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White-Collar Blues

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Über Arbeit, Interessen<br />

und andere Dinge<br />

Phänomene, Strukturen und Akteure<br />

im modernen Kapitalismus<br />

Rudi Schmidt zum 65. Geburtstag<br />

Rainer Hampp Verlag München und Mering 2004


Ulf Kadritzke<br />

<strong>White</strong>-<strong>Collar</strong> <strong>Blues</strong><br />

Über Angestellte im modernen und im neuesten Kapitalismus ∗<br />

Einleitung<br />

Viel ist in den letzten Jahren von der Individualität die Rede, die moderne Menschen im Alltag<br />

auszeichne. Sie hätte, so geht die Rede, kollektive Formen des Denkens und Handelns, die in<br />

gemeinsamen Arbeitserfahrungen, Interessen- und Klassenlagen entstehen, in den Hintergrund<br />

gedrängt. Gerade die Angestellten gelten im Entwicklungsprozess der bürgerlichen Gesellschaft<br />

als Avantgarde des Fortschritts durch Individualisierung und damit bis heute als Inbegriff des<br />

modernen Menschen. Man will das bis heute gerne glauben und hat angestellte Piloten mit einmaligen<br />

Koffern, angestellte Spitalärzte mit ihrer einmaligen Verantwortung („Tupfer!“) oder<br />

angestellte Bankberater mit einmaligen Krawatten vor Augen. Nur zuweilen wird der Glaube auf<br />

die Probe gestellt. Wer auf Flughäfen beobachtet, wie als Manager verkleidete Pinguine kollektiv<br />

die Schalter der business class umlagern und nach dem Einchecken die lounge besetzen, wo sie,<br />

den mit dreistelligen Zahlenschlössern bewehrten Hartlederkoffer auf den Knien, allesamt die<br />

neuesten facts & figures in die Tasten des laptop hämmern und das erste briefing des Tages<br />

schnurlos am Handy erledigen, den muss die Frage befallen, ob in der gehobenen Angestelltenkollektion,<br />

phänotypisch und menschheitsgeschichtlich betrachtet, die Hochzeit der Individualität<br />

wirklich Fleisch geworden sei.<br />

Einige der schnurlosen Angestellten würden die freche Frage sogar verstehen. Sie könnten auf<br />

Mächte verweisen, die sie zu Komplizen und Opfern gemacht hat: auf Titel und Stelle, auf Vorgesetzte<br />

und Untergebene, auf innere Motivation und äußere Regeln, seit neuestem gar auf den<br />

Zwiespalt der ‚Arbeitskraftunternehmer’. Gemeinsam haben die unter dem Angestelltentitel versammelten<br />

Posteninhaber und Berufe das Empfinden einer uneindeutigen Mittellage, die Erfahrung<br />

eines seltsamen Dazwischen. Das färbt das betriebliche Handeln wie übergreifend die soziale<br />

Identität ein und hat einen Habitus hervorgebracht, der bis heute als <strong>White</strong>-<strong>Collar</strong>-Mentalität<br />

und Teil einer typischen Angestelltenkultur kenntlich geblieben ist. Mit dieser Mentalität und<br />

∗ Leicht gekürzte Fassung des gleichnamigen Beitrags in: Artus, Ingrid, Trinczek, Rainer (Hg.) (2004):<br />

Über Arbeit, Interessen und andere Dinge. Phänomene, Strukturen und Akteure im modernen Kapitalismus.<br />

Rudi Schmidt zum 65. Geburtstag. München und Mering: Rainer Hampp Verlag, S. 101-121<br />

2


ihrer Fremdheit gegenüber der Welt der Arbeiter hat sich die einschlägige Bindestrich-Soziologie<br />

lange und intensiv befasst. Auch heute noch mag der Versuch, die Angestelltenfrage im Rückund<br />

Ausblick zu skizzieren, nicht sinnlos erscheinen. 1 Die groben Striche, die im folgenden vorherrschen,<br />

sollen freilich den Gegenstand nicht entdifferenzieren, sondern anschaulich halten und<br />

zudem die Leser – ob angestellt oder nicht – zu eigenem Nachdenken anregen.<br />

I. Das Vergangene in der Gegenwart<br />

„Die Angestellten sind begreiflicherweise bestrebt,<br />

dem Glauben der Arbeiter an ihr überirdisches<br />

Wesen keine Schande zu machen.“ (Siegfried<br />

Kracauer 1930: 110)<br />

Zu beginnen ist mit einem Blick in die Geschichte. Er ist dem Thema sogar dienlich. Denn gäbe<br />

es irgendwo im Museum ein historisches Panoptikum der modernen Klassen, Mentalitäten und<br />

sozialen Identitäten, die Figur des Angestellten hätte darin einen besonderen Platz. Nicht vorne an<br />

der Rampe, aber auch nicht in der Kulisse, nicht im Dunkeln, aber auch nicht im hellsten Licht.<br />

Im Dienste trägt der frühe Angestellte – selbstredend männlich – saubere Kleidung, wobei das<br />

korrekte Äußere auf allen Hierarchiestufen eine einfache, aber wichtige Beziehung zur Arbeit<br />

demonstriert: den räumlichen und sozialen Abstand zur Welt der maschinellen Produktion. Selbst<br />

wenn der Weg „vom Stift zum Handelsherrn“, so der Titel einer bis 1914 beliebten Kaufmannsfibel,<br />

mit der Zeit einer Minderheit vorbehalten blieb, standen die typischen Angestelltenberufe –<br />

Ingenieure und Meister, Buchhalter und Handlungsgehilfen – doch lange im Dunstkreis betrieblicher<br />

Herrschaft. Das pflegte sie derart zu beeindrucken, dass auch ihre gering entlohnten Vertreter<br />

an den Zusammenschlüssen und Aktionen von Arbeitern nicht einmal im Traum teilnahmen.<br />

Der historische Angestellte fühlt sich weder als Herr noch als Knecht, weit eher als der Vertraute<br />

des Herrn, der seinerseits die delegierte Aufsicht über den Knecht nicht nur mit Geld, sondern<br />

auch mit symbolischer Macht und dem blassen Empfinden entlohnt, in wichtige Dinge eingeweiht<br />

zu sein.<br />

Etwas von dem historischen Bild aus der Gründerzeit der großen Industrie ist, zumal in<br />

1 Der Text fußt auf zwei Beiträgen (Baethge/Kadritzke 1995; Kadritzke 1995), die ich vor einigen Jahren<br />

für einen Ausstellungskatalog verfasst hatte. Sie sind damals nicht in den Geschäftsgang der diensttuenden<br />

Soziologen geraten. Ich mache hier den Versuch, die früheren Gedanken aufzunehmen, kritisch zu prüfen<br />

und in die Gegenwart zu verlängern. Der Obertitel ist einem Kommentar von Bob Herbert aus der New<br />

York Times vom 29. Dezember 2003 entwendet.<br />

3


Deutschland, bis heute geblieben. Wenn noch in der Gegenwart der typische Angestellten den<br />

typischen Arbeiter nicht zu seinesgleichen zählt – wie übrigens auch umgekehrt – dann muss<br />

hinter den wissenschaftlich schon längst durchleuchteten Besonderheiten noch eine Kraft der<br />

Unterscheidung stecken. Aber welche Kraft und welche Unterschiede? Zunächst rühren gerade<br />

von den vergangenen betrieblichen Arbeitsformen und Zuständigkeitsregeln des klassischen Industrieunternehmens<br />

die Stufen und Schattierungen, aber auch die Selbstbilder und übergreifenden<br />

Ideologien der Angestellten her (vgl. die Beiträge in Lauterbach 1995). Natürlich wirken sie<br />

heute zwiespältig, sofern sie übergreifend und umstandslos dem Angestellten als solchem gelten;<br />

das kollektive Selbst- und Fremdbild ist längst zu einem Klischee verblasst. Aber in der Gesellschaft<br />

bleibt es als Pauschalurteil in Umlauf und zudem brauchbar als mikropolitisches Herrschaftsmittel<br />

im Unternehmen. Deshalb lohnt sich ein kurzes Nachdenken über die gesellschaftliche<br />

Bedeutung der vergangenen Interpretationskämpfe.<br />

Die Angestellten als Kronzeugen im Prozess über die ‚soziale Frage’<br />

Seit den historischen Anfängen sticht, was den öffentlichen Umgang mit Arbeitern und Angestellten<br />

betrifft, ein Unterschied ins Auge. Lange bevor sich die bürgerliche Gesellschaft der ‚Arbeiterfrage’<br />

stellen musste, gab es diese Spezies selbst; ihre Rolle im kapitalistischen Entwicklungsprozess,<br />

der ihnen vorenthaltene Anteil am gesellschaftlichen Reichtum ließ sich lange beschönigen,<br />

aber schließlich nicht mehr leugnen. Die Angestellten dagegen betraten im letzten<br />

Drittel des 19. Jahrhunderts ein schon gewandeltes soziales Terrain. Sie gerieten in komplizierte<br />

begriffliche Deutungskämpfe, in die sich die erstarkende Arbeiterbewegung ebenso einmischte<br />

wie die Wissenschaften von der ‚sozialen Frage’. Damit wurden die Angestellten, noch ehe sie<br />

ein schlüssiges Selbstbild entwickeln, ihr Verhältnis zu anderen Klassen und Schichten klären<br />

konnten, zum Objekt konkurrierender Denkschulen und politischer Bewegungen. In die komplizierte<br />

Kopfgeburt der Angestellten schalteten sich von jeher starke ökonomische und sozialen<br />

Interessen ein. Die neue soziale Gruppe diente als Beweismittel für modernisierte mittelständische<br />

Harmonielehren einerseits, für die Klassentheorie in ihren verschiedenen Varianten andererseits.<br />

Es ist kein Zufall, wenn in dieser Zeit so besänftigende Begriffe wie „Privatbeamter“ oder<br />

„neuer Mittelstand“ in Österreich und Deutschland nicht nur die öffentliche Debatte beherrschten,<br />

sondern in der separaten Sozialversicherung für Angestellte auch eine handfeste politische<br />

Gestalt annahmen. Die trennende Konstruktion war nicht etwa ökonomisch rational, sondern interessenpolitisch<br />

gewollt, um die Angestellten nicht der Arbeiterbewegung in die Arme zu treiben.<br />

4


Das blieb weder mentalitätsgeschichtlich noch politisch folgenlos. Der Unterschied hielt im<br />

Dienste verfeinerter Herrschaft das Gespür für hierarchische Stufen und die ‚feinen Unterschiede’<br />

wach; er bestärkte – in Mitteleuropa länger als in anderen Ländern – die Neigung vieler Angestellter,<br />

die betriebliche Wirklichkeit und die eigene soziale Lage eher beschönigend auszudeuten.<br />

Freilich zeigt die weitere Entwicklung in Betrieb und Gesellschaft auch, wie leicht das Beharren<br />

auf sozialer Geltung, sofern es nur auf den Angestellten-Titel setzt, sich blamieren kann. In<br />

dem Maße, wie mit dem Fortgang der Industrialisierung und dem Entstehen moderner Dienstleistungsberufe<br />

die Masse der Angestellten wuchs, setzten der betriebliche Rationalisierungsprozess<br />

und der beständige Wandel auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt auch die Positionen und der<br />

Angestellten und damit ihr gefühlte Lage ‚zwischen den Klassen’ unter Druck (vgl. Kadritzke<br />

1975). Auf der Ebene der Gesellschaft differenzierten sich, wie frühe (Lederer 1912; Lederer/Marschak<br />

1926) und neuere (Kocka 1981) Studien dargelegt haben, im übergreifenden Deklassierungsprozess<br />

der Angestellten die verbleibenden Chancen des Aufstiegs und Fortkommens<br />

nach professionellen Zuschnitten und Qualifikationsstufen auf.<br />

Was also bleibt seit der Ära der frühen Massenproduktion vom gemeinsamen Merkmal eines<br />

‚neuen Mittelstandes’? Wie kann sich angesichts der Dynamik des modernen Kapitalismus die<br />

Mehrheit der Angestellten noch begreifen: als Teil einer übergreifenden Klasse, als eigene soziale<br />

Schicht, als lose Gruppierung von Berufen jenseits der Produktionsarbeit – oder als ‚moderne<br />

Individuen’, die sich ihre sozialen Bindungen und Mitgliedschaften ständig neu konstruieren<br />

müssen, wie es wissenschaftliche Beobachter heute deuten? Nochmals müssen wir einen Schritt<br />

zurück treten, um den ganzen Entwicklungsprozess zu überschauen.<br />

Die Angestellten in den sozialwissenschaftlichen Deutungskonflikten<br />

Die Hauptvertreter der klassischen Angestellten-Soziologie haben zu diesen Fragen ihre je zeitgemäßen<br />

Theorien entworfen. Als Vorläufer zählt zu ihnen in gewisser Weise sogar Karl Marx,<br />

der schon in einer Vorstudie zu seiner im Kapital dargelegten ‚Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft’<br />

die heute wichtigsten Angestelltengruppen aufgegliedert und nach ihren Funktionen für<br />

den kapitalistischen Reproduktionsprozess unterschieden hat (Marx 1969). Trotz subtiler Untergliederungen<br />

nach der Stellung im Prozess der Mehrwertproduktion deutet Marx die meisten Angestellten<br />

– ob ‚indirekt’ oder ‚unmittelbar produktiv’ – als mehr oder minder gut bezahlte Abteilungen<br />

der Lohnarbeiterklasse. Aber genauere Antworten auf die Frage, was das ökonomische<br />

5


Grundverhältnis für das gesellschaftliche Bewusstsein und die ökonomischen Interessen der ‚angestellten<br />

Lohnarbeiter’ heißen könnte, blieben in der frühen Interpretationsgeschichte der marxistischen<br />

Theorie zumeist unbehandelt oder in lähmenden Deutungskämpfen stecken.<br />

Max Weber als der bürgerliche Gegenspieler von Marx steht am Beginn eines anderen Interpretationspfades<br />

der Moderne (1964a). Er sieht die Angestellten vor allem als Träger der staatlichen<br />

und betrieblichen Verwaltungsapparate, die sich im modernen Kapitalismus als arbeitsteilige<br />

Funktionsbereiche und Teilsysteme herausbilden. Folgerichtig handelt Weber die Industrieangestellten<br />

als bürokratischen Typus ab – für ihn unterscheidet sich die Aufgabe des im Unternehmen<br />

tätigen ‚Privatbeamten’ nicht gründlich von der des Staatsdieners. Gemeinsame Merkmale<br />

des Berufs sind strenge Sachlichkeit und eine besondere Loyalität gegenüber dem Amt.<br />

Nach wie vor modern wirkt Webers Diagnose des Angestellten (1964b) in einem wichtigen<br />

Punkt: In dem Maße, wie sich mit den Marktprozessen, und nicht etwa gegen sie, die bürokratischen<br />

Organisationsformen auch jenseits des Staates ausdehnen – in der Kirche und im Kaufhaus,<br />

im Industriebetrieb, aber auch in Parteien, Gewerkschaften und Verbänden –, werde der Angestellte<br />

als Verhaltenstypus, als Träger einer besonderen Mentalität mehr und mehr die gesellschaftlichen<br />

Verkehrsformen prägen. Der Weg zur dienstleistenden Angestelltengesellschaft und<br />

zu Burnhams Regime der Manager (1941) erscheint damit vorgezeichnet.<br />

Von Weber lassen sich viele Verbindungslinien zu den späteren Versuchen ziehen, die Figur<br />

des Angestellten systematisch durch seine typische Stellung im Gehäuse der betrieblichen Herrschaft<br />

zu bestimmen, in der sachdienlichen Sprache von heute: durch Position, funktionale Rolle<br />

und fachliche Kompetenz in Organisationen. Nach dem Zweiten Weltkrieg betonen vor allem<br />

Fritz Croner (1954) und Ralf Dahrendorf (1957) das Ausmaß, in dem die Teilhabe der Angestellten<br />

am Leitungsprozess im Unternehmen deren betriebliche Geltung und das Bewusstsein geprägt<br />

hätten; sie bildeten nun im „Schmelztiegel“ der alten Klassengesellschaft das Rückrat einer „nivellierten<br />

Mittelstandsgesellschaft“ (Geiger 1949; Schelsky 1953). Die hier hervorgehobene Delegation<br />

betrieblicher Herrschaft an Manager und Angestellte ist freilich nicht ganz neu, sondern<br />

nur der ständig wechselnde Ausdruck eines innerkapitalistischen Strukturwandels, den schon<br />

Marx aus der Logik der Produktivkraftentwicklung durch Arbeitsteilung erklärt und am höchst<br />

entwickelten Typus des Kapitals, der Aktiengesellschaft, aufgewiesen hatte.<br />

6


Jenseits des neuen Mittelstands: die Beharrlichkeit sozialer Geltung<br />

Die gröbsten der wissenschaftlichen Illusionen über die Pufferrolle eines neuen Mittelstands wären<br />

vielleicht vermeidbar gewesen, hätten die soziologischen Wortführer der 1950er Jahre rechtzeitig<br />

Gelegenheit erhalten, Hans Speier (1977) zu lesen. Der hatte, schon in der Weimarer Republik<br />

mit der Lage der Angestellten aufs engste vertraut, kurz vor 1933 eine Studie mit dem<br />

Titel Soziologie der deutschen Angestelltenschaft verfasst; ihre Veröffentlichung unterblieb dann<br />

aus politischen Gründen. Speier begründet seine systematisch-historische Sichtweise auf die Angestellten<br />

in Deutschland mit überzeugenden Argumenten und entwickelt am Ende der Weimarer<br />

Republik eine dritte Interpretationslinie. Seine Analyse trägt sowohl dem strukturellen Wandel<br />

als auch den historischen Eigentümlichkeiten der deutschen Gesellschaft Rechnung.<br />

Speier betont zunächst die ökonomische Nicht-Selbständigkeit als gemeinsames Merkmal von<br />

Arbeitern und Angestellten und verweist damit die These vom neuen Mittelstand ins Reich der<br />

Ideologie. Zugleich nimmt er genauer als viele zeitgenössische Marxisten wahr, in welchem Maße<br />

die modernen Angestelltenberufe historische Traditionslinien und eine soziale Spannweite<br />

einschließen, die das gesellschaftliche Bewusstsein auf eigene Weise prägen. Mit scharfem Blick<br />

erfasst Speier das Zusammenspiel zweier Kräfte, das soziale Scheidelinien von der Art des Arbeiter-<br />

und Angestelltentitels bis heute begünstigt: zum einen die historisch gewachsenen, in<br />

Deutschland durch vordemokratischen Standesdünkel verstärkten Unterschiede und Distinktionswünsche<br />

(vor allem nach sozialer Herkunft, Geschlecht und dem Maß an Staatstreue); zum<br />

zweiten die modernen, Effizienz und Effektivität verbürgenden Organisationsformen, die jene<br />

Traditionen nicht etwa rasch und restlos beseitigen, sondern noch lange für den betrieblichen<br />

Rationalisierungsprozess und die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels funktionalisieren<br />

können: für eine konkurrenzfördernde Ungleichheit nach Beruf und Bildungsabschluss, nach Alter<br />

und Geschlecht, selbst nach dem Prestige von Waren und Dienstleistungen. In der betrieblichen<br />

Personalpolitik für Frauen, die in den Berufen des kunstseidener Glanzes (Frevert 1988) und<br />

der sozialen Dienste noch heute die gesellschaftliche Rollenteilung für minderen Lohn missbrauch,<br />

tritt dieser Zusammenhang bis heute zutage.<br />

Das bislang unüberbotene Beispiel für subtile sozialkulturelle Differenzierungen stammt aus<br />

den Kaufhäusern der 1920er Jahre. Dort „werden die Herrenmodeartikel, der kunstgewerbliche<br />

Gegenstand oder das Schmuckstück zum dokumentarischen Beweismittel für die Gehobenheit<br />

der Stellung einer Verkäuferin, Schuhe und Wäsche etwa kennzeichnen die mittlere<br />

Sphäre der Hierarchie, billige Haushaltsartikel und Lebensmittel ihre unterste Stufe. (...) Bezeichnend<br />

für die innerbetriebliche Sozialwirkung (...) ist der Brauch, nach dem in einem der<br />

Berliner Warenhäuser die Angestellten für kleine Verfehlungen bestraft werden. Bei der ers-<br />

7


ten Straffälligkeit wird die Verkäuferin für längere Zeit in die Käseabteilung versetzt. Bei<br />

Rückfälligkeit erfolgt eine Strafversetzung in die Fischabteilung“ (Dreyfuss 1933: 117 f.).<br />

Mit Hans Speiers Einsichten aus dem Jahre 1933 ließe sich, aufs Ganze gesehen, noch heute leben.<br />

Sie machen die wachsende Vielfalt an Angestelltentätigkeiten begreiflich, die weder in mechanistischen<br />

Klassendefinitionen noch in Max Webers bürokratischem Typus, weder in Croners<br />

Delegations- noch in Dahrendorfs Herrschaftstheorie angemessen eingefangen ist. Schon die Fülle<br />

der Qualifikationen, betrieblichen Positionen, Berufsfelder und Arbeitsinhalte bringt jeden<br />

Versuch zum Scheitern, noch ernsthaft eine objektive Einheit ‚der Angestellten’ zu konstruieren.<br />

Was freilich bis heute gilt ist die Erfahrung, dass Systeme der Arbeitsteilung und der Differenzierung<br />

nach Qualifikation und Verantwortung die Mechanismen jener sozialen Geltung am Leben<br />

erhalten, die im Mittelpunkt von Hans Speiers Analyse stehen. Dass in seinem Sinne der Angestellte<br />

als Gegenbild zum Arbeiter, wenngleich in blassen Farben und ideologischen Zügen, überlebt<br />

hat, zeigt ein gegenwärtiges Beispiel: Die Entlohnung der Angestellten streut breiter denn je<br />

über verschiedene Branchen, Berufe und Hierarchien; dennoch steht sie, von ‚unten’ her gesehen,<br />

nach wie vor in dem Ruf, ungerechtfertigt hoch zu sein. Zum Ergötzen aller Couponschneider<br />

und ihrer Fachberater vergleicht sie der Alltagsverstand der Nicht-Angestellten nicht etwa mit<br />

den garantierten, allen meritokratischen Maßstäben spottenden Lottogewinnen, die Spitzenmanager<br />

einstreichen, sondern mit dem Durchschnittslohn des ‚richtigen’, bewährten Produktionsarbeiters.<br />

Marxisten und kritische Sozialforscher aus vielen Lagern haben sich über die Vergänglichkeit<br />

derartiger Zerrbilder und konkurrierender ‚Mentalitäten’ optimistischen Illusionen hingegeben.<br />

Es mag sein, dass demgegenüber Max Weber (1964a: 179 f.) und später Pierre Bourdieu (u.a.<br />

1981, 1983) auf je eigene Weise die besseren Realisten geblieben sind. Beide haben darauf aufmerksam<br />

gemacht, dass auch in der bürgerlichen Gesellschaft ein historisch erworbener Vorteil –<br />

wie seltene Berufe oder Qualifikationen – über längere Zeit zu einem stabilen Fundament ökonomischer<br />

Macht, ja zum kulturellen oder sozialen Kapital eigener Art werden kann. Selbst wenn<br />

sich für viele Angestelltenberufe der in Deutschland erzielbare Gewinn an sozialem Ansehen und<br />

Geltung geschmälert hat, ist bis heute die Prägekraft der historischen Umstände zu verspüren. Die<br />

mentalitätsgeschichtliche Seite der Angestellten zeigt sich in den abgestuften Statussymbolen wie<br />

in den Bürowitzen, die zumeist mehr vergangene Vorurteile als neue Einsichten enthalten. Die<br />

Gesten des Alltags haben freilich die Kraft verloren, sich zu einer die Angestellten verbindenden<br />

Mentalität zu verdichten. In der Gegenwart ist ein von der Fachausbildung oder dem Studium<br />

8


geprägtes Berufsbewusstsein weit stärker verbreitet als das gemeinsame Empfinden, angestellt zu<br />

sein.<br />

Das Ergebnis ist damit zwiespältig. Einerseits fehlt den meisten Angestellten der Rückhalt in<br />

einer Tradition schichteigener Selbstbilder und Wertvorstellungen – das gilt heute mehr denn je<br />

und mittlerweile auch für viele Arbeiter. Andererseits wissen gerade die gehobenen (und damit<br />

die typisch männlichen) Angestellten bis heute, mit wem ‚man’ sich nicht gemein macht. An dieser<br />

Distinktionssucht hat Hans Paul Bahrdt, ein intimer Kenner der Angestelltenseelen, den ironischsten<br />

aller Beschreibungsversuche über die Legitimationsschwäche der professionellen Mittelklassen<br />

festgemacht: „Manche Angestellte unterscheiden sich von den Arbeitern nur dadurch,<br />

dass sie sich von den Arbeitern unterscheiden“ (Bahrdt 1984: 154).<br />

Im Lichte derart nüchterner Befunde bleibt eine Frage zu beantworten, die mit dem bloßen<br />

Ideologieverdacht gegen die geschwundene Legitimation des Angestelltentitel noch nicht ausgeräumt<br />

ist. Sind die Vertreter eines vermeintlichen ‚neuen Mittelstands’, nachdem die objektive<br />

Seite ihres Sozialcharakters kaum mehr Einheit stiftende Züge aufweist, vielleicht die typischsten<br />

Vertreter einer Moderne, die zwar die Herrschaft der Individualität ausgerufen hat, tatsächlich<br />

aber in raschem Wechsel stets neue Erscheinungsformen der fremdbestimmten Arbeitskraft hervorbringt?<br />

Steht die größere Beweglichkeit von Angestellten, die im Kontrast zum Massenarbeiter<br />

Individualität zu verkörpern scheinen, beispielhaft für den ständigen Zwang zu blinden Innovationen<br />

und sozialen Entgrenzungen, in dem sich der Wachstumskapitalismus verfangen hat?<br />

Siegfried Kracauers moderne Ent-Täuschung<br />

Am frühestens und gründlichsten ist Siegfried Kracauer derartigen Fragen nachgegangen. Ungeachtet<br />

der zeitlichen und örtlichen Umstände der späten 1920er Jahre ist die Modernität seiner<br />

Diagnose bis heute unübertroffen. Der Schriftsteller und Wissenschaftler entdeckt noch in den<br />

kleinen Symbolen und privaten Nischen der Angestelltenwelt die allgemeinen Züge der Entfremdung<br />

in der niedrigen wie in der hohen Berufsarbeit. Zugleich fragt er sich, wie diese Realität das<br />

Denken und Träumen der Menschen jenseits der Arbeit bestimmt. Kracauers Essays gelten bis<br />

heute als geschliffene, die Angestelltenfrage vom Kopf auf die Füße stellende Analyse. Aber wo<br />

alle sich auf sie berufen, ist Vorsicht geboten.<br />

So mancher, der Kracauers zeitgenössische Einsichten in die Abgründe der Berliner Angestelltenwelt<br />

bewundern mag, hat vergessen, dass dieser eine bestimmte Schicht im ständigen Umbruch<br />

durchleuchtet und damit die Bewegung der Gesellschaft insgesamt. Am Zusammenspiel<br />

9


von Sein und Bewusstsein, am Schwanken zwischen Aufstiegsstreben, beruflicher Alltagsroutine<br />

und flüchtiger Zerstreuung legt Kracauer dar, wie die Angestellten als modernster Typus der Arbeitskraft<br />

„die Spannung zwischen den wirklichen Lebensbedingungen (...) und ihrer Ideologie“<br />

(1930: 115) austragen. Freilich leistet er sich nicht das bequeme Intellektuellenvergnügen, die<br />

noch verbliebenen Karrierechancen in der Angestelltenwelt zum pauschalen Trugbild zu erklären.<br />

Er geht ihrem Schwinden auf vielen Pfaden und Ebenen nach: im System der gesellschaftlichen<br />

Arbeitsteilung und bei den einzelnen Berufen, im betrieblichen Rationalisierungsprozess und in<br />

der Arbeitslosigkeit. Erst vor diesem Hintergrund tritt der zunehmend illusionäre Charakter einer<br />

geborgten Exklusivität hervor, an die sich viele Angestellte klammern: „So gewiss sich ein<br />

Werkstattschreiber mehr vom Prokuristen als vom qualifizierten Arbeiter unterscheidet, ebenso<br />

gewiss rechnet er sich zu den Kollegen des Prokuristen“ (1930: 110 f.). Die kulturelle Distanz,<br />

die viele Angestellte zur Arbeiterwelt aufrecht erhalten, deutet Kracauer als verzweifelte Geste,<br />

auf die schon eine unerbittliche Antwort erfolgt: „Aber winken nicht die höheren Schichten? Wie<br />

sich herausgestellt hat, winken sie unverbindlich von fern“ (1930: 120). Derartige Einsichten<br />

haben den jüdischen Intellektellen verdächtig gemacht und ins Exil getrieben.<br />

Mit Kracauer könnte die Generalfrage nach einer sozialen oder kulturellen Identität der Angestellten<br />

für abgeheftet gelten. Denn schon die Möglichkeit einer Antwort setzte eine Gemeinsamkeit<br />

der gesellschaftlichen Chancen voraus, die mit der Zeit eine künstliche, gewissermaßen illuminierte<br />

geworden ist. Angestellte und Arbeiter mögen noch undeutliche historische Empfindungen<br />

haben, aber die gröbsten Vorurteile verblassen und beherrschen allenfalls noch bestimmte<br />

Gruppen. Wäre da nicht die Macht der modernen gesellschaftlichen Institutionen, die mit wirtschaftlichen<br />

Zwängen und der Verführungskraft der kleinen Unterschiede spielen. Sie erinnert<br />

daran, dass die kapitalistische Klassengesellschaft die vorgefundenen Verhältnisse, Institutionen<br />

und sozialen Identitäten von innen aushöhlt und immer wieder neu erzeugt (vgl. Polanyi 1978).<br />

10


II. Entgrenzte Arbeit – ein Signum des Angestelltenkapitalismus?<br />

„Selbst in der Firma war es nicht leicht, sein Büro<br />

zu finden. Es wechselte die ganze Zeit. Oder er<br />

räumte es, um woanders zu arbeiten oder um dort<br />

zu arbeiten, wo er zufällig gerade war, oder um zu<br />

Hause im Nebentrakt zu arbeiten, weil er Leben<br />

und Arbeit eigentlich nicht wirklich voneinander<br />

trennte ...“ (Don DeLillo 2003: 63)<br />

In der jüngeren sozialwissenschaftlichen Debatte zur betrieblichen Stellung und gesellschaftlichen<br />

Lage der Arbeiter und Angestellten haben sich die Interpretationsmuster in mehrfacher Hinsicht<br />

gewandelt, wie Deutschmann (2002: 224ff.) noch einmal überschlägig resümiert. Auf eine<br />

Periode der klassentheoretisch ‚offensiven’ Deutung in den 1970er Jahren folgte die nüchterne<br />

Arbeit der Empirie. Diese Verlagerung der wissenschaftlichen Orientierung ist nicht nur als<br />

nachholende Anpassung an einen nach der Studentenbewegung allgemein gezähmten Wissenschaftsbetrieb<br />

zu bewerten. Sie ist, zieht man nüchtern Bilanz, auch vom Verhalten jener wissenschaftlich-technischen<br />

Intelligenz erzwungen worden, auf die kritische Wissenschaftler damals<br />

ihre emanzipatorischen Hoffnungen gesetzt hatten. Die marxistische Perspektive hatte zwar einen<br />

neuen Blick auf die Geschichte und die Struktur des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters ermöglicht.<br />

Aber gerade im Falle der Angestelltengruppen neigten viele der Analysen dazu, vom ökonomischen<br />

Grundverhältnis der Lohnarbeit zu unvermittelt auf die sozialen Interessen zu schließen<br />

und deren Komplexität zu unterschätzen. Diese waren empirisch alles andere als homogen<br />

und verweisen in ihrer – historisch gewordenen wie auch immer neu entstehenden – Vielfalt auf<br />

die Not, die eine abstrakt bleibende Klassentheorie mit dem Verhältnis von ‚Sein und Bewusstsein’<br />

hat. Im Rückblick empfinde ich, als forderte das imposante Kategorienpaar zu energisch<br />

und deshalb vergeblich den empirischen Nachweis eines notwendigen Zusammenhangs ein, dessen<br />

Glieder wir eher kläglich zu verknüpfen suchten. Vielleicht ist die Unbedingtheit des Anspruchs<br />

selbst in Frage zu stellen.<br />

Das sozialwissenschaftliche Bild der Angestellten heute<br />

Angesichts der skizzierten Deutungsprobleme nimmt es nicht Wunder, dass die artistischen, in<br />

begrifflichen Ritualen erstarrten Diskurskämpfe allmählich abflauten, die im Nachgang der Studentenbewegung<br />

vorgeherrscht hatten. Nun kam die empirische Forschung stärker zu ihrem<br />

Recht. Als Antwort auf allzu mechanistische Bilder entwarfen in den 1980er Jahren die Erlanger<br />

11


Industriesoziologen um Rudi Schmidt einen modernen ‚sozialen Habitus’ der Angestellten, dessen<br />

wesentliche Züge und Differenzierungsformen sie empirisch sorgfältig aus dem Rationalisierungsprozess<br />

der Arbeit entfalteten. Die Stärke ihrer Studie lag in der facettenreichen Nachzeichnung<br />

der für Arbeiter und Angestellte je typischen Bewusstseinsformen und Interessenlagen, die<br />

von den teils gemeinsamen, teils unterschiedlichen betrieblichen Rationalisierungserfahrungen<br />

am stärksten beeinflusst sind. Als Schwäche empfand ich damals das idealtypisch nützliche, aber<br />

eher überzeichnete Kontrastbild auseinander driftender Sozialcharaktere: Das Arbeiterinteresse<br />

richte sich auf mehr Gleichheit und kollektiven Schutz, die Angestellten hingegen seien auf Leistungswettbewerb,<br />

Differenzierung und Individualität (Kudera u.a. 1983: 226) fixiert. Das leuchtete<br />

mir weder theoretisch noch empirisch ganz ein, weil die Übergänge und Gemeinsamkeiten des<br />

Arbeits- und Gesellschaftsbewussteins zu wenig beachtet erschienen. Und man könnte darüber<br />

streiten, ob die empirisch starke Leistungsorientierung von Angestellten als bewusst gewählte<br />

„Konkurrenzstrategie“ (Schmidt 1988a) oder nicht vielmehr als widersprüchliches, zwischen<br />

fachlicher Leidenschaft und Statusträumen schwankendes Leitbild zu deuten ist. Jedenfalls<br />

schließt die reale Berufsarbeit beider Gruppen mehr fremd- als selbstbestimmte Züge ein und<br />

verbürgt der Mehrheit heute weniger denn je die sichere Aussicht auf einen steigen Zugewinn an<br />

Lebenschancen.<br />

Freilich tröstete damals der letzte Satz der empirisch genauen Studie. Er nährte den zähen Optimismus,<br />

mit dem andere Analysen die Angestellten näher an die Arbeiter heranrückten und<br />

auch ihnen ein paar Sehnsüchte jenseits von Titel und Stelle zutrauten (vgl. Kadritzke 1982), am<br />

Ende mit etwas empirischem Futter. Am Schluss der Studie stellten die Autoren einen leibhaftigen<br />

Angestellten vor, der<br />

„auf die Frage, ob er sich eine Gesellschaft ohne allzu krasse Unterschiede vorstellen könne,<br />

in der jeder die Möglichkeit hätte, seine Bedürfnisse zu befriedigen, mit einem Anflug<br />

von Erschrecken antwortete: das wäre ja das Paradies“ (Kudera u.a. 1983: 227).<br />

Dass der Erlanger Abspann mit diesem Anflug von Sehnsucht endete, hielt mit der dokumentierten<br />

Antwort auf eine leise Frage zumindest die Hoffnung am Leben, Bilder der sozialen Gerechtigkeit<br />

könnten sich nicht nur in dem herkömmlich sozialisierten, der industriellen Produktion<br />

entwachsenden Arbeiterbewusstein entwickeln, sondern auch die scheinbar feste ‚Angestelltenmentalität’<br />

aufbrechen und einem postbürgerlichen Leitbild von Individualität den Weg bahnen,<br />

das sich nicht einfach gegen kollektive Interessen ausspielen ließe.<br />

12


Zu derartigen Gedanken lädt, wenigstens auf den ersten Blick, weder die jüngere Vergangenheit<br />

noch die Gegenwart ein. Aber verschärfte Umstände und innere Widersprüche müssen sich<br />

weder ausschließen noch wechselseitig lähmen. Heute wissen wir einerseits, dass nicht nur in<br />

Deutschland, sondern auch in anderen Gesellschaften die relative Besonderung der Angestellten<br />

im historischen Prozess die Festigkeit einer sozial konstruierten Tatsache erlangt und damit einen<br />

relativ stabilen Habitus begründet hat. Ein solcher lässt sich andererseits, zumal in Zeiten der<br />

allseitigen Flexibilisierung, auch als Ausdruck des Bedürfnisses begreifen, gegenüber den beschleunigten<br />

Veränderungsprozessen und komplexen Anforderungen einen Kompass der Alltagsorientierung<br />

zu bewahren. Wie verbindlich gilt dieser Kompass für die Angestelltengruppen?<br />

Bedroht die Entwicklung, die Sennett (1998) als ‚Kultur des neuen Kapitalismus’ deutet, auch<br />

die relativen Gewinner im Konkurrenz- und Leistungswettbewerb? Solche Fragen drängen sich<br />

angesichts der Kluft zwischen der wirklichen Entwicklung und dem freundlichen Leitbild einer<br />

Dienstleistungsgesellschaft auf, das die Mehrheit der Angestellten zur wertvollen Humanressource<br />

und zu Siegern in betrieblichen Win-win-Spielen erklärt und die Minderheit zu Versagern, die<br />

nicht bereit oder fähig seien, zur eigenen Befreiung die Regeln der freien Konkurrenz zu nutzen.<br />

Welche reale Entwicklung liegt der aktuellen Redeweise zugrunde, die mit derart dummen<br />

Versprechen locken und zugleich drohen kann? Schon im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts<br />

gerieten normale wie gehobene Angestelltenberufe unter immer stärkeren Veränderungsdruck<br />

(vgl. Baethge/Oberbeck 1986; Deutschmann 2002: 228ff.). Heute entstehen immer neue Berufsund<br />

Qualifikationsmärkte, selbst frisch erworbene Fähigkeiten und Zusatzerfahrungen können<br />

rasch verschleißen. Unterhalb der wachsenden, aber weiterhin einer Minderheit vorbehaltenen<br />

good jobs nimmt die wirkliche Berufswelt des Angestelltenpersonals – mittlerweile mehrheitlich<br />

weiblich – sehr nüchterne Züge an. Wo Dienstleistungsarbeit nicht mehr tayloristisch organisiert<br />

ist, setzt eine Kombination aus Zielvorgaben, Anreizen und Erfolgskontrollen die verstärkte Hingabe<br />

der Arbeitskraft in neuen, ‚flexibel’ genannten Zeitregimes durch. Das bislang geltende<br />

Leistungsprinzip, das noch die Identifikation des Fachangestellten mit dem Unternehmenszweck<br />

sicherte, wird von innen her brüchig und unter der Hand zum Erfolgsprinzip umcodiert 2 . Auf dem<br />

Arbeitsmarkt verliert die traditionelle Differenz zwischen Arbeitern und Angestellten immer<br />

mehr an Gewicht. Aber an ihre Stelle tritt nicht das Empfinden gemeinsamer Lagen oder gar Interessen,<br />

sondern die ständige Frage nach der je marktgängigen Qualifikation der Einzelnen.<br />

2 Dass die beiden Begriffe unterschiedliche Ziele und Bewertungsmaßstäbe einschließen, wird nicht nur<br />

von Managern, sondern zuweilen auch in der soziologischen Diskussion übersehen.<br />

13


Was bleibt damit von der symbolischen Prägekraft des Angestelltentitels? Wie die Ironie es<br />

will, mag sein letztes, geschwächtes Beharrungsvermögen sich gerade den Bildern verdanken, die<br />

er beschwört. Die von Kracauer beobachtete Angestelltenideologie wahrte den Hang zur Welt der<br />

Selbständigkeit, sie versprach die Gestaltbarkeit des persönlichen Lebens als scheinbar einzigen<br />

Fluchtweg aus dem Massenschicksal der Arbeiter. In dem auf den einzelnen Menschen beschränkten<br />

Versprechen des persönlichen Erfolgs durch maßvollen Aufstieg und eine Dosis sozialer<br />

Geltung klingt die Idee einer sozialen Emanzipation nur noch von ferne an. Für die Mehrheit<br />

der Angestellten bleibt der Weg alles und das Ziel fern. Aber das individualisierte Leitbild ersetzt,<br />

womit es bis heute ideologisch verwendbar bleibt, den alten Arbeitertraum des selbstbewussten<br />

Kollektivs durch die Predigt der feinen Unterschiede und die Inszenierung einer kooperativen<br />

Konkurrenz – man nennt das nun neue Selbständigkeit.<br />

Angestellte in einer unübersichtlichen Klassengesellschaft<br />

Nicht nur die überanstrengte Rhetorik der Managementbegriffe, auch die veränderte Wirklichkeit,<br />

die sie interessiert verzerrend zum Ausdruck bringt, macht es schwer, den Wandel der Arbeitsgesellschaft<br />

in seiner Qualität und in seinen Grenzen zu erfassen. Die Verunsicherung ergreift<br />

neue, bislang eher gesicherte Berufe und Qualifikationsgruppen. Den Widersprüchen dieses<br />

Wandels sind einige gründliche Studien über angestellte Experten, mittlere Manager und neue<br />

Unternehmensstrategien nachgegangen 3 . Die mit der Globalisierung der Unternehmenspolitik<br />

einsetzende Dezentralisierung von Verantwortlichkeiten – zu welchem Grade auch immer realisiert<br />

– höhlt die alten Organisationsformen des Großbetriebs aus. Zunächst winkt vielen qualifizierten<br />

Angestellten der Lohn für die fachliche Leidenschaft, für die geglückte performance in<br />

der Erfolgs- und Leistungskonkurrenz nicht nur handfest materiell, sondern auch in Form erhöhter<br />

Selbständigkeit. Mit der Delegation von Verantwortung erscheint das Unternehmen von innen<br />

her vermenschlicht. Die Kehrseite dieser betrieblichen Prozesse zeigt sich erst allmählich.<br />

Die subjektive Schlüsselqualifikation für die neue Rolle, die Marktbezug und Kundenorientierung<br />

diktieren, läuft auf eine Selbstverpflichtung zur Übernahme des Unternehmerblicks ins Angestelltenverhältnis<br />

hinaus. Die modernisierte betriebliche Hierarchie soll die neuen Arbeitnehmer<br />

nicht mehr hindern, aber auch nicht mehr schützen. So beginnt das moderne Shareholder-<br />

3 Zu qualifizierten Angestellten und mittleren Managern: Baethge/Denkinger/Kadritzke 1995; Kotthoff<br />

1997; Kadritzke 1999; Faust u.a. 2000; zur ‚Entgrenzung’ von Angestelltenarbeit: Moldaschl 1997; Kühl<br />

2000; Pongratz/Voß 2000, 2003; Kratzer 2003; zur übergreifenden Interpretation: Sennett 1998;<br />

Deutschmann 2002; Boltanski/Chiapello 2003<br />

14


Unternehmen mit dem gehobenen Personal ähnlich rationell umzuspringen, wie der Rest der Belegschaften<br />

das seit jeher gewohnt ist. Nur verlangt es von jenem für die Chance, zur herrschenden<br />

Minderheit der Überlebenden zu gehören, einen besonderen Preis: die tägliche, allzeit flexible<br />

Demonstration des Einverständnisses in die Lust und Last des Intrapreneurs (vgl.<br />

Faust/Jauch/Deutschmann 1998).<br />

Damit erstreckt sich ein zuvor eher exklusives Phänomen auf ein erweitertes Feld der Arbeitsgesellschaft.<br />

Was einige Beobachter (vgl. Mills 1951; Bourdieu 1982) an den Angestellten als<br />

moderne, durch leistungsfreudige Anpassung geprägte Lebensorientierung gedeutet hatten, dient<br />

heute übergreifend als Passepartout der ‚Individualisierung’ und ist für weit mehr Menschen verbindlich<br />

geworden. Das bringt Glück und Pech zugleich. Einerseits bietet das Ende alter Bindungen<br />

neue Spielräume der persönlichen Entfaltung, andererseits zwingt es die Individuen in Organisationen<br />

„zur Dauerinszenierung individueller Überlegenheit. (...) Die Menschen können es<br />

sich immer weniger leisten, sich dauerhaft auf (...) Rollen und Optionen festzulegen, sondern<br />

müssen versuchen, alles zugleich zu sein, oder zumindest so rasch wie möglich von der Verliererauf<br />

die Gewinnerseite zu wechseln“ (Deutschmann 2002: 191f.).<br />

Unter dem Druck des beschleunigten Wandels in der Berufs- und Arbeitswelt spaltet sich die<br />

Gesellschaft auf vielen Ebenen. Neue Gräben tun sich zwischen vielen Gruppen auf, das<br />

schwächt umgekehrt die Prägekraft der alten arbeits- und sozialrechtlichen Unterschiede. Eine<br />

wachsende Zahl von Angestellten – ausgenommen die Elite der Besitzer von ökonomischem und<br />

kulturellem Kapital – kann sich nicht mehr dauerhaft auf der Gewinnerseite fühlen (vgl. Ehrenreich<br />

1992; Kadritzke 1999). Zugleich entwickelt sich der Staat vom sozialen zum bestrafenden<br />

Wohlfahrtsstaat, der in seinem als nützliche Verschlankung kostümierten Rückzug gewachsene<br />

und neue Interessen gegeneinander ausspielt.<br />

Die vielfältigen Zeichen für das Schwinden eines Mindestmaßes an gesellschaftlichem Zusammenhalt<br />

lassen sich als Ende, zumindest als Gefährdung eines Zustands begreifen, den der<br />

demokratische, sozialstaatlich verfasste Kapitalismus der Mehrzahl der Bürger in den wohlhabenden<br />

europäischen Zentren bislang garantierte (vgl. Ganßmann 2003). Erstmals deutet sich an,<br />

dass in den reichsten Gesellschaften des demokratischen Kapitalismus der Prozess der Individualisierung<br />

die professionellen Mittelklassen, die von ihm bislang profitierten, mit „Declining Fortunes“<br />

(Newman 1993), mit mehr Risiken als Chancen bedenkt. Wo die Entgrenzung und Deregulierung<br />

der Arbeitsformen in Europa die eingangs erwähnte „Dekollektivierung“ (Castel 2001:<br />

108) befördert, raubt dieser ökonomisch und politisch vermittelte Prozess nicht nur einer wach-<br />

15


senden Zahl von Menschen den materiellen Rückhalt, er unterspült zugleich die wichtigsten Institutionen<br />

und Leitplanken der bisherigen Erwerbsgesellschaft. Rasch wechselnde soziale Risiken<br />

beginnen die bislang gewohnten Zuschreibungen und Grenzverläufe wenn nicht zu ersetzen, so<br />

doch zum Teil zu verdrängen. Unablässig verwischt derart die atemlos sich wandelnde Klassengesellschaft<br />

ihre eigenen Spuren. Sie gewährt den Individuen kaum mehr Zeit, das Gemeinsame<br />

ihrer sozialen Lage zu erfahren und in interessenpolitisches Handeln umzumünzen. Die Neubildung<br />

der Klassen kann nicht mehr an einem Ensemble dauerhaft erworbener Merkmal ansetzen.<br />

Kollektive Zusammenhänge sind heute, über die Erfahrung gemeinsamer Interessen hinaus, auf<br />

den Entwurf schlüssiger Ziele angewiesen. Ihr sozialer Sinn erwächst nicht mehr aus dem Gemeinschaftsempfinden<br />

einer ‚geborenen’ Klasse, er wird vielmehr selbst zur Konstruktionsleistung,<br />

über deren Nutzen und Stärken die Individuen in ihrer fremdbestimmt flexiblen Alltagspraxis<br />

ständig neu befinden müssen. Das Subjekt dieser Konstruktionsleistung ist noch nicht deutlich<br />

zu erkennen, und seine kollektive Kraft ist fraglich geworden.<br />

Die Angestellten als modernste Figur des Kapitalismus?<br />

Der hier recht grob skizzierte Wandel lässt sich auch an literarischen Zeugnissen nachvollziehen.<br />

Am Sozialschicksal der ersten Angestelltenberufe haben schreibende Zeitgenossen die übergreifenden<br />

Züge der einsetzenden Moderne schon früh erahnt. Als die ältesten Chronisten der Angestellten<br />

gelten Balzac (1837) und Georg Weerth (1848), doch erst in Una vita (1892) und mit dem<br />

Gehülfen (1908) erzählten Italo Svevo und Robert Walser von einem Leben, das die Schwelle zur<br />

Moderne wirklich überschreitet. Wahrscheinlich waren beide Romane, wie ein Kenner vermutet,<br />

für ihre Zeit noch zu unerbittlich. Sie blieben in einer Phase „der europäischen Hochindustrialisierung,<br />

als die weißen Kragen der Angestellten eben erst ihre Täuschungen ausstrahlten“, wenig<br />

beachtet, zumal noch lange nach der Jahrhundertwende die Berufe des neuen Mittelstands den<br />

typischen Aufstieg aus „Fabrikarbeit und Tagelöhnerei“ (Genazino 2000: 604) versprachen.<br />

Auf radikalere Weise beförderten Fernando Pessoa mit den Lissabonner Fragmenten zum<br />

Buch der Unruhe (1913-1934) und später, am Ende der Weimarer Republik, Siegfried Kracauers<br />

Berliner Essays die Figur des Angestellten zum modernsten Sozialcharakter der bürgerlichen<br />

Gesellschaft. Ihr Blick enthüllt weit mehr als das je Zeitbedingte. Der Hilfsbuchhalter Fernando<br />

Soares kennt schon die subtile Macht der bürokratischen Versprechen: „... aber was sind Sehnsüchte<br />

gegenüber einer Beförderung?“ Aber die Vorstellungen von einer selbstbestimmten Arbeit,<br />

die der sozialen Bewegung der Proletarier kollektive Kraft verliehen, sind ihm nicht vertraut<br />

16


oder bereits abhanden gekommen. Was bleibt: „Ich ging aus dem Hause mit einem großen Ziel,<br />

nämlich rechtzeitig ins Büro zu kommen“ (Pessoa 1985: 20, 96). In Kracauers literarischen Reportagen<br />

hat sich die Welt der Angestellten vollends zu dem Ort entwickelt, an dem die alten<br />

Selbstbilder zerfallen. Das Bewusstein, das diesen Verlust erahnt oder empfindet, flieht nicht<br />

mehr in die ständische Sehnsucht, sondern in die Stätten der Zerstreuung. Hier gleichen dem Beobachter<br />

Kracauer die Illusionen der Angestellten dem Kunstlicht der Vergnügungsetablissements,<br />

das über die Wirklichkeit hinweg blendet: „Wenn der Kellner es ausknipst, scheint freilich<br />

der Achtstundentag gleich wieder herein“ (1930: 126).<br />

Welch ein Fortschritt seitdem. Nach der objektiven Seite hin hat der flexible Kapitalismus den<br />

neuen Angestellten beiderlei Geschlechts den Achtstundentag wieder ausgetrieben 4 , und weit<br />

näher liegt ihnen heute die Frage, wie man rechtzeitig aus dem Büro heraus kommt. Selbst den<br />

neuesten Stand des Dienstleistungskapitalismus hatten kritische Diagnostiker am Ende von Weimar<br />

präzise vorgeahnt. Schon im Jahre 1930 kam Siegfried Kracauer den inneren Widersprüchen<br />

jener ‚Kundenorientierung’ auf die Spur, die heute den Prozess einer betriebswirtschaftlich professionalisierten<br />

Entprofessionalisierung beschleunigt (vgl. vgl. Neuberger 1996; Voswinkel/Korzekwa<br />

2003). Auf der Getränkekarte eines Berliner Kudamm-Restaurants hatte ihm eine<br />

seltsame Auskunft ins Auge gestochen:<br />

„Das Personal ist streng angewiesen,<br />

jeden Gast zufriedenzustellen.“<br />

Für Kracauer enthüllt die verbindliche Absurdität des Befehls weit mehr als das spezielle Betriebsklima<br />

an den Orten personenbezogener Dienstleistungsarbeit. „Sie stempelt zugleich den<br />

Gast zu einem höheren Wesen, das gleichsam in die Unterwelt einkehrt. Daß er zum Übermenschen<br />

gemacht wird, entspricht der Entmenschlichung des Personals“ (1930/1990, S. 234f.).<br />

Und die subjektive Seite? Im selben Jahre, nach der Lektüre von Kracauers Bericht „aus dem<br />

neuesten Deutschland“, stellte Walter Benjamin die Frage, ob nicht die moderne „Organisation<br />

4 Diesen Rückschritt verdeutlicht – aus vernünftiger Ferne betrachtet – der aberwitzige Umstand, dass in<br />

einer Gesellschaft mit hoher Arbeitslosigkeit die Teilzeitarbeit zu 90% von Frauen, die grenzenlose Arbeit<br />

der Expertenberufe und Manager ganz überwiegend von Männern verrichtet wird. Bei der unbezahlten<br />

häuslichen Arbeit ist es folgerichtig umgekehrt.<br />

17


das eigentliche Medium ist, in welchem die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen sich<br />

abspielt“. Zugleich notierte er zum Bewusstsein der betrieblich organisierten Arbeitskräfte: „Die<br />

Anpassung an die menschenunwürdige Seite der heutigen Ordnung ist beim Angestellten weiter<br />

gediehen als beim Lohnarbeiter“ (Benjamin 1930/1972: 221; 220). Aber der modernisierte Typus<br />

leidet nicht nur, wie manche Soziologen und auch Verfasser von Angestelltenromanen zuweilen<br />

unterstellen, entfremdet und wehrlos unter den vorgefundenen Arbeitsbedingungen, formalen<br />

Ordnungen und Abhängigkeitsverhältnissen. Sofern wir uns umwenden und den Blickwinkel<br />

der Menschen im Büro einnehmen, erleben wir Individuen, die nicht nur kleine Machtbedürfnisse<br />

und Geltungssüchte demonstrieren, sondern auch eine Lust am fachlichen Wissen, die Hingabe<br />

an eine als sinnvoll empfundene Aufgabe. Und auch das feine Zusammenspiel von regelhaftem<br />

und subversivem Verhalten, das sozialwissenschaftliche Beobachter im ‚Flurfunk’ der Bürokulturen<br />

und in der täglichen Mikropolitik entdecken, verweist auf höchst unbürokratische Beziehungen,<br />

ja auf Momente der subjektiven Widerständigkeit.<br />

Der Spott, der von der Basis der Angestelltenpyramide her die mittleren und höheren Ränge<br />

trifft, ist einerseits abgestuft und sozial wenig anstößig. Andererseits sind solche informell unartigen<br />

Verhaltensweisen auch Ausdruck einer stillgelegten Opposition, die keinen kollektiven<br />

Ausdruck finden kann. Sie sprechen Bände über das Maß der Entfremdung in der konkreten Arbeit<br />

und verweisen auf die halbierte Vernunft, auf den versteckten Sinn von Bürokulturen, denen<br />

bei oberflächlicher Betrachtung nur das Odium des Kleinbürgerlichen anhaftet. Unselbständig<br />

gehaltene Angestellte senden noch mit ihren Pflanzen und Wandkalendern, mit Familienbildern<br />

und Südsee-Postern verzweifelte Signale aus der Lebenswelt in Max Webers Reich der fehlerlosen<br />

Bürokratie. Und entgegen einem bequemen intellektuellen Gerücht ist gegenseitige Hilfe im<br />

Büro keine seltene Erscheinung. Das kleine alltägliche Engagement ist nicht viel und weit weniger<br />

als der gezielte Zusammenschluss, aber es verweist auf den sozialen Charakter von Ansprüchen<br />

und Maßstäben, die im Berufsverständnis vieler Angestellter eingeschlossen und zugleich<br />

unterdrückt sind. Sie wären, als Ausdruck der gegenwärtigen Arbeitswelt, in Theorie und Praxis<br />

ans Licht zu heben.<br />

Weil mittlerweile die Farben, in denen sich Arbeiter und Angestellte noch unterscheiden mögen,<br />

weiter verblasst sind und andere Unterscheidungslinien hervortreten, führt die von Benjamin<br />

gelegte Spur der Gedanken zur Entfremdung durch moderne Organisationen in die Gegenwart<br />

des flexiblen Menschen (Sennett 1998) und des Arbeitskraftunternehmers (Pongratz/Voß 2000,<br />

18


2003). 5 Das mag den Eintritt in eine Zeit bedeuten, in der die herrschende Form der Arbeit den<br />

ganzen Menschen auf bislang unerhörte Weise ergreift, vordergründig der personalen Herrschaft<br />

ähnlich, die noch Georg Weerths verschlissenem Kommis (1848), Robert Walsers Gehülfen oder<br />

Marieluise Fleissers Magd (1925) widerfuhr – und doch auf einer neuen Stufe der marktgesteuerten<br />

Ökonomisierung von Arbeitskraft (vgl. Pongratz/Voß 2003: 32) ganz anders: nach den abstrakten<br />

Kennziffern und Erfolgsvorgaben des Wertschöpfungsprozesses, deren zielgenaue Erfüllung<br />

zur Sache des ‚freien Willens’ wird. „Dem neuen Angestellten bleibt nicht einmal der Trost<br />

der Entfremdung“ (Siemons 1997: 153). Weit eher nimmt er, solange die Konjunktur des eigenen<br />

Berufs es erlaubt, Zuflucht zur Option der Abwanderung, weil er die Kunst des Widerspruchs<br />

(vgl. Hirschmann 1974) aus Mangel an kollektiver Erfahrung noch kaum erlernt hat.<br />

In dem Versuch, die dem Neuen angemessen Begriffe der Arbeitssoziologie theoretisch zu<br />

schärfen und ihren empirischen Kern von der modischen Schale zu befreien, hätte eine kritische<br />

Sozialforschung Kracauers und Benjamins Gedankenbilder aufzunehmen und die „menschenunwürdige<br />

Seite der heutigen Ordnung“ zu überprüfen. Zu studieren wären die modernen Marktregeln<br />

und Organisationsformen der Arbeit in neuen Facetten. Sie reichen von der lukrativen<br />

Selbstentfaltung über den kundenergebenen „Taylorismus der Seele“ (Zilian 2000) bis zu den<br />

ausgegrenzten, „enteigneten“ Menschen, die als isolierte Einzelne ihrer „Teilhabe an den kollektiven<br />

Ressourcen“ (Castel 2001: 108) beraubt sind. Die inneren Widersprüche dieser Entwicklung<br />

sind an konkreten Gestalten zu entdecken: am IT-Dienstleister, der umso weniger verdient,<br />

je besser und bereitwilliger er die Kunden betreut; an der Hochschulabsolventin, die nach den<br />

Regeln neoliberaler Personalpolitik qualifizierte Projektarbeit zum Praktikantenlohn leistet; am<br />

gestressten mittleren Manager, dem nicht das Geld, sondern die Zeit ausgeht; am weiblichen Bodenpersonal<br />

der Fluggesellschaften, das flexibel arbeiten will, aber ganz anders als die Arbeitsorganisation<br />

es ihm vorschreibt.<br />

Im genauen Blick auf Gemeinsamkeiten in der Vielfalt und in der Suche nach den Chancen für<br />

mündiges Handeln hat sich die arbeits- und industriesoziologische Forschung immer wieder zu<br />

bewähren. Das schließt die Aufgabe ein, in Betrieb und Gesellschaft nicht nur das Verhältnis von<br />

Inszenierung und Wirklichkeit, von Strategien und ihren Nebenfolgen ernst zu nehmen, sondern<br />

auch die subjektiven Ansprüche, mit denen die Menschen ihre objektive Arbeits- und Lebenswelt<br />

zu gestalten suchen.<br />

5 Die Tragfähigkeit dieser Kategorie beurteile ich mit (hier nicht weiter begründeter) Skepsis.<br />

19


Wozu also würde uns Siegfried Kracauer heute raten, methodisch und der Sache nach? Zum<br />

einen, die Angestellten nicht isoliert, sondern im Verhältnis zu den anderen Arbeitskräften und<br />

zum Ganzen der Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Das schließt zum andern ein, sie nicht als<br />

Besitzer einer auf Dauer gestellten, ‚dem Arbeiter’ fremden oder gar feindlichen Mentalität zu<br />

begreifen, sondern als zeitgemäße Personifizierung und Mitgestalter der gesellschaftlichen Verhältnisse.<br />

In diesem Sinne würde der Kundschafter ‚aus dem neuesten Deutschland’ noch heute<br />

dazu ermutigen, den Angestellten, der an sich vielgestaltig existierte und für sich doch keiner<br />

war, ständig neu zu suchen: als Signum eines längst nicht vergangenen Zeitalters.<br />

20


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