankenberk). Es handelt sich um<br />
ein Schild mit einer Rose, daß von seinen<br />
Nachfolgern den Herren von Rosenberg<br />
(Rožmberk), einem der ältesten<br />
böhmischen Adelsgeschlechter (bis<br />
1611), übernommen wurde. Einige der<br />
ältesten böhmischen Geschlechter, die<br />
bereits seit dem 12. Jahrhundert nachgewiesen<br />
sind, wie die von Sternberg<br />
oder die Wallensteins (Valdštejns, Waldsteins)<br />
existieren auch heute noch.<br />
In der gotischen Wappenkunst wurden<br />
vor allem einfache, ausdrucksstarke<br />
Wappen bevorzugt, wie z. B. der Stern<br />
Siegelbild des Vitek von Prčice, 1220,<br />
in der Zeichnung von August Sedláček<br />
Zweikampf des Wilden Mannes mit dem Wappenlöwen,<br />
Bibel Wenzels IV. (auch Wiener Bibel, Königs- oder<br />
Deutsche Bibel genannt), um 1390<br />
Wappen von Karl von Liechtenstein, des Herzogs von Troppau (Opava), 1618<br />
der Herren von Sternberg oder die Zinne<br />
der Herren von Cimburk. Im 16. Jahrhundert<br />
kamen erstmals Wappen auf,<br />
die sich aus verschiedenen Feldern<br />
zusammensetzten. Das Geschlecht der<br />
Wallensteins teilte damals sein Wappen<br />
in vier Felder auf, deren jedes sie<br />
mit ihrem ursprünglichen Zeichen,<br />
einem Löwen besetzten. Im 16. Jahrhundert<br />
stieg auch die Anzahl der Personen,<br />
die gerade in den Adelsstand<br />
erhoben, ihre Wappen mit exotischen<br />
Tieren oder mit Symbolen schmückten,<br />
die auf ihr Handwerk oder ihren<br />
Namen verwiesen.<br />
Der Adel teilte sich in dieser Zeit in<br />
zwei Stände, den niederen, den Ritterstand,<br />
und den höheren, den Herrenstand.<br />
Zum Herrenstand gehörten<br />
nur einige wenige<br />
Geschlechter, er bildete eine<br />
geschlossene Gruppe zu der<br />
nur selten ein neues Glied<br />
Zugang fand. Eine Änderung<br />
brachte erst die Niederschlagung<br />
des Böhmischen Ständeaufstandes<br />
in der Schlacht<br />
am Weißen Berg 1620, die<br />
Ferdinand II. zum Anlaß<br />
einer umfassenden Verfassungsänderung<br />
nahm. Die<br />
traditionelle Böhmische Ständeordnung<br />
ersetzte er durch<br />
die in Deutschland herrschende<br />
Hierarchie und beschnitt<br />
die Rechte des Adels. In der Folge<br />
wurde das Besitztum vieler Adelsfamilien<br />
konfisziert und an Geschlechter<br />
verkauft oder verschenkt, die nicht<br />
zum alten böhmischen Adel gehörten.<br />
In die böhmische Wappenkunst<br />
drangen so italienische, irische oder spanische<br />
Elemente ein. In Mode kamen<br />
komplizierte gesamte Kompositionen<br />
– das ursprüngliche Familienwappen<br />
wurde durch die Wappen anderer<br />
Geschlechter ergänzt, die z.B. durch<br />
Heirat hinzukamen oder für verschiedenste<br />
Verdienste verliehen wurden.<br />
Der berühmte Heerführer Albrecht<br />
von Wallenstein kombinierte sein ehemaliges<br />
Erbwappen beispielsweise<br />
mit den Wappen seiner Liegenschaften
Spätgotisches Wappen des Königreichs vom Schlafzimmer König Wladislaws auf der Prager Burg aus<br />
in Mecklenburg, Friedland, Sagan (Żagań),<br />
Wenden, Schwerin, Rostock und<br />
Stargard. Im gold-roten Wappen der<br />
Herren von Liechtenstein aus Mähren<br />
spiegelte sich späterhin die Inbesitznahme<br />
von Fürstentümern Troppau<br />
(Opava) und Jägerndorf (Krnov) in<br />
Schlesien und die Verwandtschaft mit<br />
den Herren von Kuenring (Wachau) und<br />
Ostfriedland wieder. Heute tritt dieses<br />
Wappen als Staatswappen des Fürstentums<br />
Liechtenstein in Erscheinung.<br />
Zu den bedeutendsten Adelsfamilien<br />
gehörten in jener Zeit die Herren<br />
von Lobkowicz, die Eggenbergs und<br />
ihre Nachkommen – die Herren von<br />
Schwarzenberg, die Slavatas und ihre<br />
Erben, die Czernins, die Herren von<br />
Colloredo-Mansfeld. die Kinskis, Dietrichsteins<br />
und andere. Die meisten<br />
dieser Geschlechter führten den Fürstentitel,<br />
zum niederen Adel gehörten<br />
Grafen, Freiherren (Barone) und Rit-<br />
Renaissancewappenkunst – Wappen von Michal<br />
Rytršice von Rytrsfeld, 1626<br />
ter. Die Anzahl der neu verliehenen<br />
Adelstitel stieg im Laufe der Zeit stetig<br />
an, im 19. Jahrhundert nahm die<br />
Verleihung des Adelsprädikats endlich<br />
Wappen des böhmischen mittelalterlichen Adels, Zeichnung von Petr Tybitancl<br />
Überlieferung<br />
„Der Mensch muß den Zeichen<br />
höchste Aufmerksamkeit schenken,<br />
die Wesen und Dinge, die ihn umgeben,<br />
durch ihre Präsenz ausstrahlen.<br />
Dies ist eine dringliche Notwendigkeit,<br />
auch wenn sie durch die Zivilisation<br />
abgeschwächt ist.<br />
Luc Benoist<br />
französischer Philosoph<br />
(1893-1980)<br />
die Form einer üblichen staatlichen<br />
Anerkennung an. Die Erhebung in<br />
den Adelsstand erfolgte fast automatisch<br />
im Zuge der Verleihung bestimmter<br />
Orden oder nach Absolvierung<br />
einer bestimmten Anzahl<br />
von Dienstjahren im Heer. Neue Geschlechter<br />
erhielten meist kompliziert<br />
Wappen, deren Bestandteile auf die<br />
Verdienste verwiesen, um deretwillen<br />
die Adelung erfolgt war. So schmückte<br />
das Wappen des Malers Václav<br />
Brožík, der 1897 geadelt wurde, ein<br />
Stern zum Zeichen seiner Berühmtheit<br />
und drei Pinsel, von alters her das Zeichen<br />
der Malergilde.<br />
Im Laufe der Jahrhunderte wurden<br />
die Privilegien des Adels immer mehr<br />
beschnitten, ab dem Jahre 1848 beliefen<br />
sie sich nur noch auf den Gebrauch<br />
des Adelstitel und des Wappens, die<br />
9
10<br />
gesetzlichen Schutz genossen. Nach<br />
dem Fall der Monarchie 1918 wurde<br />
der offizielle Gebrauch des Titels und<br />
der Wappen außer Kraft gesetzt.<br />
Landeswappen<br />
Die um 1175 geschlagenen Münzen<br />
der Přemyslidenfürsten, die bis 1306<br />
über Böhmen herrschten, trugen bereits<br />
einen Löwen. Mit dem Aufkommen<br />
der Heroldskunst fand dieser<br />
Löwe seinen Platz auf den Schildern<br />
und wurde so zum Wappen der Böhmischen<br />
Länder. Der Löwe ist eines<br />
der beiden beliebtesten Elemente der<br />
ältesten europäischen Heraldik. Das<br />
zweite ist der Adler, welcher später<br />
von den Přemysliden als Familienwappen<br />
benutzt wurde. Um die Mitte<br />
des 13. Jahrhunderts kam der böhmische<br />
Löwe zu seinem Doppelschweif,<br />
etwa um die gleiche Zeit wurde auch<br />
der Adler im Wappen des Heiligen<br />
Römischen Reiches mit einen zweiten<br />
Kopf begabt. Der silberne (weiße)<br />
doppelschwänzige gekrönte Löwe auf<br />
rotem Schild bildete das Wappen Böhmens,<br />
ihm wurden die Wappen Mährens,<br />
Schlesiens und der Lausitz beigegeben,<br />
die, unter Selbstverwaltung,<br />
zu den Böhmischen Kronländern ge-<br />
Siegelbild der mährischen Stadt Drahotuše (1782) Wappen der mährischen Stadt Hranice<br />
(Mährisch-Weißkirchen; 19. Jh.)<br />
Gegenwärtiges Wappen der südböhmischen<br />
Stadt Písek (2000)<br />
Darstellung der Ursprungssage vom Herrn Ješek von Pardubitz (Pardubice), die die Entstehung des Stadtwappens von<br />
halbiert. Für diesen Heldenmut bekam die Stadt vom König ein Wappen mit einer Pferdehälfte verliehen (Bohumil Vlček<br />
Wappen des Aussiger Regionalverbands (2000)<br />
hörten. Das seit 1260 belegte Wappen<br />
Mährens zeigt einen silbern-rot geschachten<br />
gekrönten Adler auf blauem<br />
Schild. Der Nationalitätenkonflikt zwischen<br />
Deutschen und Tschechen hat auch<br />
in der Heraldik Mährens seinen Niederschlag<br />
gefunden, denn die deutschen<br />
Mähren benutzten einen gold-rot geschachten<br />
Adler, den Kaiser Friedrich<br />
III. 1462 an Mähren verliehen hatte.<br />
Dieses Privileg wurde von den tschechischen<br />
Mährern nicht anerkannt,<br />
welche den ursprünglichen Silber und<br />
Rot geschachten Adler benutzten.<br />
Schlesien, dessen größerer Teil im 18.<br />
Jahrhundert zu Preußen kam, führte<br />
einen mit kreuzbesetztem, silbernen<br />
Kleeblattmond belegten, gekrönten<br />
schwarzen Adler auf goldenem Feld<br />
im Wappen. Schlesien war allerdings<br />
im Mittelalter in eine Vielzahl kleiner<br />
Fürstentümer zersplittert, die ihre<br />
eigenen Wappen innehatten.<br />
1920 nahm die Tschechoslowakische<br />
Republik ein Staatswappen<br />
in Gebrauch, das auf rotem Feld den<br />
silbernen doppelschweifigen goldgekrönten<br />
böhmischen Löwen mit dem
Pardubitz erzählt. Ješek von Pardubitz nahm an der nächtlichen Kriegsfahrt gen Mailand (1158) teil, auf der Rückfahrt wurde sein Pferd durch das heruntergelassene Stadttorgitter<br />
nach Entwurf von Mikoláš Aleš)<br />
Wappen der Slowakei, einem byzantinischen<br />
Doppelkreuz auf drei blauen<br />
Hügeln, auf der Brust darstellte.<br />
Das Wappen der Tschechoslowakischen<br />
Sozialistischen Republik aus<br />
den Jahren 1960-1990 stellte den Versuch<br />
einer radikalen Änderung der<br />
heraldischen Regeln dar. Die kommunistischen<br />
Ideologen beriefen sich auf<br />
„hussitische Traditionen“ und ersetzten<br />
den Ritterschild durch den fünfeckigen<br />
Hussitenschild (Pavese, Setztartsche).<br />
Die übliche Krone auf dem<br />
Löwenkopf löste ein fünfzackiger<br />
(kommunistischer) Stern ab, das slowakische<br />
Wappen wurde gänzlich<br />
abgeändert. Nach dem Fall des Kommunismus<br />
1990 fand Tschechien zu<br />
seinen althergebrachten Wappen zurück.<br />
Das offizielle Wappen der<br />
Tschechischen Republik gibt es heute<br />
in zwei Varianten. Auf dem kleinen<br />
Wappen ist nur der böhmische Löwe<br />
abgebildet, das große Wappen kombiniert<br />
in vier Feldern das Wappen<br />
Böhmens (oben links und unten<br />
rechts) mit den historischen Wappen<br />
von Mähren, dem silbern-rot geschachten<br />
Adler (oben rechts) und Schlesien<br />
(unten links).<br />
Tschechien erfuhr<br />
eine Aufteilung in<br />
höhere Kommunalverbände,<br />
mit denen<br />
sich die Bevölkerung<br />
allerdings nicht<br />
zu identifizieren vermochte.<br />
Erst die Reform<br />
im Jahre 2000<br />
legte 14 selbständige<br />
Regionalverbände<br />
fest, deren Wappen<br />
meist Elemente der alten Landeswappen<br />
und der regionalen Hauptstädte in<br />
sich vereinen.<br />
Wappen von Städten<br />
und Gemeinden<br />
Neben den Landeswappen erfreuen<br />
sich Stadtwappen, die später als die<br />
Adelswappen entstanden, großer Beliebtheit.<br />
Stadtwappen wurden meist<br />
von den Adeligen bzw. Gebietsherren<br />
vergeben. In vielen Stadtwappen sind<br />
Elemente der Landes- oder Adelswappen<br />
enthalten, oft sind es Abbildungen<br />
von Burgen, die das Recht auf Stadtbefestigung<br />
symbolisieren. Kleinere<br />
Ortschaften mußten sich des Wappens<br />
enthalten, versahen sich jedoch<br />
mit Zeichen, die denen der Wappen<br />
Interimswappen der Tschechoslowakischen<br />
Republik (1918)<br />
Versuch, die Regeln der Wappenkunst umzukippen<br />
(das Wappen der Tschechoslowakischen<br />
Sozialistischen Republik (1960)<br />
ähnelten. Nach 1990<br />
wurde die heraldische<br />
Praxis für Städte und<br />
Gemeinden institutionalisiert.<br />
Die HeraldischeKommission<br />
des Tschechischen<br />
Parlaments,<br />
Unterausschuß für<br />
Wappenkunde und<br />
Vexillogie (Podvýbor<br />
pro heraldiku<br />
a vexilologii Poslanecké sněmovny<br />
PČR) verleiht auf Verlangen selbständigen<br />
Gemeinden Wappen, die meist<br />
in alten Traditionen wurzeln, und den<br />
heraldischen Regeln entsprechen.<br />
In größeren Städten kommt es häufig<br />
dazu, dass alte Stadtwappen durch<br />
Logos (Logotypen) ersetzt werden.<br />
Diese entbehren historischen Wurzeln<br />
und symbolischem Kontext und entsprechen<br />
demzufolge besser den heutigen<br />
Anforderungen.<br />
Jiří J.K. Nebeský<br />
Photos: der Verfasser. Aus: Michal Fiala:<br />
Wappenbriefe des Archivs des Nationalmuseums,<br />
Jiří Lapáček, Břetislav Passinger:<br />
Bečva-Flußgebiet im Wandel der Zeit,<br />
Václav Bednář, Bohumír Indra, Jiří Lapáček:<br />
Kronikáři města Hranic, CzechTourism<br />
Mittleres Wappen der Tschechoslowakischen<br />
Republik (1920)<br />
Gegenwärtiges Wappen der Tschechischen<br />
Republik (František Štorm)<br />
11
12<br />
DAS KLEINE WELTTHEATER<br />
Als im Jahre 2002 die erste Veranstaltung<br />
des THEATRUM KUKS, des Festivals<br />
des barocken Theaters, der Oper und<br />
Musik, vorbereitet wurde, war offensichtlich,<br />
dass die Veranstalter das architektonische<br />
Ambiente des ehemaligen Badeortes<br />
Kukus (Kuckusbad) am Oberlauf<br />
der Elbe zwischen Jaroměř und Dvůr<br />
Králové (Königinhof) zur Gänze auszunutzen<br />
gedachte. Trotz des unübersehbaren<br />
Verfalls blieb der Charakter dieses<br />
barocken Kurbades bis heute erhalten.<br />
Graf Franz Anton von Sporck (1662-<br />
1738) ließ das ganze Gelände so gestalten,<br />
dass die Szenerie an ein Theater<br />
erinnert, in dem Natur und Kunst die<br />
Hauptrolle spielen.<br />
Sporck war, nachdem man am Ort<br />
eine Quelle gefunden hatte, deren Heilwirkung<br />
1694 bestätigt wurde, an einer<br />
großzügigen baulichen Gestaltung des<br />
neuen Kurortes gelegen. Das eine Elbufer<br />
blieb weltlichen Vergnügungen vorbehalten,<br />
mit anspruchsvollen Badeanstalten<br />
für unbemittelte wie hochgeborene<br />
Kurgäste, beweglicher Turmuhr, Comœdien-Haus,<br />
und der Statue des Polyphem.<br />
Eine Brücke mit drei Harlekinen führte<br />
in- wie ausländische Gäste in eine pittoreske<br />
Märchenwelt aus 40 Callot-Figuren<br />
(groteske Zwerge) von Matthias<br />
B. Braun inmitten eines Tiergartens und<br />
Yta Innocens, Ensemble Damian<br />
zu einem verwirrenden Irrgarten. Vom anderen,<br />
gewissermaßen „geistigen“ Ufer<br />
grüßten die Symbole von Wahrheit und<br />
Coronide, Ensemble Damian<br />
Gerechtigkeit von hohen Steinsäulen zu<br />
den Lustwandelnden herüber. Zum Ausruhen<br />
in Abgeschiedenheit lud das sogenannte<br />
Haus der Philosophen mit Bibliothek<br />
und Lesesaal ein, Einkehr und Selbstbesinnung<br />
regten die Allegorien der<br />
zwölf Tugenden und zwölf Laster, überlebensgroße<br />
Skulpturen ebenfalls von<br />
Matthias Braun, an. Die monumentale<br />
Anlage ergänzte ein barockes Hospital,<br />
von Gottfried Benjamin Hancke, einem<br />
schlesischen lyrischen Dichter der Barockzeit<br />
als kleines Versailles bezeichnet,<br />
mit einer Kirche, der Familiengruft<br />
der Sporcks und einem Friedhof.<br />
Es fragt sich, welche Anliegen und<br />
Ziele die Urheber des Festivals verfolgten.<br />
In erster Linie wird beabsichtigt, das<br />
zu Sporcks Lebzeiten rege Kunst- und<br />
Kulturleben – Theater, Oper, Musik,<br />
Tanz, Poesie und Bühnenkünste im allgemeinen<br />
– trotz Verfalls der barocken<br />
Gebäude und Kunstwerke wieder zu erneuern.<br />
Für das Festival wurden barrierefreie<br />
Bühnen an zwanzig ungewöhnlichen<br />
Schauplätzen auf dem Gelände<br />
des Kurbades an beiden Ufern der Elbe<br />
angelegt. Musik und Theater korrespondieren<br />
mit historischen und zugleich
neuen Kulissen wie dem Comœdien-Haus,<br />
dem Gottesmarterl über den Weingärten,<br />
der Schloßtreppe oder den Wasserspielen<br />
an der Elbe, der historischen Apotheke<br />
und sogar der Gruft, denn der Losung<br />
Memento mori (Gedenke des Todes) begegnet<br />
man neben Sporcks persönlichem<br />
Motto Veritas et Iustitia (Wahrheit und<br />
Gerechtigkeit) in Kuks auf Schritt und<br />
Tritt. Das dritte Hauptthema, das den Ort<br />
durchdringt und auf welches auch sechs<br />
Einsiedeleien mit Reliefs und Statuen M.<br />
Brauns (u.a. die bekannte Figurengruppe<br />
Betlém, („Bethlehem“), gehauen in Felsblöcke<br />
des nahen Wäldchens Nový les,<br />
verweisen, ist die Religio, die Religion.<br />
Die besondere Bedeutung des ehemaligen<br />
Kurortes unterstreichen die Ausstellungen<br />
„Zehn Jahrhunderte Baukunst“<br />
(Deset století architektury, 2000) und<br />
„Glorie der barocken Czechia“ (Sláva<br />
barokní Čechie, 2001) sowie die Vorbereitung<br />
des Patronats der UNESCO für<br />
das die gesamte Kuranlage. Man fände<br />
wohl kaum in den Böhmischen Kronländern<br />
in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts<br />
einen Ort von ähnlichem kulturellen<br />
und religiösen Reichtum. Hier wurde<br />
ein ungewöhnlich vielfältiges Theater-<br />
repertoire angeboten. Deutsche Schauspielgesellschaften<br />
stellten hier ernste<br />
Stücke mit der komischen improvisierenden<br />
Gestalt des Hanswurst vor. Die<br />
Venezianische Peruzzi-Denzi-Truppe inszenierte,<br />
unterstützt von Antonio Vivaldi,<br />
der für sie Musik schrieb und Solisten<br />
engagierte, italienische Opern. Heinrich<br />
Rademin legte hier, Stücke schreibend,<br />
die Grundlagen der Wiener Komödie.<br />
Hier wurde Marionettentheater gespielt<br />
und in der fruchtbaren Atmosphäre gediehen<br />
literarische und künstlerische<br />
Unternehmungen, hierher kamen schlesische<br />
Dichter, französische jansenistische<br />
und moralistische Literatur wurde<br />
hier im Großen ins deutsche übersetzt.<br />
Dialog zwischen Stein und Leben, Ctibor Turba<br />
Festival<br />
Kuks (Kukus) ist gleichsam die<br />
Hauptstadt des Barock, und Sie<br />
können glauben, daß es keine nur<br />
tschechische, sondern eine europäische<br />
Angelegenheit ist.<br />
Vladimír Komárek<br />
Maler, Graphiker und Illustrator<br />
(1928-2002)<br />
Hier lag die Wiege der monumentalen<br />
Zyklen des Graveurs Michael Retz. Hier<br />
wurden geistliche Lieder in tschechischer<br />
und deutscher Sprache gesungen. Hier<br />
verwirklichte der italienische Architekt<br />
Giovanni Battista Alliprandi seine Projekte<br />
(vermutlich stammte der Plan des<br />
Kukuser Kuranlage von ihm), bildhauerte<br />
der Tiroler Matthias Bernhard Braun,<br />
malte Peter Johann Brandl. In diesem<br />
Kulturraum trafen Sprachen, Kulturen<br />
und sogar Weltanschauungen aufeinander<br />
– und bis heute ist Kuks von einer<br />
reichen Anzahl an Kulturdenkmälern<br />
geradezu überschwemmt.<br />
So stellt sich die glorreiche Sporcksche<br />
Vergangenheit von Kuks dar. Heute<br />
stellt sich die Aufgabe, an dieses multikulturelle<br />
und künstlerische Erbe anzuknüpfen.<br />
Das THEATRUM KUKS bietet besonders<br />
ausländischen Interpreten großen<br />
Raum und zieht so französisch-, italienisch-<br />
und deutschsprachiges Publikum<br />
an. Ein einzigartiges Ereignis war die<br />
Rekonstruktion von Vivaldis und Danzis<br />
Oper Praga nescente da Libussa e Pre-<br />
13
14<br />
mislao (2003), beliebt sind aber auch die<br />
regelmäßigen Opernvorführungen des<br />
Ensemble Damian im hiesigen Refektorium.<br />
Die Aufführung des Theaterstücks<br />
Barca da Venezia Per Padova von Adriano<br />
Banchieri fand direkt am Elbufer<br />
statt. Der Chor Jitro (Morgen) führte die<br />
Magnificati von Bach und Vivaldi auf.<br />
Aus Italien wieder reisten Meister der<br />
Comedia dell’Arte vom Teatro vivo mit<br />
dem Stück Comici e capocomici an.<br />
Authentische zeitgenössische Musik des<br />
17./18. Jahrhunderts trug das Wiener<br />
Ensemble Tientos mit dem Kontratenor<br />
Armin Gramer vor, das Festival bereicherten<br />
auch der Organist Jaroslav Tůma<br />
oder die Violinistin Gabriela Demeterová.<br />
Einen besonderen Genuß bescherten<br />
die Rezitale des italienischen Mandolinisten<br />
Ugo Orlandi oder Jiří Stivíns<br />
„Pilgerreise“ nach Kuks, der tschechische<br />
„Wunderflötist“ eröffnete das Festival<br />
mit einem wahren Husarenstück,<br />
an einem einzigen Tag gab er nämlich<br />
Konzerte in 9 Kirchen des Sporckschen<br />
Herrensitzes und im naheliegenden<br />
Waldstück Nový les mit Brauns berühmten<br />
Bethlehem.<br />
Was also macht nun das Unverwechselbare<br />
des THEATRUM KUKS aus?<br />
Vor allem sind dies die Interpretationen<br />
Totentanz, Due di Kuckus<br />
Barca da Venezia per Padova<br />
Flauto (spielt Bach, Telemann, Otter und Dieupart) Laster und Tugende in den tschechischen Volksballaden,<br />
Kleines Theater auf den Weinbergen (Malé vinohradské<br />
divadlo)<br />
des ursprünglich für diesen Ort üblichen<br />
Repertoires, aber auch die seine neuzeitlichen<br />
Premieren. Regelmäßig ist hier<br />
z.B. die Werkstatt Michael Pospíšils mit<br />
dem Gesangbuch Slavíček rájský (Paradies-Nachtigall,<br />
Hradec Králové /Königgrätz/<br />
1718), dessen Herausgabe Graf<br />
von Sporck finanzierte, zu Gast. Die Laienspielgruppe<br />
Geisslers Hofcomœdianten<br />
unter der Leitung von Peter Hašek<br />
trägt zu jeden neuen Jahrgang des Festivals<br />
mit einer Premiere bei, die dem<br />
Publikum die Rekonstruktion, Übersetzung<br />
oder gar die Aufführung eines neu<br />
aufgefunden Barockstückes vorstellt.<br />
Die Skala der Genres ist breit gefächert.<br />
Sie reicht von Benediktinischen Schulstücken<br />
über Hanswurstiaden, wie etwa<br />
die Rekonstruktion von Heinrich Rademins<br />
Atlanta, eines eigens für Kuks<br />
geschriebenen und 1724 dort aufgeführten<br />
Barockstückes, bis hin zu Opern und<br />
musikalischen Intermezzi. Das essentielle<br />
Thema des Barock – die Vergänglichkeit<br />
– reflektiert G. B Hanckes Spiel<br />
Pasquinus a Marforio vedou Herkomanna<br />
do podsvětí (Pasquinus und Marforio<br />
führen Herkomann in die Unterwelt,<br />
2003, die ursprüngliche Fassung aus<br />
dem 17 Jh. war lateinisch) und vor allem<br />
der Totentanz (Tanec smrti) von Rentz,
Wasserburg und Seemann, aufgeführt in<br />
der Sporckschen Gruft.<br />
Einen weiteren Glanzpunkt des Festivals<br />
bilden die zyklischen Land-Art-<br />
Installationen BIBLIOTECA des Wieners<br />
Abbé J. Libansky, die 2004 zum ersten<br />
Mal aus zwanzigtausend aus dem Haus<br />
der Philosophen ausgesonderten Büchern<br />
auf der Wiese vor dem Kukuser Hospital<br />
zusammengestellt wurde und 2006 ihre<br />
dritte Wiederkehr erlebte. Die kurze<br />
Dauer des viertägigen Festivals „verlängern“<br />
künstlerische Workshop. Der eine<br />
Woche andauernde Workshop von Luca<br />
Cairati (Italien) und Laetitia Favart (Frankreich)<br />
erweckte 2006 die ursprüngliche<br />
Kukuser Komödie Basilisco di Bernagasso<br />
(1728) von F. A. Defrain zu neuem Leben.<br />
Der römische Geiger R. M. Minasi<br />
studierte mit internationaler Besetzung<br />
das Oratorium La Giuditta von A. Scarlitti,<br />
dessen Libretto der gebürtige Königgrätzer<br />
Giovanni Giacomo Komarek Boemo 1695<br />
in Rom drucken ließ. Die, deren Erwartungen<br />
an das Kukuser Festival trotz des<br />
vielseitigen Angebots noch immer nicht<br />
befriedigt waren, können sich des Abends<br />
in der Sporckschen Weingalerie echtem<br />
„Zigeunerbarock“ hingeben.<br />
Fanfán Tulipán, Theaterverein Jiří<br />
Das Festival sieht sein Ziel nicht nur<br />
darin, die beiden Ufer der ehemaligen<br />
Sporckschen Kuranlagen und des Hospitals<br />
zu verbinden, sondern es will auch<br />
das anliegende Dorf in das ganze Projekt<br />
einbeziehen. Als Erfolg gewertet werden<br />
kann in diesem Sinne die vom Festival<br />
zeitlich unabhängige Tätigkeit der Kinderlaienspielgruppe<br />
– Bimbi di Terme – im<br />
neu inbetriebgenommenen Comœdien-<br />
Haus, das eine Analogie des Kukuser Barocktheaters<br />
von 1702 darstellt. Mit weltweiter<br />
Resonanz und Beteiligung von<br />
Künstlern aus dem Ausland (Deutschland,<br />
Österreich, Italien, Frankreich …)<br />
ist es so gelungen, eine Perle des tsche-<br />
Atalanta, Geißlers Hofcomoedianten, Kuks<br />
chischen Barock aus dem Dornröschenschlaf<br />
zu wecken, und unter die bedeutendsten<br />
Kunst- und Kulturveranstaltungen<br />
mit originellen Programm einzureihen.<br />
Gewürdigt wird vor allem die Verbindung<br />
von Theater- und Musikforschung,<br />
die Aufführung neuer Übersetzungen<br />
alter deutscher Texte, Welturaufführungen<br />
und ungewöhnliche Kombination<br />
von Theater, Musik und Tanz.<br />
„Kuks war bisher wie ein prähistorischer<br />
Dinosaurus, aus dessen Haut nur<br />
weiße Knochen herausschauten. Ihnen<br />
ist es gelungen, ihm Fleisch und Haar<br />
wiederzugeben“, verkündete 2004 der<br />
Bildhauer Petr Novák im Beisein des<br />
Vorsitzenden der Tschechischen Händel-<br />
Gesellschaft Pavel Polek, bei der Einschätzung<br />
des Festivals.<br />
Für die Zeit vom 23. bis 26. August<br />
2007 werden berühmte Persönlichkeiten<br />
der Musik- und Theaterwelt wieder in<br />
Kuks zusammenkommen, um die Commedia<br />
del'Arte, Hanswurstiaden, Bibers<br />
Violinsonaten, englisches Frühbarock,<br />
Lieder von Jan Josef Božan, barocke<br />
Predigten, Wassermusik, Orazio Vecchis<br />
Madrigale wieder zu beleben.<br />
Stanislav Bohadlo<br />
Direktor des Festivals, http://theatrum.zde.cz<br />
Photos: Theatrum Kuks, Yvona und<br />
Bohuslav Benč (www.ycopy.info)<br />
Venezianische Karnevalsmasken Bei der Vorstellung der Křesťanská hodina<br />
(Christliche Stunde)<br />
15
16<br />
Ein Garten Europas<br />
Die Kulturlandschaft von Lednice-<br />
Valtice (Eisgrub-Feldsberg) ist ein eindrucksvolles<br />
Beispiel für die Beeinflussung<br />
der Landschaft, angefangen bei den<br />
ältesten, utilitaristischen Eingriffen bis<br />
hin zur grandiosen Landschaftsgestaltung<br />
des 17. und 18. Jahrhunderts. In<br />
19. Jahrhundert wurde dieser sich über<br />
185 km 2 ausbreitende Landstrich oft<br />
als Garten Europas bezeichnet.<br />
Archäologische Funde erzählen<br />
von der Bedeutung dieses Kulturraumes,<br />
hier verlief in alten Zeiten die<br />
Bernsteinstraße, die Römer bauten hier<br />
ihre Kastelle, die eng mit der nahen<br />
Grenze, dem Limes Romanum in Verbindung<br />
standen. Zu weiteren einschneidenden<br />
Veränderungen kam es in der Mitte<br />
des 13. Jahrhunderts, als das Gebiet an<br />
das Haus Liechtenstein geriet. Diese<br />
brachten Ende des 14. Jahrhunderts<br />
auch das nahe Valtice in ihren Besitz<br />
und die beiden Herrengüter wurden so<br />
zum Mittelpunkt eines ausgedehnten Familienbesitzes,<br />
das die Liechtensteiner<br />
über Jahrhunderte hinweg innehatten.<br />
In der Hand der Liechtensteiner blieb<br />
dieses Besitztum einige hundert Jahr.<br />
Als Karl I. von Liechtenstein zu Beginn<br />
des 17. Jahrhunderts in den Fürstenstand<br />
erhoben wurde, machte Valtice<br />
zu seiner Residenz und Lednice<br />
seinem Sommersitz. Die nahe beieinanderliegenden<br />
Herrensitze wurden<br />
nach einem raffinierten Plan zu einer<br />
Kulturlandschaft vereint, die der Fürstenfamilie<br />
Erholungs- und Repräsentationszwecken<br />
diente.<br />
Die Schlösser von Lednice und Valtice<br />
wurden zu einem Glanzpunkt der<br />
Landschaftsgestaltung, inspiriert durch<br />
die Ideale des mythischen Arkadien.<br />
Die bis heute erhalten gebliebene barocke<br />
Schloßresidenz in Valtice entwickelte<br />
sich aus einer mittelalterlichen<br />
Burg aus dem Jahre 1192. Seine Baugeschichte<br />
ist an den Fassaden ablesbar,<br />
die die Spuren der Umbauten,<br />
angefangen im 17. Jahrhundert bis zu<br />
Spuren aus der Zeit des Zweiten Weltkrieg,<br />
widerspiegeln.<br />
Bewundernswert ist die Anlage des<br />
Schloßgartens und des Parks. Der Park<br />
Schloß Eisgrub (rechts Palmenhaus, erbaut in den<br />
Jahren 1843-1845)<br />
Schloß Eisgrub (Lednice), ursprünglich eine Renaissancevilla (cca. 1570), seine gegenwärtige Gestalt erwarb<br />
es beim Umbau im Geist der Tudorgotik<br />
Minarett (1797-1804)<br />
mit Naturbühne und zahlreichen bildhauerischen<br />
Arbeiten wurde 1727<br />
angelegt und in der zweiten Hälfte des<br />
18. Jahrhunderts ausgebaut. Erhalten<br />
geblieben sind Fragmente von Statuen<br />
aus der antiken Mythologie, Sphinx<br />
und Vasen. Anfang des 19. Jahrhunderts<br />
wurde der Garten erweitert und zu<br />
einer Parklandschaft mit weitem Ausblick.<br />
Das Schloß bildet zusammen<br />
mit der barocken Pfarrkirche Mariä<br />
Himmelfahrt die weithin sichtbare<br />
Dominante des Städtchen Valtice. Gestalterisch<br />
verändert wurde das gesamte<br />
Gelände, welches sich zwischen Valtice<br />
und Lednice ausbreitet.<br />
Das Schloß in Lednice läßt sich aus<br />
der Ferne nicht erblicken, die hiesige<br />
Landschaft dominiert ein exotisches<br />
Minarett. Es fügt sich ansprechend in<br />
die für Lednice typische romanische<br />
Atmosphäre ein. Das Schloß selbst war
ursprünglich eine Renaissancevilla (um<br />
1570), sein heutiges Gesicht verdankt<br />
es den umfangreichen Umbauten unter<br />
Alois II. von Liechtenstein im Geiste der<br />
englischen Neugotik. Die Änderungen<br />
erfolgten nach den Entwürfen des Architekten<br />
Georg Wingelmüller, welcher<br />
1846 eine Reise nach England und<br />
Schottland unternommen hatte, um den<br />
Tudorstil zu studieren, von welchem er<br />
sich bei den Arbeiten in Lednice inspirieren<br />
ließ. Er hielt sich an den Grundriß<br />
des ehemaligen Barockgebäudes,<br />
das durch eine Gravur aus dem Jahre<br />
1720 von J.A. Delsenbach bekannt ist.<br />
Wingelmüller schloß den bis dahin<br />
freistehenden Flügel an den Schloßkomplex<br />
und die den Jagdhof umgebenden<br />
Bauten an der Westfront an.<br />
Am Ostflügel erreichte er durch eine<br />
reich gegliederte Fassade eine natürlich<br />
wirkende Verbindung mit der Oran-<br />
Minarett (1797-1804)<br />
Fremdenverkehr<br />
„Durch den Eintrag in die Weltkulturerbeliste<br />
der UNESCO wurde die weltweite<br />
Bedeutung dieses bemerkenswerten<br />
urbanistischen Komplexes festgeschrieben,<br />
die ästhetische Vereinigung<br />
der künstlich gestalteten Landschaft<br />
mit der Natur. Nach dem Abkommen<br />
über den Schutz des Weltkulturerbes<br />
steht das Gelände nun unter Schutz<br />
aller Nationen der Welt.“<br />
Aus dem Text auf den Bronzetafeln<br />
über dem Haupteingang zu den<br />
Schlössern Lednice (Eisgrub) und<br />
Valtice (Feldsberg)<br />
gerie. Den Frontteil des Schlosses versah<br />
er mit durchbrochenen und figürlichen<br />
Verzierungen. Nach Wingelmüllers Tod<br />
wurde sein Assistent der Ingenieur Johann<br />
Heidrich mit der Fertigstellung der<br />
Bauarbeiten betraut.<br />
Zum Schloß gehört auch ein außergewöhnliches<br />
Palmenhaus, welches nach<br />
den Plänen von P. H. Devien aus der<br />
ursprünglichen Orangerie (1843-1845)<br />
entstand. Zum Schloßkomplex gehört<br />
auch die Pfarrkirche St. Jakob d. Ä. die<br />
im Rahmen der neogotischen Umbauten<br />
eingefügt wurde und zugleich auch<br />
als Schloßkappelle fungierte.<br />
Der gewaltige und langwierige Streit,<br />
wer Erbe des antiken Vermächtnisses<br />
sei, gipfelte im 18. Jahrhundert und<br />
fand im 19. Jahrhundert sein Ende.<br />
Auf diesem Hintergrund entwickelte<br />
sich das Phänomen des Historismus. In<br />
Mähren konzentrierte sich der künst-<br />
17
18<br />
lerische Wandel vor allem auf die Gartenarchitektur.<br />
Die hervorragendsten<br />
mährischen Schloßgärten verkörpern<br />
die Tendenz des 19. Jahrhunderts, das<br />
Eingenommensein für die Natur, die<br />
ihren Höhepunkt in Rousseaus Lehre<br />
„vom Naturzustand“ fand, aber auch<br />
das Arkadenhafte als Flucht vor der<br />
Offizialität. Im Garten fand man aber<br />
auch „Asyl“ im Vergangenen, konnte sich<br />
von der Weite oder dem Exotischen inspirieren<br />
lassen. Im mährischen Lednice<br />
entstand ein sentimentaler (im Sinne<br />
der lyrischen Reflexion von Natur und<br />
Kunst) künstlich angelegter Garten, der<br />
den Idealen der des Zeitgeschmacks<br />
in höchster Weise entsprach. 1781 veranlaßt<br />
Fürst Alois I. von Liechtenstein<br />
eine radikale Umgestaltung des Schloßparks.<br />
Er ließ einen Großteil der Landschaft<br />
zwischen dem Schloß und dem<br />
Fluß Dyje (Thaia) in die barocke Parkanlage<br />
einbeziehen und vergrößerte sie<br />
so um ein Vielfaches. Den Schwerpunkt<br />
verlagerte er in das Gehege Hvězda<br />
(Stern), das von sternförmig angelegten<br />
Alleen durchzogen wurde, an deren<br />
Enden er verschiedenartige Bauwerke<br />
plazieren ließ. Die meisten von ihnen<br />
stammen von Josef Hardmuth. In der<br />
Mitte der sich kreuzenden Pappelalleen<br />
errichtete er den Sonnentempel (1794,<br />
Schloß Valtice (Feldsberg) besteht aus der baulich komponierten geschlossenen Anlage einer<br />
ursprünglichen mittelalterlichen Burg (1192)<br />
auch Sternen- oder Dianatempel genannt).<br />
Am Ufer des Teiches legte er im<br />
selben Jahr ein neues Badehaus (Nové<br />
Lázně), ein kubistisches Gebäude mit<br />
einem dorischen Säulengang an. Ein<br />
Jahr später kommt der chinesische Pavillon,<br />
ein dreistöckiges, an eine Pagode<br />
erinnerndes Gebäude hinzu. Eine<br />
der Alleen führt zum entlegensten Punkt<br />
des Parkes, wo sich der Obelisk (1798)<br />
in ägyptischen Stil mit einem sechszackigen<br />
Stern in der Mitte in die<br />
Höhe erhebt. 1798 entstand am Ufer<br />
des Fischteiches das holländische Fischerhäuschen<br />
(holandská rybárna) mit<br />
Anlegeplatz, dessen Portal aus Haifischzähnen<br />
leider nicht erhalten blieb.<br />
Der Eisgruber Park hatte sich also<br />
um das Jahr 1800 in eine Kulturlandschaft<br />
im Sinne der europäischen Aufklärung<br />
verwandelt.<br />
Alois’ Bruder Johann Josef I.<br />
(1760-1836) setzte ab 1805 die Umgestaltung<br />
des Schloßparks fort. Im<br />
Ringen zwischen „künstlich Gärten“<br />
französischen Typus und „natürlicher“<br />
Landschaftsgestaltung nach englischem<br />
Vorbild trug bald die zweite Variante
den Sieg davon. Zwischen 1805 und<br />
1811 wurde unter unvorstellbaren Kosten<br />
und unter Mitwirkung von 500 Angestellten<br />
das Sumpfgelände an den<br />
Armen der Dyje trockengelegt. Der<br />
Flußlauf der Dyje wurde umgeleitet, es<br />
entstanden Fischteiche, Bäche und<br />
Deiche und das Ganze wurde durch<br />
Alleen gefestigt. Das Gelände zwischen<br />
Schloß und Minarett verwandelte<br />
sich so in die malerische Illusion<br />
einer Auenlandschaft. Den Mittelpunkt<br />
bildet der vergrößerte Fischteich mit<br />
vielen kleinen Inseln.<br />
Mitten im Parkt stellt Hardmuth die<br />
künstliche Ruine eines römischen Viadukts<br />
mit Wasserfall und Höhle (1805)<br />
auf und die eingefallene Försterei wird<br />
durch das Jagdschlößchen Janův hrad<br />
(1807-1810) in Gestalt einer Ritterburgruine<br />
mit mittelalterlichen Interieur abgelöst.<br />
Unweit davon entsteht das Jagdschlößchen<br />
(Lovecký zámeček, 1806)<br />
im Geiste der Antike, von dessen Terrasse<br />
die Treibjagden beobachtet werden<br />
können. Auf einem Hügel oberhalb des<br />
neuen Badehauses findet der an ein<br />
antikes Bauwerk gemahnende Tempel<br />
der Musen seinen Platz (1807-1808).<br />
Das wohl eindrucksvollste architekto-<br />
Kolonnade mit korinthischen Säulen, das Dach wird als Aussichtsterrasse genutzt.<br />
nische Kunstwerk ist zweifelsohne das<br />
Minarett (1797-1804). Von seiner Besonderheit<br />
zeugt auch sein Standort an<br />
der Kreuzung der zum Hauptportal des<br />
Schlosses führenden Allee und einem<br />
der Hauptwege durch den Park. Das<br />
Minarett stellt einen der Höhepunkte<br />
in Hardmuths Schaffen dar.<br />
Anfang des 19. Jahrhunderts wandelt<br />
sich der ehemalige Schloßpark in einen<br />
der Mode entsprechenden Naturpark,<br />
der sich auf grasbedeckten Flächen bis<br />
nach Valtice (Feldsberg) hinzieht. Das<br />
Schloßgebäude erfährt Änderungen<br />
im klassizistischen Stil. Zu einigenden<br />
Elementen der schier unbegrenzten<br />
kultivierten Parklandschaft werden<br />
zahlreiche kleine, über das Gelände<br />
hin ausgestreute,<br />
architektonische<br />
Kunstwerke. 1809<br />
entsteht der Musterhof<br />
Nový dvůr.<br />
Auf einer Anhöhe<br />
über dem Mittleren<br />
Fischteich (Prostřední<br />
rybník) erbaut<br />
der Architekt<br />
Josef Kornhäusl<br />
ein Fischschlößchen<br />
(Rybniční zámeček,<br />
1816) im Empire. Ebenfalls<br />
von Kornhäusl stammt der im Stil der<br />
Antike gestaltete Apollo-Tempel mit<br />
seiner großen Aussichtsterrasse. Die<br />
heute hier zu sehenden überlebensgroßen<br />
Frauenplastiken schmückten<br />
ursprünglich den bereits zerfallenen<br />
Tempel der Musen. Kornhäusels individuellem<br />
Zugang zur Baukunst bezeugt<br />
auch das Grenzschlößchen (Hraniční<br />
zámeček, 1816) welches das Panorama<br />
des Holovecer Fischteiches<br />
(Holovecký rybník) mit einschließt.<br />
Das Bächlein, das der Vase einer am<br />
Boden liegenden steinernen Nymphe<br />
entströmt, bildete vor Zeiten die Grenze<br />
zwischen Mähren und Österreich,<br />
daher auch der Name des Schlößchens.<br />
Schloß Valtice (Feldsberg)<br />
Einen rechteckigen Grundriß weißt die<br />
Kolonnade mit ihren korinthischen<br />
Säulen auf, deren Mittelteil einen Triumphbogen<br />
bildet. Auf das ebene Dach,<br />
welches als Aussichtsplattform konzipiert<br />
ist, gelangt man über Wendeltreppen<br />
in den Eckpavillons.<br />
In das Landschaftsensemble zwischen<br />
Lednice und Valtice gehört auch<br />
der Dianatempel (Dianin chrám auch<br />
Rende-vouz, 1818-1813), der einem<br />
römischen Triumphbogen gleicht. An<br />
der von Kastanienbäumen gesäumten<br />
Hauptstraße zwischen Valtice und<br />
Lednice entstand 1818 aus der ehemaligen<br />
Fasanerie ein kleines Lustschlößchen<br />
– Belvedere – gleichfalls<br />
von J. Hardtmuth. Nicht zu vergessen<br />
sei auch die St.<br />
Hubertuskappelle<br />
(1855) im Wäldchen<br />
Boží les in<br />
romantischen Formen<br />
der Gotik.<br />
Seiner einzigartigenarchitektonischen<br />
Kunstwerke<br />
wegen, deren viele<br />
unverändert erhalten<br />
geblieben sind,<br />
seiner künstlich<br />
angelegten Teiche, Park- und Waldflächen<br />
bleibt das Ensemble von Lednice-Valtice<br />
ein einmaliges Zeugnis<br />
europäischer Landschaftsgestaltung.<br />
Zoja Matulíková<br />
Photos: CzechTourism<br />
Quellen:<br />
P. Zatloukal: Příběhy dlouhého století<br />
(Geschichten eines langen Jahrhunderts),<br />
Brno 2004, Z. Novák: Lednicko-valtický<br />
areál jako významný doklad krajinářské<br />
tvorby ve střední Evropě (Der Raum Eisgrub-Feldsberg<br />
als ein bedeutendes Beispiel<br />
der Landschaftsgestaltung in Mitteleuropa).<br />
In: Zprávy památkové péče (Berichte<br />
der Denkmalpflege, Jg. LIII, 1993,<br />
Město Valtice, Valtice 2003<br />
19
20<br />
1 2<br />
4 5 6
3<br />
7 8<br />
Galerie<br />
Die Attraktivität der Burgen und Ruinen<br />
wurde durch romantische Poesie und Verherrlichung<br />
der mittelalterlichen Tradition im 19.<br />
Jahrhundert. Zu Schloßparks zählten künstliche<br />
Ruinen (die bekannteste erhaltengebliebene ist<br />
Janův Hrádek in Lednice /Eisgrub/), sie wurden<br />
aber auch alleinstehend errichtet, etwa Burg Prašivice<br />
im Pilsner Land. Diese wurde von JUDr. Ludvík<br />
Taaffe als Kopie des Familiensitzes in Irland.<br />
In der Mitte: Bezděz (Bösig)<br />
1. Žebrák (Zebrak; im Vordergrund)<br />
und Točník (Točnik)<br />
2. Boskovice (Boskowitz)<br />
3. Gutštejn<br />
4. Frýdštejn (Friedstein)<br />
5. Okoř<br />
6. Hazmburk (Hasenburg)<br />
7. Sloup<br />
8. Rotštejn<br />
Photos: Czech Tourism<br />
21
22<br />
Der Name des bedeutendsten Dichters<br />
der tschechischen Romantik und Begründers<br />
der modernen tschechischen<br />
Dichtung schlechthin, Karel Hynek Mácha<br />
(16.11.1810-5.11.1836), ist mit vielen<br />
Mythen und Traditionen „außerliterarischen“<br />
Charakters umwoben. Máchas<br />
lyrisch-episches Poem Máj (Der<br />
Mai) wurde zum Inbegriff des Liebesgefühls,<br />
Scharen von Liebespaaren verabreden<br />
sich für den 1. Mai an Máchas<br />
Statue auf dem Prager Laurenziberg<br />
(Petřín), einem Denkmal, das in Anbetracht<br />
des existentiellen Gewichts von<br />
Máchas Œuvre, etwas süßlich-idyllisch<br />
angehaucht ist. Die berühmten ersten<br />
vier Zeilen des Maigedichts: Byl pozdní<br />
večer – první máj –/ Večerní máj –byl<br />
lásky čas./ Hrdliččin zval ku lásce<br />
hlas,/Kde borový zaváněl háj.(„Spätabend<br />
war’s, es war der erste Mai -/ Ein<br />
Abendmai – es war der Minne Zeit./<br />
Die Turteltaube lockt zur ‚Seligkeit/ Im<br />
duft’gen Kieferhain, so traut und treu. –<br />
dt. von Alfred Waldau).“ wissen – nach<br />
Umfragen von Büchereien – die Landes-<br />
kinder mindestens zur Hälfte auswendig<br />
zu rezitieren. Und nicht nur das: Máchas<br />
mutige, revoltierende Geste machte den<br />
freiheitliebenden Dichter auch zur Imago<br />
der tschechischen freiheitlichen Bestrebungen,<br />
sei es zuerst der nationalen, sei es –<br />
später – der sozial-politischen. Signifikant<br />
ist, daß auch die Studentenkundgebung<br />
am 17. November 1989, die die Wende in<br />
der Tschechoslowakei einleitete, mit dem<br />
Umzug an Máchas Grab auf dem Friedhof<br />
in Prag-Wyschehrad begonnen wurde …<br />
Hier sei allerdings Máchas Dichterwerkes<br />
gedacht. Besonderes Augenmerk<br />
Frontispiz des Maipoem von Max Švabinský<br />
(Jan Laichter, Praha, 1912)<br />
KHM<br />
verdient es allein aus dem Grund, daß<br />
es zu den meistveröffentlichten und<br />
unter allerhand Gesichtspunkten und von<br />
Illustrationen zu K. H. Máchas Máj von Jan Zrzavý<br />
(O. Štorch-Marien, Praha 1924)<br />
Illustrationen zu K. H. Máchas Máj<br />
von František Kobliha (J. Pick, 1953)<br />
diversen methodischen Ansätzen aus<br />
interpretierten gehört. Seit der Abfassung<br />
erlebte Der Mai über 250 Auflagen und<br />
wurde in alle bedeutenden europäischen<br />
Sprachen übersetzt. Darüber wie auch<br />
über das Schicksal des Dichters selbst<br />
wurden stoßweise Studien, Aufsätze und<br />
Monographien geschrieben und Dutzende<br />
von Fachtagungen abgehalten. Zu<br />
Máchas Erbe bekennen sich immer neue<br />
Generationen federkundiger Männer und<br />
Frauen, von den Symbolisten vom Ende<br />
des 19. Jahrhunderts über die Angehörigen<br />
der zwischenkriegszeitlichen Avantgarde<br />
bis zu den Autoren der Gegenwart. Anregungen<br />
holten sich bei ihm auch unzählige<br />
bildende Künstler, Komponisten,<br />
Filme- und Theatermacher.<br />
Máchas Werk beschränkt sich<br />
aber nicht nur auf das Maipoem. 1938<br />
erschien ein relevanter Mácha-Sammelband<br />
unter dem Titel Torzo a tajemství<br />
Máchova díla (Torso und Geheimnis von<br />
Máchas Werk. Gerade diese beiden Be-<br />
griffe sind für die Charakteristik von Máchas<br />
Persönlichkeit konstitutiv. Máchas<br />
Gesamtwerk bleibt ein Torso, wenn das<br />
Maipoem, das er im Selbstverlag vor dem<br />
Tode herausbrachte, außeracht gelassen<br />
wird. Mácha schrieb nur noch den kurzen<br />
Roman Cikáni (Die Zigeuner), ein<br />
paar Erzählungen für Zeitschriften und<br />
etwa sechs Dutzend kleinere Gedichte<br />
(manche von gleichem Rang wie das<br />
Maipoem). Den Rest machen eigentlich<br />
Fragmente und Skizzen, dramatische<br />
und prosaische Entwürfe aus – Leistungen,<br />
die zu entfalten und abzurunden<br />
Frontispiz des Maipoem von Cyril Bouda<br />
(Erna Janská, Praha, 1927)
dem Frühvollendeten versagt blieb. Aber<br />
selbst das Maipoem ist von fragmentärem<br />
Charakter, seine vier Gesänge und zwei<br />
Intermezzi sind isolierte Gefüge. Das<br />
Offene und Unvollendete von Máchas Werk<br />
macht es möglich, es mit neuen Bezügen<br />
und Bedeutungen zu bedenken. Máchas<br />
Sprachwerk im allgemeinen, und das<br />
Maipoem im besonderen, hört nicht auf,<br />
die Rezeption durch seine Einbildungskraft,<br />
aber auch fundamentale innewohnende<br />
Vieldeutigkeit zu aktivieren. Mácha<br />
war der erste, der sich nicht mit volksbildnerischen,<br />
moralistischen und nationalagitatorischen<br />
Zielsetzungen und Instrumentalisierungen<br />
zufrieden gab, welche<br />
die zahme und einschichtige Literatur<br />
der tschechischen nationalen Emanzipation<br />
als ihr Hauptanliegen verstand.<br />
Mit dem ungewohnten, seltenen Mut<br />
(der eine scharfe kritische Auseinandersetzung<br />
notwendig auf den Plan rufen<br />
mußte) sagte er sich vom emanzipatorischen<br />
Idyll los und gab sich radikalen,<br />
antiillusionistischen, ja abgrundtiefen<br />
Fragen nach dem Sinn der Existenz hin.<br />
Er stellte den Einzelnen und seine Innenwelt,<br />
die der innerlich widersprüchlichen<br />
und der reglementierten Außenwelt entgegengesetzte<br />
Innenschau in den Mittelpunkt<br />
seines prononcierten Suchertums.<br />
Das Maipoem ist unter diversesten<br />
Gesichtspunkten zu besprechen. In der<br />
obersten Schicht ist es eine typische<br />
romantische Erzählung über Vatermord,<br />
Schuld und Sühne, angelegt nach den<br />
Regeln einer zeitgenössischen Räubergeschichte.<br />
Ebenso berechtigt ist sein<br />
Verständnis als dramatische Meditation<br />
über die Endlichkeit des individuellen<br />
Menschenlebens angesichts der ewigen<br />
Schönheit der Natur, die gegenüber dem<br />
Menschendasein gleichgültig bleibt.<br />
„Bez konce láska je! – Zklamanáť láska<br />
má!“ „Ohn Ende die Liebe! – Enttäuscht<br />
Literatur<br />
Jeder Mensch würde den andern<br />
lieben, wenn er ihn nur verstünde,<br />
wenn er in ihn nur Einsicht halten<br />
könnte.<br />
Karel Hynek Mácha<br />
(1810-1836)<br />
die Liebe mein!“ – diese kontrastvolle<br />
Zeile im Schlußteil bietet eine andere<br />
Möglichkeit der Auslegung: das Maipoem<br />
als Projektion des intimsten Gefühllebens<br />
zu begreifen. Man könnte auch andere<br />
Auslegungen in Erwägung ziehen:<br />
an denen gibt es Dutzende: bei positivistischen<br />
angefangen, über strukturalistische,<br />
psychoanalytische, soziologische<br />
bis hin zu religionswissenschaftlichen.<br />
Manche analysierten internationale literarische<br />
Einflüsse und erinnerten an englische<br />
Romantiker (Byron, Shelley), deutsche<br />
(Novalis) und polnische (Mickiewicz).<br />
Ihnen allen verstand es Mácha als Ebenbürtiger<br />
gleichzutun. Mit seinem Werk<br />
bahnte die moderne tschechische Dichtung<br />
ihrerseits einen Dialog mit den elaboriertesten<br />
europäischen Literaturen an.<br />
Manche Interpreten waren vom geheimnisvollen<br />
Leben des Dichters angetan.<br />
Es ist etwas sonderbar: auch wenn<br />
kein zuverlässiges Porträt erhalten blieb,<br />
weiß man ziemlich vieles über Mácha.<br />
Daß er die Kindheit in der Familie eines<br />
verarmten Prager Kaufmanns verbrachte,<br />
ein Gymnasium besuchte und das Studium<br />
an der Juristischen Fakultät belegte,<br />
einer exzessiven Lektüre oblag, Burgen<br />
Frontispiz des Maipoem von J. Stretti-Zamponi (Loseblattausgabe, Spolek českých bibliofilů /des Vereins der tschechischen Bücherfreunde/, Praha, 1920)<br />
23
24<br />
und Ruinen bewanderte, zu Fuß nach Italien<br />
zog, mit einer patriotischen Truppe<br />
schauspielerte. Man weiß um seine stolze,<br />
ja überhebliche Natur, viel wurden<br />
auch die Extravaganz in puncto Verhalten<br />
und Kleidung, seine leidenschaftliche<br />
erotische Beziehung zu Lori Šomková<br />
und seine Eifersüchteleien erörtert.<br />
Man kennt die Details seiner ersten<br />
wie seiner letzten Anstellung als Jurist<br />
in Litoměřice (Leitmeritz), den Hintergrund<br />
der schweren Ansteckung, die<br />
ihm zum Verhängnis werden sollte.<br />
(Er unterlag ihr am 5. November 1836.)<br />
Die Beisetzung fand fatalerweise an dem<br />
Tag statt, an dem Mácha Lori, Mutter<br />
seines einige Wochen alten Sohn Ludvík,<br />
heiraten sollte.<br />
Die kommunizierenden Röhren<br />
seines Schaffens und seiner Lebenserfahrungen<br />
scheinen durchsichtig zu sein.<br />
Es mangelt nicht an zeitgenössischen<br />
Zeugnissen, zur Verfügung stehen seine<br />
Korrespondenzen, Notate und Tagebücher.<br />
1993 wurden sogar die letzten Details<br />
von Máchas sexuellen Beziehung in<br />
dem Buch Mácha intimní (Mácha intim)<br />
Illustrationen zu K. H. Máchas Máj von Karel<br />
Svolinský (V. Šmidt, Praha, 1940)<br />
Illustrationen zu K. H. Máchas Máj von Jan Zrzavý<br />
(O. Štorch-Marien, Praha 1924)<br />
František Kobliha, aus einem freien Zyklus von zehn<br />
Holzschnitten (Moderní revue, Praha, 1920)<br />
Illustrationen von Toyen<br />
(Družstevní práce, Praha, 1936)<br />
gelüftet. Und als wäre dessen nicht<br />
genug: Man möchte noch mehr erfahren;<br />
Mácha und seine Bestimmung provozieren<br />
unsere Neugier als etwas Nahes und<br />
Lebendiges. Man erfindet in einer Tour<br />
bizarre, skurrile Legende hinzu. Eine der<br />
letzten ist der angebliche Fund eines<br />
Briefes an den Freund Karel Hindl, in<br />
dem der Dichter seine angebliche Übernachtung<br />
auf der Burg Houska schildert,<br />
bei der er ungewollt eine Zeitmaschine<br />
berührte, die ihn durch einen Zeittunnel<br />
ausgerechnet in das Jahr 2006 (!) einschleuste.<br />
Diese einleuchtende Mystifizierung,<br />
die zum Glanzpunkt einer publizistischen<br />
Sendung im Fernsehen Nova<br />
gestylt wurde, kam auf der Welle des<br />
Interesses für Esoterik, fantasy literature<br />
und Science-Fiction dahergeschwommen.<br />
Auch wenn solches der tieferen<br />
Erkenntnis der Wahrheit über den Dichter<br />
wenig dienlich ist, zeugt es doch<br />
von der permanenten Beschäftigung mit<br />
dem Wortkünstler.<br />
Máchas vorjähriger 170. Todestag<br />
stellte das Interesse reichlich unter<br />
Beweis. Extensiv war die Resonanz<br />
im Internet: Ich fand dort nicht weniger<br />
als 6,5tsd. Links, die auf Hunderte und<br />
Aberhunderte verschiedenster Veranstaltungen,<br />
Ausstellungen, literarischer
Wettbewerbe und Vorträge hinwiesen.<br />
Die Webseiten brachten aber auch persönliche<br />
Initiativen in Form von Leseerlebnisberichten,<br />
Abhandlungen und informeller<br />
Diskussionsblogs und Chats.<br />
Es wurden auch neuartige Produkte wie<br />
Laternenumzüge oder Sonderfahrten in<br />
den Fußstapfen des Dichters angeboten.<br />
Eine angenehme Überraschung bedeutete<br />
das Angebot von über vierzig Bühnendarbietungen<br />
von Berufs- wie Laienund<br />
Soloschauspielern. Dargeboten wurden<br />
die Dramatisierungen, mal als Melodramen,<br />
mal „postmodern“, mal unter<br />
Begleitung der World Music oder orientalischer<br />
Musik, mal mit der Musik der<br />
Band Queen oder den Ausdruckstanz<br />
übend. Sie wurden von zumeist jungen<br />
Teams nicht nur in Klubs und Theatern,<br />
sondern auch unter freiem Himmel,<br />
hauptsächlich an Orten, die mit Máchas<br />
Leben verknüpft sind (den Burgen<br />
Valdštejn und Kokořín u.a.), ausgeführt.<br />
Máchas Jahrestag riefen alle maßgebenden<br />
tschechischen elektronischen und<br />
Printmedien ins Gedächtnis. Der öffentlich-rechtliche<br />
Tschechische Hörfunk<br />
strahlte drei umfassende Sendungen auf<br />
zwei Frequenzen aus. In der Prager Galerie<br />
Vyšehrad (Wyschehrad) war eine<br />
umfangreiche Ausstellung Máchascher<br />
Variationen in zeitgenössischer Malerei<br />
und Photokunst zu sehen. Auch das dies-<br />
Karel Hynek Mácha im Selbstbildnis<br />
jährige Festival des künstlerischen Vortrags<br />
Wolkerův Prostějov war Máchas<br />
Werk gewidmet, auf dem auch eine CD-<br />
ROM präsentiert wurde, die dreizehn erhaltengebliebene<br />
Rundfunk- und Schallplattenaufnahmen<br />
des Mai-Vortrages vereint.<br />
Schließlich wäre noch die in Vorbereitung<br />
befindliche Máj-Verfilmung<br />
von F.A. Brabec zu erwähnen.<br />
Die Menge der Aktivitäten, die den<br />
Dichter betreffen, übersteigt bei weitem<br />
den Rahmen der zu zollenden Anerken-<br />
Illustrationen von Otakar Štáfl (J. Otto, Praha, 1917)<br />
K.H. Mácha im Almanach Máj (1858)<br />
nung des toten Klassikers. Mácha teilt<br />
nicht das traurige Schicksal anderer<br />
und achtunggebietender literarischer<br />
Köpfe, von denen man seit der Schulzeit<br />
nicht mehr gehört hat. Der Fall Mácha<br />
läßt hoffen, daß die Poesie hierzulande<br />
wohl kein toter und uninteressanter<br />
Bedarfsartikel sei …<br />
Rudolf Matys<br />
Photos: Archiv Redaktion,<br />
Reproduktionen aus den Sammlungen<br />
des Kunstgewerbemuseums Prag<br />
25
26<br />
Imagination und Faszination<br />
Josef Sudek<br />
Josef Sudek zählt zu den profiliertesten<br />
und meistveröffentlichten tschechischen<br />
Photographen des 20. Jahrhunderts.<br />
Maximale Leistungen erbrachte er,<br />
nachdem er sich von den Regeln der Moderne<br />
losgelöst hatte. Noch in den 1930er<br />
Jahren hielt Sudek an der Außenwelt des<br />
Funktionalismus fest. Seit den 1940er Jahren<br />
ging er seinen eigenen Idealen nach.<br />
Die Kontinuität seiner Arbeit wurde nicht<br />
einmal durch die Nachkriegsdoktrin des<br />
sozialistischen Realismus gestört. Er<br />
kehrte im Gegenteil zum Piktorialismus<br />
seiner Anfänge zurück. Dieser Rückbesinnung<br />
entspringen die hier wiedergegebenen<br />
Bildkleinodien.<br />
Josef Sudek (geb. am 17. März 1896<br />
in Kolín, gest. am 15. September 1976<br />
in Prag) debütierte 1921 auf der XII.<br />
Mitgliederausstellung der Kunstphotos<br />
der Tschechischen Amateurphotographenklubs<br />
in Prag. In der Sparte Landschaftsbild<br />
trug er den ersten Preis für<br />
einen Bromöldruck davon. Zu dem Zeitpunkt<br />
unternahm Sudek Wanderungen<br />
in das Elbe-Tafelland (Polabí), in dem<br />
er sich zusammen mit seinem Freund Jaromír<br />
Funke der Romantik des Pastelltönens<br />
hingab. „Es ist bei seinen heutigen<br />
Ansichten gewissermaßen die Ironie<br />
des Schicksals“, glossierte keine sieben<br />
Jahre später der Amateurkollege, Chemiker<br />
Jan Lauschmann, Sudeks Debüt.<br />
Der Ingenieur Lauschmann meinte<br />
damit Sudeks Neubesinnung. Er kommentierte<br />
die moderne Ablehnung formvollendender<br />
Verfahren, die photogra-<br />
phische Positive Graphikblättern ähnlich<br />
machten. Allerdings zeichneten diese Landschaftsbilder<br />
des angehenden Künstlers<br />
etwas mehr vor, als daß man sie als bloße<br />
Impressionen verträumter Spaziergänge<br />
die Elbe entlang mit einer Handbewegung<br />
hätte abtun können. Und es war<br />
kein Zufall, daß der heimatliche Landstrich<br />
nach neuen Abbildungen in fort-<br />
geschritteneren Etappen seines Schaffens<br />
verlangte …<br />
Sudek reiste programmatisch nicht ins<br />
Ausland: er sehnte sich nicht nach touristisch<br />
flüchtigen Augenblicken, sondern<br />
nach erlebtem geistigen Tiefgang. In der<br />
Zeit des Heranwachsens fühlte er sich<br />
im Milieu des barocken Nové Dvory von<br />
altüberlieferter Kultur umgeben. Das im<br />
historischen Dreieck gelegene Städtchen<br />
mit Zentren der reichen Elbniederung,<br />
Kutná Hora (Kuttenberg) und Kolín (Ko-<br />
Josef Sudek, Nordwestböhmen, Abraumhalden – Ležáky vom Roten Berg aus, 1961<br />
lin), wurde ihm zur Heimstatt und verlieh<br />
seinem rein persönlichen Schaffen<br />
Sinn und Zeitlosigkeit. Die weich gezeichneten<br />
Darstellungen des Elbe-Tafellandes,<br />
mit denen er Mitte der 1920er<br />
Jahre internationale Salons beschickte,<br />
vermitteln das Einzigartige der Imagination<br />
und Faszination des Lebens. Kein<br />
Wunder: er hätte es im Weltkrieg beinahe<br />
eingebüßt, als er sich an der italienischen<br />
Front nach dem Einschlag einer<br />
Artilleriegranate eine Splitterwunde davontrug<br />
und den rechten Arm verlor.<br />
Das Sujet der Vorlagen aus dem Elbe-<br />
Tafelland gibt ein flaches Gelände, zutiefst<br />
anspruchsvoll für eine kompositionelle<br />
Verfremdung, ab. Noch schwieriger<br />
läßt sich in solch einem Milieu der<br />
Bildraum entwerfen. Bereits der junge<br />
Sudek bemühte sich, effektvolle Konventionen<br />
zu durchdringen und zu überwinden.<br />
Wie hätten Schablonen einen<br />
Menschen auch beeinflussen können,<br />
der zuvor Schlachtfelder und todgeweihte<br />
Kameraden photographierte?<br />
Die juvenilen Versuche sollten Sudek<br />
unmittelbare Anerkennung verschaffen.<br />
1921 bewarb er sich um einen Studienplatz<br />
an der Staatlichen Fachschule für<br />
Graphik, aufgenommen wurde er aber<br />
erst ein Jahr später. Als Absolvent der<br />
damals einzigen tschechischen Schule<br />
mit dem Fach Kunstphotographie warb<br />
er damit auch auf dem Aushängeschild<br />
seiner Firma unter dem Laurenziberg in<br />
Prag. Den Beruf als Photograph ergriff<br />
er ganz ab Ende Januar 1928.<br />
Einen Wendepunkt in seinem Schaffen<br />
brachte das Jahr 1940. Er verabschiedete
Josef Sudek, Mittelgebirge-Hazmburk, 1948-1951<br />
sich nämlich von geläufigen Auftragsbildern.<br />
Der Künstler manifestierte den<br />
Abschied mit den simpelsten Motiven,<br />
wobei er darauf bestand, daß die Größe<br />
des Negativs der des entwickelten Positivs<br />
entspräche: er lehnte es deshalb ab,<br />
die Photos zu vergrößern. Er begründete<br />
sein Verfahren damit, daß ihm an der<br />
Erhaltung noch so feiner Tönungen<br />
liege. Nach und nach gelangte er zum<br />
Format 30 x 40 cm. Die Größe des Negativs<br />
steckte die Fläche ab, auf der er<br />
Josef Sudek – Aus dem Zyklus Verschwundene Statuen – Spaziergang im Mionší-Urwald, 1952-1970<br />
Josef Sudek, Beskiden, undatiert<br />
Photokunst<br />
„Sudek wird in den meisten Interpretationen<br />
banalisiert, trivialisiert,<br />
popularisiert. Oft werden diverse<br />
Photos, die Karlsbrücke abbildend,<br />
oder Stilleben mit einer Rose veröffentlicht:<br />
sentimentale Effekte bleiben<br />
nicht aus.<br />
Doch Sudek ist eine weit größere<br />
Persönlichkeit mit tiefer Geistigkeit.<br />
Dies ist ein Grund dafür, warum<br />
seine Aura die auf die junge Generation<br />
wirkt.“<br />
Anna Fárová<br />
Theoretikerin der Kunstphotographie,<br />
Sudek-Biographin (1928)<br />
die Augen der Zuschauer wandern und<br />
diese über das Reale wie das Festgehaltene<br />
nachdenken ließ. Spaziergänge<br />
in den Prager Gärten und Parkanlagen<br />
bekamen im Laufe des Krieges einen<br />
neuen, verträumten photographischen<br />
Ausdruck. Sudek leitete damit sein reifes<br />
Werk ein.<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg bereicherte<br />
er seine Formatskala um neue<br />
27
Josef Sudek, Landschaft um Most (Brüx), 1961<br />
28<br />
Dimensionen. Der Hersteller Kodak<br />
brachte Ende des 19. Jahrhunderts die<br />
Kamera Panoram No 4 auf den Markt.<br />
Deren Blickwinkel betrug 112˚. Der<br />
Photograph legte Flachfilme ein, die<br />
Kontaktbilder hatten dann die Ausmaße<br />
8,7 cm x 28,6 cm.<br />
Die berühmteste Kollektion aus dieser<br />
Zeit heißt Praha panoramatická (Prag<br />
panoramatisch), erstmals ging sie 1959<br />
mit 15tsd. Exemplaren in die Presse. Den<br />
Einband und die Aufmachung dieser Auflage<br />
besorgte ein aus einer alten Künstlerfamilie<br />
stammender Architekt: Otto<br />
Rothmayer. Dieser hatte Sudek bereits<br />
vordem geholfen, seine Verfahren zu vervollkommnen:<br />
Er entwarf für den Photographen<br />
einen Sack, in dem die panoramatische<br />
Kamera mit frischem Material<br />
direkt bei der „Feldarbeit“ aufzuladen war.<br />
Manchmal ließ die Doppelbelichtung –<br />
zwei übereinander geschobene Aufnahmen<br />
auf einem Negativ – überraschende<br />
Collagen entstehen. Mit deren jemaligen<br />
(z.T. auch seitenverkehrten) Vergrößerungen<br />
bekundete Sudek ihre Akzeptanz.<br />
Eine andere Kollektion der Panoramabilder<br />
(ein selbständiges Album)<br />
visierte die unterhöhlte Landschaft Nordwestböhmens<br />
an – ein Dokument verheerender<br />
Umweltschäden. Der Kurator Antonín<br />
Dufek besorgte für die Photosammlung<br />
der Mährischen Galerie Brünn<br />
eine Makette von 128 Positiven. In den<br />
1960er Jahren wurde sie für die Herausgabe<br />
unter dem Titel Severní krajina<br />
(Landschaft im Norden) präpariert. Im<br />
Nachwort zur posthumen Edition wurde<br />
sie von Dufek als das umfangreichste<br />
und wohl radikalste Werk der tschechischen<br />
Kultur bezeichnet, das der unansehnlichen<br />
Industrielandschaft gewidmet<br />
war. Das Buch kam erst 1999 unter<br />
dem Titel Smutná krajina (Trauerlandschaft)<br />
und dem Untertitel Severozápadní<br />
Čechy 1957-1962 heraus.<br />
Über viele Jahre hinweg wurde auch die<br />
Herausgabe der Auswahl Karlův most<br />
(Karlsbrücke) hinausgeschoben, bei deren<br />
Entstehung die Panoramakamera ebenfalls<br />
eingesetzt wurde. Die Kollektionen<br />
Chrám svatého Víta (St. Veitsdom), České<br />
středohoří (Das Böhmische Mittelgebirge)<br />
und Jarní Praha (Prag im Frühling)<br />
sind nicht einzeln erschienen.<br />
Die zweite davon (České středohoří –<br />
Das Böhmische Mittelgebirge) holte<br />
weit aus: Sie war als Weg eines Wanderers<br />
in der Landschaft gedacht. In das<br />
Böhmische Mittelgebirge wurde Sudek<br />
vom Maler Emil Filla eingeführt, der<br />
die dortige Landschaft mit Farbtusche<br />
auf vergleichbar großen Formaten wie<br />
Sudeks Panoramabilder verewigte. Die<br />
rein bildkünstlerische Modellierung<br />
des Bildraumes verwies auf das gleiche<br />
Thema wie Sudek: das nicht zu bannende<br />
Unendliche.<br />
Josef Sudek, Nordwestböhmen – Humboldtka, 1957 Josef Sudek, Landschaft mit Gasometer, 1950er Jahre
Die Landschaft in der Umgebung von<br />
Hukvaldy (Hochwald) und die Beskiden<br />
wurden für Sudek zum Ziel langer Sommertouren.<br />
In den langgezogenen Tälern<br />
fand Sudeks Panoramaphotographie von<br />
den 40er Jahren an einen neuen Stoff.<br />
Mährische Panoramabilder wurden in der<br />
ersten Monographie aus der Mitte der<br />
50er Jahre und in dem Zeitraum 1946-<br />
1971 Album Janáček a Hukvaldy (Leoš<br />
Janáček und Hochwald) wiedergegeben.<br />
Mitte der 60er Jahre erklärte der<br />
Photograph seine Vision von der gleitenden<br />
Panoramierung mit der für Laien<br />
bestimmten Geradlinigkeit: „Die Ergebnisse<br />
machten mich stutzig. Das, was<br />
den zentralen Inhalt ausmachen sollte,<br />
war manchmal gar nicht nicht. Erst<br />
später lernte ich sehen. Ich stellte fest,<br />
daß ich den gleichen Blick haben muß,<br />
wie die Kamera. So drehte ich mich<br />
etwa schnell im Gehen.“<br />
Vor allem eliminierte Josef Sudek das<br />
übliche Schwanken zwischen der Totalität<br />
und den Einzelheiten des Bildes,<br />
auch die scharf gezogenen Gegensätze<br />
zwischen Licht und Dunkel. Von Interesse<br />
ist ein Zeugnis, wie er seine photographischen<br />
Vorhaben in der Lage<br />
umsetzte, wenn der von ihm gesuchte<br />
Nebelschleier in der Landschaft fehlte.<br />
Darüber wird von Rudolf Janda berichtet,<br />
der sich aufs Photographieren von<br />
Urwäldern verlegte. Ähnliches wußte<br />
von dem reifen Sudek auch der Photograph<br />
Ludvík Baran in dem Vorwort<br />
zu Jandas bislang unveröffentlichter<br />
Monographie zu berichten: „Sudek<br />
richtete die Kamera auf das gewählte<br />
Sujet zwischen der 18. und 19. Stunde,<br />
im Sommer. Janda kannte die Längen<br />
seiner Belichtungen (rd. zehn Minuten)<br />
und ging inzwischen Heidelbeeren sammeln,<br />
statt zu warten. Nach einer halben<br />
Stunde war er zurück. Der Meister debattierte<br />
mit Petr Helbich über moderne<br />
Josef Sudek, Landschaft um Humboldtka, 1957-1962<br />
Malerei, über Filla und Šíma. Er hörte<br />
eine Zeitlang zu, dann aber erinnerte er<br />
sie an die Rückkehr. Doch Sudek, im<br />
Moos liegend, entgegnete: ‚Wir sind<br />
beim Belichten‘. Das Bild des schlesischen<br />
Urwalds, das Sudek später Janda<br />
zeigte, hielt ein täuschend weiches<br />
Licht fest, das Wurzeln, Baumstämme<br />
und Gräser sanft als magische, sonst<br />
schwerlich nachzuahmende Dämmerung<br />
umspülte. Dies ermöglichte eine<br />
über eine halbe Stunde andauernde<br />
Belichtung mit höchst abgeblendetem<br />
Objektiv alten Typs. Sudek segmentierte<br />
die Belichtung in einige aufeinander<br />
folgende Phasen und transmutierte<br />
damit die Atmosphäre des Sujets in<br />
wundervolle Lichtempfindungen.“<br />
Josef Moucha<br />
Zeitschrift Fotograf<br />
© Josef Sudeks Photos: Anna Fárová<br />
Photos: aus Sammlungen des<br />
Kunstgewerbemuseus Prag,<br />
aus den Sammlungen der<br />
Mährischen Galerie Brünn<br />
29
30<br />
Genius des böhmischen Barock<br />
Jan Blažej Santini-Aichel<br />
(1677-1723)<br />
Der Einzug des barocken Kunststiles<br />
in den Böhmischen Ländern widerspiegelte<br />
die politische Lage nach der Zerschlagung<br />
der „Prägerischen Rebellion“<br />
im Jahre 1620, die wirtschaftliche<br />
Konsolidierung der Gesellschaft<br />
nach Ende des Dreißigjährigen<br />
Krieges und insbesondere<br />
die konsequente<br />
katholische Reformation der<br />
Landesbevölkerung in der<br />
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.<br />
Durch diese vielschichtige<br />
Geistesatmosphäre<br />
getönt, erwuchs das vielfältige,<br />
genial imaginativ-ingeniöse<br />
Œuvre von Jan Blažej<br />
Santin(i)-Aichel (1677–1723).<br />
Er war es, der zusammen<br />
mit Kilian Ignaz Dientzenhofer<br />
und einigen anderen<br />
die bildende Kunst dieser Epoche wesentlich<br />
mitprägte.<br />
Obwohl ursprünglich als Maler ausgebildet,<br />
wandte sich Santini, der Enkelsohn<br />
eines „wellischen“ Steinmetzen,<br />
der Architektur zu. Bereits um 1700 sind<br />
Sedlec bei Kutná Hora (Kuttenberg),<br />
Friedhofskapelle Allerheiligen, um 1710<br />
Kladruby (Kladrau) bei Stříbro (Mies), Klosterkirche Mariä Himmelfahrt, Hll. Wolfgang und Benedikt, 1711-1726<br />
seine planerischen Künste bei den ältesten<br />
Klostergemeinschaften des Landes,<br />
den Zisterziensern, Prämonstratensern<br />
und Benediktinern, als auch bei Angehörigen<br />
des Landesadels gefragt.<br />
Am anregendsten wirkten<br />
Santinis Leistungen im Bereich<br />
der sogenannten barokken<br />
Gotik, eine eigentümliche<br />
Verschmelzung der heimischen<br />
mittelalterlichen Bauhüttenkunst<br />
mit weit entwikkelten<br />
barocken Formen.<br />
Das umfassendste Kapitel in<br />
Santinis Lebenswerk machen<br />
barocke Umbauten mittelalterlicher<br />
Kirchen aus. Für die<br />
Zisterzienser in Sedlec (Sedletz)<br />
bei Kutná Hora (Kuttenberg)<br />
gestaltete er 1703–1708<br />
die Klosterkirche neu. Diese<br />
lag von der Plünderung durch Hussiten<br />
bis Ende des 17. Jahrhunderts in Ruin.
Klosterkirche (Mariä Himmelfahrt, Hl. Wolfgang und Benedikt), Kladruby (Kladrau) bei Stříbro (Mies)<br />
Die Ausgestaltung der westlichen<br />
Frontseite der Sedletzer Kirche Mariä<br />
Himmelfahrt führt die sukzessive Kristallisierung<br />
von Santinis Auffassung des<br />
gotisierenden Barock illustrativ vor Augen.<br />
Die Kulisse der Fassade mit dem<br />
Vierblattgebilde im Giebel wird von der<br />
Vorhalle mit gotischen Spitzbögen, bewegten<br />
Dach und dem darauf liegenden<br />
Gefüge durchbrochener Türmchen dominiert.<br />
Im Kircheninneren hielt Santini<br />
dank einer phantasievollen Nachempfindung<br />
gotischer baukünstlerischer Elemente,<br />
die ihre Verwendung an Wänden<br />
und Gewölben fanden, am ursprünglichen<br />
starken geistigen Impuls fest. Die<br />
kompromißbereite Ausgewogenheit zwischen<br />
moderner Intervention und Wahrung<br />
des Altertümlichen machte sich<br />
auch bei der Neugestaltung der nahegelegenen<br />
Friedhofskapelle Allerheiligen<br />
mit dem großartigen Karner (Beinhaus)<br />
in der Krypta bemerkbar.<br />
Die dabei erworbenen Erfahrungen<br />
machte sich Santini bei seinen Großaufträgen<br />
im zweiten und dritten Jahrzehnt<br />
des 18. Jahrhunderts, vor allem bei dem<br />
Klosterkirche (Mariä Himmelfahrt,<br />
Hll. Wolfgang und Benedikt), Kladruby (Kladrau)<br />
bei Stříbro (Mies)- Blick in die Kuppel<br />
Klosterkirche Mariä Himmelfahrt, Hll. Wolfgang und Benedikt, Kladruby (Kladrau) bei Stříbro (Mies)<br />
Baukunst<br />
Santini war eine Proteusfigur, in<br />
sich selber einen Kampf zwischen<br />
Rationalismus und Irrationalismus,<br />
zwischen Form und Nicht-Form<br />
austragend.<br />
Václav Richter<br />
(1900-1970)<br />
vom hochgebildeten Abt Maur Finzguth<br />
veranlaßten Bau der Benediktinerklosterkirche<br />
in Kladruby (Kladrau) (1712–<br />
1726), zunutze. Der monumentale Sakralbau,<br />
dessen barocke Formen an vertikalen<br />
Proportionen und der Subtilität gotischer<br />
Details festhielten, wurde vom<br />
Baumeister über der Vierung mit einer<br />
Kuppel, verziert mit marianischen Emblemen,<br />
bekrönt. Die Kirche schließt mit<br />
einer Kleeblattanlage (gotisch anmutende<br />
Fenster!) und äußerem Strebewerk<br />
ab. Santini entwarf für die Kirche auch<br />
das Mobiliar zur Gänze: eine Kanzel mit<br />
gotisch durchbrochener Abdachung, die<br />
bizarre Gestalt des Hochaltars, dessen<br />
gekrümmte Linien an Pflanzenstäbe<br />
erinnern, die Beichtstühle und die Weihwasserbecken.<br />
Dem Dienst am Zisterzienserorden<br />
treu blieb der geniale<br />
Schöpfer auch beim Umbau des Klosters<br />
im westböhmischen Plasy (Plaß), der<br />
von 1711 an auf Initiative des kunstliebenden<br />
Abtes Eugen Tyttl erfolgte. Sein<br />
außerordentliches technisches Geschick<br />
stellte Santini unter Beweis, als er das<br />
sumpfige Gelände vor Baubeginn mit<br />
einem Rost bestehend aus über 5tsd.<br />
eichenen Piloten, deren Konservierung<br />
31
32<br />
durch eine spezielle Bewässerungsanlage<br />
erfolgte, festigen mußte. (Stollen und<br />
Kanäle blieben zum Teil bis heute funktionstüchtig.)<br />
Das Plaßer Kloster beeindruckt<br />
von außen her durch seine Pracht,<br />
Erhabenheit und Beständigkeit, doch im<br />
ausgedehnten Klosterinneren ziehen einfallsreich<br />
gestaltete Treppenhäuser und<br />
originelle Details der Gewölbe, in denen<br />
ein volles Register quasigotischer Motive<br />
unverwechselbar zur Geltung gebracht<br />
wird, den Blick auf sich.<br />
Für einen anderen in Böhmen seit<br />
langem ansässigen Orden, die Prämonstratenser,<br />
betätigte sich Santini in Želiv<br />
(Seelau), wo er in den Jahren 1714-21<br />
die Hauptkirche der Kanonie (Mariä Geburt)<br />
im Geiste der Barockgotik umgestaltete.<br />
In der Einwölbung des lichtdurchfluteten<br />
Inneren, verborgen dem<br />
Blick hinter dem zweitürmigen Westchor,<br />
ließ der Architekt des Hochbarock<br />
Stuckrippen zu Netzgewölben fügen. Zu<br />
Santinis brillanten Leistungen zählen<br />
auch einige kleinere Aufträge. Von diesen<br />
fällt die St. Annenkapelle, erbaut<br />
1705-1707 in Panenské Břežany (Jungferbřežan)<br />
auf, die in Santinis Werk eine<br />
Serie kleinerer Bauausführungen einleitet.<br />
Ihr Generalnenner bestand in einem ausgeklügelt<br />
triangulierten Grundriß, abgeleitet<br />
aus einem gleichseitigen Dreieck.<br />
Während das Äußere der Břežaner Kapelle<br />
durch eine Konfrontation gerader<br />
Linien mit eindrucksvoll gebrochenen<br />
Flächen gekennzeichnet sind, birgt die<br />
Fassade einen räumlich fein gegliederten<br />
Zisterzienserkirche in Plasy (Plaß), Blick in die Kuppel (1710–1740)<br />
Kirche Hl. Johann von Nepomuk auf dem Grünen Berg bei Žďár (Saar) (1719-1722)<br />
Innenraum mit einem sternförmigen<br />
Kern in der Mitte.<br />
Santinis unüberbietbare Einbildungskraft<br />
und Vorliebe für geometrisierende<br />
Spiele verkörpert wohl am gelungensten<br />
die auf dem Grünen Berg (Zelená hora)<br />
bei Žďár nad Sázavou (Saar) 1719–1722<br />
errichtete Kirche des damals zur Altarehre<br />
zu erhebenden böhmischen Heiligen<br />
Johannes von Nepomuk. Veranlaßt<br />
wurde der Bau vom Abt des dortigen<br />
Zisterzienserkonvents, Václav Vejmluva.<br />
In den Grundriß und Entwurf für diese<br />
Wallfahrtskirche fand ein symbolischer,<br />
die Fünfzahl variierender Sternenkranz<br />
Eingang, der – wie in der Legende überliefert<br />
– den im Moldaufluß ertränkten<br />
Märtyrer umgeben haben soll und seitdem<br />
als dessen Attribut gilt. Die nach der<br />
ikonographischen Folie angelegte Kirche<br />
mit geometrisch gegliedertem Innenraum<br />
von besonderer Raffinesse ist von<br />
einem zehneckig ondulierenden überdachten<br />
Umgang umschlossen. Santinis<br />
Anlage auf dem Grünen Berg wurde<br />
1994 als exemplarisches Kunstwerk von<br />
universeller Geltung in die Welterbeliste<br />
der UNESCO aufgenommen. Das Ziel<br />
der derzeitigen Renovierung ist, die<br />
ursprüngliche Gestalt des Ambitus mit<br />
steinernen Obelisken und allegorischen<br />
Statuen wiederherzustellen.<br />
Ähnliche allegorische Konzepte<br />
vermitteln theologische Inhalte auch bei<br />
anderen Bauwerken Santinis: der St. Clemenskapelle<br />
in Hradec Králové (Königgrätz),<br />
die mit einer Kuppel, verziert mit<br />
der päpstlichen Tiara und Petri Schlüsseln,<br />
abgeschlossen ist, der Kuppellaterne<br />
der Kirche in Zvole (Zwoll), die in Form<br />
eines Fürstenhutes auf Wenzel von Böhmen<br />
als Titelheiligen verweist, dem<br />
Grundriß der Kirche in Obyčtov (Običtau)<br />
an eine Schildkröte als Symbol der<br />
tugendsamen christlichen Frau erinnert,
deren Glaubenstreue durch ein festes Schild<br />
– das Kirchengewölbe – geschützt bleibt.<br />
Eine Gipfelleistung von Santinis Alterswerk<br />
stellt das Schloß Karlova Koruna<br />
(Karlskrone) in Chlumec nad Cidlinou<br />
(Chlumetz an der Cidlina) dar, das sich<br />
František Ferdinand Kinsky 1721–23, der<br />
Oberstkanzler des Königreichs Böhmen<br />
erbauen. Die ungemeine Wirkung dieses<br />
sonderbaren Baukomplexes besteht in<br />
einem seltenen rundförmigen Grundriß,<br />
über dem sich ein zentraler Bau mit zweistöckigem<br />
Tanzsaal mit Galerie erhebt,<br />
mit drei angrenzenden, schräg angeordneten<br />
quadratischen Flügeln. Die unübersehbare<br />
Schloßanlage auf einem sanften<br />
Hügel fügt sich nahtlos in die umgebende<br />
Landschaft ein und liefert somit einen<br />
Beweis über Santinis unbestrittenes urbanistisch-raumplanerisches<br />
Können.<br />
Santini stirbt am 7. Dezember 1723,<br />
keine zwei Monate vor seinem 47. Geburtstag.<br />
Seines Todes gedenkend schreibt<br />
Kirche Hl. Johann von Nepomuk auf dem Grünen<br />
Berg bei Žďár (Saar)<br />
der Abt von Plasy, Eugenius Tyttl, einen<br />
Brief an den Saarer Abt Vejmluva. Er<br />
spricht darin den verspäteten Wunsch<br />
aus, daß Santini wenigstens hundert Jahre<br />
leben und die Welt mit vielen bewundernswerten<br />
Werken bedacht werden möge.<br />
Der bedachtsame Schöpfer wußte dem<br />
böhmischen gotisierenden Barock des 1.<br />
Viertels des 18. Jahrhunderts einen dermaßen<br />
eigentümlichen Charakter einzuprägen,<br />
daß dieser zu einem allgemein<br />
anerkannten Phänomen der europäischen<br />
Barockkultur avancieren konnte.<br />
Pavel Panoch<br />
Photos: CzechTourism, Vladimír Uher<br />
Karlskrone (Karlova Koruna), Chlumec nad Cidlinou (Chlumetz an der Cidlina; 1721-1723)<br />
33
34<br />
Poesie der<br />
vergangenen Zeiten<br />
Der bekannteste Bewunderer böhmischer<br />
Burgen und Ruinen war sicherlich<br />
Karel Hynek Mácha, der romantische<br />
Dichter par excellence. In seinen Literarischen<br />
Tagebüchern machte er sich eine<br />
Tabelle mit der Aufschrift: Die gesehenen<br />
Burgen. Es waren alles in allem neunzig<br />
an der Zahl, verteilt ganz Böhmen von<br />
Rožmberk und Krumlov am Oberlauf der<br />
Burg Žebrák (Zebrak) in der Zeichnung<br />
von Karel Hynek Mácha<br />
Burg Bezděz (Bösig) in der Zeichnung<br />
von Karel Hynek Mácha<br />
Moldau bis hin zu Střekov (Schreckenstein),<br />
der sich über der Elbe erhebt, ferner<br />
Kost, Pecka und Adršpach im Osten. […]<br />
Oft besuchte er ein und dieselbe Burg<br />
mehrmals, etwa die nahelegenen Burgen<br />
Jenštejn, Žebrák, Točník, Jestřebí, Houska,<br />
Trosky, Pecka, Kokořín, Okoř und<br />
Hluboká. Er bewanderte die Burgen zu<br />
Fuß, oft mußte er Unwetter über sich ergehen<br />
lassen, machte karge Notizen und<br />
zeichnete viel mehr als er schrieb.<br />
Seine Bezděz (Bösig)-Reise notierte er<br />
auf eine schlichte, brachylogische Weise:<br />
Auf Bösig. Die Wolker über mich wie<br />
Schafherden, hinter den Bergen eine<br />
schwarze, dicke Wolke, dunkler als dunkle<br />
Schatten oben. Der Wind trieb vergilbte<br />
Blätter hin und her. Kühe. Ein Sonnenstrahl.<br />
Der Regenbogen, ein Stück wie<br />
Bild im schwarzen Rahmen. Eine kleine<br />
Insel im Hirschbergsee, Landstraßen und<br />
Dörfer. Hřib. Hinter den Bergen entstieg<br />
die Sonne ferner Äonen – unsere ging<br />
unter. Allein beim Nachtlager im Ruin.<br />
Die Wälder rauschten stiller und feierlicher,<br />
von weitem ein Hund und Geheul.<br />
Manch ein Blatt sank hinunter, im Gefühl<br />
des Allein-, Traurig- und Einsamseins, um<br />
unter Feldblumen zu sterben […]“<br />
Quelle: Sammelband Prostor Máchova díla<br />
(Raum von Máchas Werk), 1984<br />
Krone bricht<br />
Rekorde<br />
Die Landeswährung, die Tschechische<br />
Krone, wird langfristig härter und härter.<br />
Otto, der Normalverbraucher, kann es mit<br />
Rückwirkung am Benzinpreis ablesen.<br />
Aber nicht nur der Benzinpreis sinkt,<br />
sondern die härtere Währung senkt die<br />
Kosten etwa bei der Reise in die USA.<br />
Auf tschechische Exporteure übt der<br />
hohe Wechselkurs im Vergleich zum USD<br />
keinen solchen Einfluß wie der zum Euro<br />
aus, auf Dollarmärkte wird weniges ausgeführt.<br />
Die Ursache für die Erhärtung<br />
der Krone angesichts des Dollarkurses<br />
sind permanente Bewegungen auf dem<br />
Euro-Dollar-Markt, also härteres Euro<br />
im Vergleich zum US-Dollar.<br />
Zum letztenmal im vergangenen Jahr<br />
brach die Krone den Rekord beim Vergleich<br />
zum US-Dollar am letzten Freitag,<br />
wo ein Dollar für 20,97 Kronen<br />
gehandelt wurde.<br />
Tschechien auf<br />
der EXPO 2010<br />
Tschechien wird an der allgemeinen<br />
Weltausstellung Expo 2010 in China<br />
beteiligt sein. Am 3. Januar wurde dies<br />
vom tschechischen Regierungskabinett<br />
beschlossen. Die Teilnahme gilt als guter<br />
Anlaß, wirksam für das Land im Ausland<br />
zu werben. Tschechien präsentierte<br />
sich zum letztenmal 2005 in der japanischen<br />
Präfektur Aichi, wo die Exposition<br />
„Garten der Musik und Phantasie“<br />
besondere Aufmerksamkeit weckte.<br />
Die vorgesehene Baugestalt des Ausstellungsgeländes<br />
der künftigen Weltausstellung in Shanghai 2010<br />
Burg und Schloß wie<br />
aus dem Märchen<br />
Tschechien verzeichnete im vergangenen<br />
Jahr niedrigere Besucherzahlen<br />
bei Burgen und Schlössern. Um für sie<br />
im allgemeinen Bewußtsein zu werben,<br />
schrieb das Nationaldenkmalinstitut die<br />
Umfrage Burg und Schloß wie aus dem<br />
Märchen aus. Für den Wettbewerb waren<br />
über 80 Denkmäler angemeldet. Den unumstrittenen<br />
Sieg errang das Schloß in<br />
Telč (Teltsch, im Bild), gefolgt von dem<br />
Wasserschloß Červená Lhota (Rothlhota),<br />
auf Platz 3 rangiert die von den Filmemachern<br />
gern aufgesuchte Burg Bouzov<br />
(Busau). Die Umfrage wurde online auf<br />
der Internetseite des Instituts durchgeführt.<br />
Photo: CzechTourism<br />
Nanofasern in der<br />
Medizin<br />
Tschechische Forscher von der Karls-<br />
Universität Prag und der Technischen Universität<br />
Reichenberg (Liberec) haben<br />
eine einmalige Entdeckung gemacht, die<br />
eine Revolution in der Behandlung von<br />
Verwundeten in Gang bringen kann. Durch<br />
Verbesserung ultradünner synthetischer<br />
Nanofasern entwickelten sie Pflaster und<br />
Verbandsmaterial, die desinfizierende<br />
Wirkungen zeitigen.<br />
Das Verfahren der industriellen Fabrikation<br />
erprobten die Forscher vor über<br />
zwei Jahren. Dieses einzigartige Material,<br />
dessen Dicke sich auf rd. 200 Nanometer<br />
beläuft und das nur unter dem<br />
Elektronenmikroskop sichtbar ist, wird<br />
nach und nach auch in anderen Branchen<br />
eingesetzt, etwa im Bauwesen – oder<br />
beim Flugzeugbau.<br />
„Das Nanofasergewebe hat dank den<br />
winzigkleinen Poren eine besondere Renitenzfähigkeit<br />
gegen Bakterien und manche<br />
größere Viren“, sagte der Mitentdecker<br />
der patentierten selbstdesinfizierenden Nanofasern,<br />
Jiří Mosinger von der Naturwissenschaftlichen<br />
Fakultät.
Comenius<br />
redivivus<br />
Das internationale Theaterprojekt „Paradies<br />
des Herzens und Labyrinth der Welt“,<br />
angeregt durch das Werk Jan Amos Komenský<br />
(Comenius), wurde unter Regieführung<br />
von Martin Kukučka (Slowakei)<br />
und Lukáš Trpišovský (Tschechien) und<br />
der Marke SKUTR realisiert. Das Projekt<br />
wurde zur Zeit in Prag und Preßburg (Bratislava)<br />
vorgestellt und führte Studierende<br />
dreier zentraleuropäischer Theateruniversitäten<br />
zusammen. Am Projekt waren je fünf<br />
Studenten von der jeweiligen Universität,<br />
der Preßburger VŠMU, der Prager Theaterfakultät<br />
der Akademie für Musische<br />
und Darstellende Künste (AMU) und der<br />
Breslauer PWST (Wrocław) beteiligt.<br />
Das moderne physische Theater der Inszenierung<br />
„Paradies des Herzens und Labyrinth<br />
der Welt“ kombiniert Bewegung,<br />
Akrobatie, live Musik und den mündlichen<br />
Vortrag zu einem humorvollen und<br />
poesievollen Erlebnis. „Mosaik atemberaubender<br />
Ideen, Huldigung an das Spielerische<br />
und Erfinderische, bei der der Zuschauer<br />
vor Angst zittert, in Staunen versetzt<br />
wird und in unkontrollierbares Lachen<br />
ausbricht“, urteilt der Publizist Honza<br />
Dědek von der Zeitschrift Reflex über<br />
die Vorstellung. Die Inszenierung wurde<br />
durch den Visegráder Fonds gefördert.<br />
Photo: Tomáš Vodňanský<br />
Behutsam<br />
einkaufen<br />
Trotz des weltweit massiven Anstiegs<br />
des e-Tickings von Flugkarten geben<br />
sich die Tschechen dieser Neuigkeit<br />
gegenüber vorsichtiger. Während im<br />
Ausland beinahe 30% aller Flugtickets<br />
(nach Angaben der Gesellschaft SITA)<br />
per Internet gehandelt werden, machte<br />
der Anteil hierzulande nur 10% aus.<br />
Nach großen Fluggesellschaften, die<br />
von der Tschechischen Presseagentur<br />
(ČTK) befragt wurden, steht vor allem<br />
das Mißtrauen der Bevölkerung zum e-<br />
Busineß dahinter.<br />
Karlsbrücke<br />
in Bau<br />
Prag ist ohne Zweifel eine der schönsten<br />
Städte der Welt. Seine Sonderstellung<br />
verdankt es vor allem der historischen<br />
Altstadt, dessen Bauten vor allem<br />
aus der Zeit des böhmischen Königs und<br />
römischen Kaisers Karl IV herrühren.<br />
Zu einer der touristisch attraktivsten Sehenswürdigkeiten<br />
Prags, dem Königlichen<br />
Weg von der Altstadt bis zur Burg,<br />
gehört die 650 Jahre alte steinerne<br />
Karlsbrücke, die seit 1993 auf der Weltkulturerbeliste<br />
der UNESCO steht. In<br />
den letzten Jahren wies die Brücke Zeichen<br />
der Deformation und Verwahrlosung<br />
auf. Die Lage verschlechterte<br />
sich 2002 nach dem Hochwasser in<br />
Prag. Eine Instandsetzung stand an.<br />
Diese sollte innerhalb von zwei Jahren<br />
fertig sein, ohne daß der Betrieb dieses<br />
strategischen Übergangs eingestellt<br />
werden müßte.<br />
Photos: Czech Tourism<br />
Mosaik<br />
Sudek und Sutnar<br />
Die exquisite Ausstellung im Kunstgewerbemuseum<br />
Prag bringt zwei Stars:<br />
einen Photographen und Typographen<br />
zusammen. Als Kostproben der sog.<br />
Neuen Typographie sind Werbematerialien,<br />
Zeitschriften, Kalender und Bücher<br />
zu sehen. Für den progressiven visuellen<br />
Stil, der Ideen durchzusetzen mithalf<br />
und für Produkte des Verlages Družstevní<br />
práce warb, zeichnete der Graphiker<br />
Ladislav Sutnar in engster Zusammenarbeit<br />
mit dem Photographen Josef<br />
Sudek. Die Ausstellung präsentiert auch<br />
Werke der Künstler aus dem Umkreis<br />
des Verlags und ist bis zum 18. Februar<br />
2007 zu besichtigen.<br />
Verstärkter Einsatz<br />
tschechischer Truppen<br />
im Ausland<br />
Bei Auslandsoperationen werden 2007<br />
die allerstärksten Truppenkontingente<br />
der tschechischen Armee in ihrer Geschichte<br />
eingesetzt.<br />
„Der geplante Einsatz bei Auslandsmissionen<br />
beträgt rd. 2,5tsd. Soldaten,<br />
was ein Rekord sein könnte“, bestätigte<br />
Petr Sýkora von der Presseabteilung<br />
des tschechischen Verteidigungsministeriums<br />
auf die Anfrage des Servers<br />
Aktuálně.cz. Auch der Preis für die Auslandsoperationen<br />
solleine Rekordhöhe<br />
erreichen: Vater Staat blättert 2 Mrd.<br />
Kronen hin.<br />
Photos: Verteidigungsministerium der Tschechischen<br />
Republik – AVIS<br />
35
36<br />
Rembrandt und Comenius<br />
Das Bild, das bis vor kurzem für das<br />
Portrait eines alten Mannes oder Rabbiners<br />
angesehen wurde, ein Werk des legendären<br />
Rembrandt van Rijn, konnte<br />
jetzt als das wohl schönste Bildnis des<br />
böhmischen Denkers, Pädagogen, und<br />
„Lehrmeisters der Nation“, Johann Amos<br />
Comenius, identifiziert werden. Die<br />
Bestimmung erfolgte durch den anerkanntesten<br />
Rembrandt-Kenner Professor<br />
Ernst van der Wetering.<br />
Im Gespräch für das tschechische<br />
Tagesblatt Právo erklärte Wetering:<br />
Unser Team Rembrandt Research Project<br />
borgte sich das Bild von der Florentiner<br />
Galerie Uffizi. Zu 99% ist darauf<br />
der tschechische Pädagoge, Humanist<br />
und Philosoph Comenius zu sehen.<br />
Diese Hypothese wurde schon früher<br />
einmal publik gemacht, aber jetzt<br />
haben wir dafür neue überzeugende<br />
Belege. Das Bindeglied zwischen Rembrandt<br />
und Comenius stellt u.a. die<br />
begüterte Familie Trip dar, die in Amsterdam<br />
zu Comenius’ wichtigsten Mäzenen<br />
gehörten, Rembrandt malte 1660<br />
Jacob und Margarethe Trip. Ich nehme<br />
an, daß der böhmische Gelehrte über<br />
die Trips mit Rembrandt bekannt<br />
wurde. Der Maler war sehr neugierig.<br />
Zweifellos interessierte er sich sehr für<br />
den Humanisten aus Böhmen. Das Portrait<br />
von Comenius entstand irgendwann<br />
um das Jahr 1660. Die Beweise<br />
dafür, daß die beiden sich getroffen<br />
haben, gibt es viele, aber mehr verrate<br />
ich ihnen nicht, ich bereite eine spezielle<br />
Studie zu diesem Thema vor.“<br />
„Für uns ist das einfach eine Sensation“,<br />
kommentierte Tomáš Havelka,<br />
Mitglied der Gruppe für das Studium<br />
und die Herausgabe der Werke von<br />
J. A. Comenius am Philosophischen<br />
Institut der Tschechischen Akademie<br />
der Wissenschaften.<br />
Aus dem Buch Orbis Pictus von Jan Amos Komenský<br />
(Comenius), Detail der Illustration zum Stichwort Malerei<br />
Ernst van der Wetering identifizierte Rembrandts Bild als Portrait von Jan Amos Komenský (Comenius),<br />
bisher galt es als Portrait eines alten Mannes oder Rabbiner<br />
Johann Amos Comenius (1592-1670)<br />
emigrierte 1628 aus dem Königreich<br />
Böhmen. Zusammen mit Tausenden<br />
von Nichtkatholiken mußte er das Land<br />
nach der Niederschlagung des Ständeaufstandes<br />
in der Schlacht am Weißen<br />
Berg 1620. Comenius wurde so zu<br />
einem Teil des nationalen Mythos, zu<br />
einem Symbol moralischer Beständigkeit<br />
und ungebrochener Überzeugung.<br />
Comenius hielt sich zeitweise in Polen,<br />
England, Schweden und Ungarn auf.<br />
Während seines Aufenthalts in London<br />
entstand ein anderes berühmtes Portrait,<br />
diesmal von seinem Landsmann<br />
dem böhmischen Zeichner und Kupferstecher<br />
Václav Hollar.<br />
1665 ließ sich Comenius auf Dauer<br />
in Amsterdam nieder. Die letzten vierzehn<br />
Jahre seines Lebens wohnte in<br />
dem Haus Zum weißen Lamm in der<br />
Prinsengracht im Stadtteil Westermarkt.<br />
Unweit von Rembrandts Wohnung<br />
bezog 1658 der verarmte Rembrandt<br />
ein Mietshaus. Im gleichen<br />
Viertel wohnten auch andere berühmte<br />
Persönlichkeiten, die nachweislich mit<br />
Comenius bekannt waren. Allen voran<br />
der angesehene Arzt und Wissenschaftler<br />
Nicolaes Tulp, einer der Amsterdamer<br />
Ratsherren, der Comenius bei<br />
seinen verlegerischen und pädagogischen<br />
Unternehmungen unterstützte.
Rembrandts Portrait des tschechischen Pädagogen Jan Amos Komenský (Comenius) entstand um 1660<br />
Der 4. Teil seines Opus Opera Didactica<br />
Omnia (1657) ist Tulp gewidmet.<br />
Doktor Tulp ist auch eine der zentralen<br />
Figuren auf Rembrandts Bild Anatomie<br />
des Dr. Tulp von 1632.<br />
Eine wichtige Quelle zur Erforschung<br />
von Comenius’Leben und Werk ist dessen<br />
Schrift Clamores Eliae. Es umreißt<br />
die letzten fünf Jahre seines Lebens in<br />
Amsterdam und führt die Namen seiner<br />
literarischen und persönlichen Freunde<br />
an. Unter ihnen sind Mitglieder der<br />
Böhmischen Brüdergemeine, die in die<br />
Niederlande ausgewandert waren, aber<br />
auch Holländer, Angehörige der Familie<br />
de Geeré, welche Comenius unterstützten,der<br />
Buchdrucker J.W. Blaeuw,<br />
der Theologe Alting, Jacob Golius und<br />
viele andere. Rembrandt war allerdings<br />
nicht darunter.<br />
Auf die Ideengemeinschaft der beiden<br />
verwies Josef Polišenský in seiner<br />
Schrift Muž labyrintu a naděje (Der<br />
Mann des Labyrinths und der Hoffnung):<br />
„Comenius wandte sich in jener<br />
Zeit häufig dem Apostel Paulus zu –<br />
was sich zeitgleich auch im Schaffen<br />
Rembrands beobachten läßt … Gut und<br />
böse ist im Mikrokosmos der Großstadt<br />
über der Amstel vermischt…“ Über<br />
ein in Florenz befindliches Portrait von<br />
Comenius, das von Rembrandt stammen<br />
könnte, veröffentlichte der tschechische<br />
Kunsthistoriker Karel Chytil<br />
bereits 1915 eine Studie.<br />
Rembrandt van Rijn im Selbstbildnis<br />
Bildende Kunst<br />
Das äußere Licht ist jener mit<br />
dem körperlichen Auge wahrnehmbare<br />
Lichtschein, mit dem Gott diese<br />
seine sichtbare Bühne der körperlichen<br />
Welt beleuchtet hat.<br />
Johann Amos Komenský<br />
(Comenius 1592-1670)<br />
Das Team Rembrandt Research Project<br />
arbeitet bei der Suche nach zuverlässigen<br />
Belegen mit verschiedenen<br />
Institutionen zusammen. „Die Sachverständigen<br />
der berühmten Bibliotheca<br />
Philosophica Hermetica in Amsterdam<br />
zeigen ein immenses Interesse an<br />
Comenius, sie halten ihn für eine Persönlichkeit,<br />
die viele andere beeinflußt,<br />
gelenkt und inspiriert hat. Auch sie verschafften<br />
mir etliche Argumente dafür,<br />
daß es sich wirklich um das Portrait<br />
dieses böhmischen Humanisten handelt“,<br />
meint Professor Wetering.<br />
Bei Bildern, die Rembrandt<br />
zugeschrieben werden, stellt sich ein<br />
gravierendes Problem, die Authentizität<br />
seiner Autorschaft betreffend. Es<br />
beschäftigte bereits die Gemäldeauktion<br />
in Haag 1648, noch zu Lebzeiten<br />
Rembrandts. Weterings Team prüft<br />
37
38<br />
deshalb bereits seit den 60er Jahren des<br />
20. Jahrhunderts alle Werke, die von Rembrandt<br />
herrühren könnten. So schockierte<br />
Wetering die Öffentlichkeit z.B.<br />
mit seiner Feststellung, daß das Gemälde<br />
Mann mit dem goldenen Helm<br />
eines der typischsten „Rembrandts“, ist<br />
das Werk eines seiner Epigonen. Auf<br />
der anderen Seite sorgte Wetering bei<br />
einer Versteigerung in der New Yorker<br />
Filiale des Auktionshauses Sotheby’s<br />
für eine Sensation mit der Entdeckung<br />
des bis dahin unbekannten Portraits<br />
einer alten Magd, das er als ein Werk<br />
Rembrandts identifizierte. Rembrandt<br />
malte es 1640 wahrscheinlich als Vorstudie<br />
zu einem größerem. Werk. Das<br />
Gemälde ging zu einem Preis von mehr<br />
als 4 Millionen an einen Privatsammler<br />
in Amerika.<br />
Über die Authentizität des Portraits<br />
von Comenius besteht für Prof.<br />
Wetering nicht der geringste Zweifel:<br />
„Ganz unbestritten ist dies ein Original.<br />
Es weißt die typischen und unverwechselbaren<br />
Züge von Rembrandts spätem<br />
Stil auf. Die pastösen Pinselstriche,<br />
die ausgesuchte Farbigkeit. In der Ausstellung,<br />
die 2006 von Amsterdam<br />
nach Berlin wanderte, installierte ich<br />
Statuengruppe „Comenius nimmt Abschied von der Heimat“, František Bílek (1926)<br />
das Bild mit Vorbedacht neben das<br />
Portrait des Mädchens im Bilderrahmen<br />
aus Warschau. Zwischen beiden<br />
Werken liegt ein Zeitraum von zwanzig<br />
Jahren. Für den Betrachter war so<br />
die Wandlung in Rembrandts Stil, in<br />
seiner Farbwahl und Zeichentechnik.<br />
Als Comenius’ Portrait entstand, war<br />
dieser neunundsechzig, Rembrandt<br />
hingegen war fünfundfünfzig. Es wäre<br />
interessant zu wissen, worüber die<br />
zwei sprachen, als sie sich Auge in<br />
Auge gegenübersaßen.“<br />
Portrait Jan Amos Komenský (Comenius) von Václav Hollar (London, 1641)<br />
Comenius wurde nicht nur zu Lebzeiten<br />
portraitiert (z.B. kurz vor 1660<br />
von Rembrandts Nachfolger Jürgen<br />
Ovens), er inspirierte aber auch Künstler,<br />
die erst um Jahrhunderte später lebten.<br />
Comenius' Auszug aus der Heimat<br />
und der vorangegangene Abschied auf<br />
der Rosenau dienten Václav Brožík<br />
für ein Gemälde in Öl auf Leinwand<br />
(1873), Felix Jenewein für seine Federzeichnung<br />
und endlich auch František<br />
Bílek für eine bildhauerische Arbeit.<br />
Letzterer bildete das Geschehen als Statuengruppe<br />
Komenský se loučí s vlastí<br />
(Comenius nimmt von der Heimat<br />
Abschied, 1918) ab, die den Eingang<br />
zu Bíleks Villa im Prager Stadtviertel<br />
Hradčany dekorierte.<br />
Das Portrait von Comenius wurde<br />
2006 im Rahmen der Feierlichkeiten<br />
zur 400sten Wiederkehr von Rembrandts<br />
Geburtstag in Amsterdamer<br />
Rembrandt-Haus (Rembrandthuis) ausgestellt,<br />
später kam die Ausstellung<br />
nach Berlin. Jetzt befindet sich das Bild<br />
wieder in den Sammlungen der Galerie<br />
Uffizi in Florenz.<br />
František Velen<br />
Quellennachweis: Tageszeitung Právo<br />
Photos: Peter Kováč (Tageszeitung Právo),<br />
Rembrandt Research Project, Archiv Redaktion