Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie

Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie

18.01.2013 Aufrufe

europäischen avantgardistischen Kultur der zwanziger und dreißiger Jahre. Die Entdeckung der Abstraktion in der Kunst, das Prinzip der Montage im Film und der Surrealismus scheinen erst in Verbindung mit Amerika ihr operationelles und experimentelles Potential entwickeln zu können. Abstraktion Das Potential der Leere ist in der unmittelbarsten Deutung das Potential des abstrakten Plans oder Fläche, die den Code Manhattans und seiner Hochhäuser festlegen (‘typical plan’). Abstraktion bedeutet zweierlei: inhärenter Prozess der kapitalistischen amerikanischen Gesellschaft, die zunehmend auf Rationalisierung und Ökonomisierung drängt, und (europäischer) künstlerischer Versuch, Grenzen zu überschreiten, um mehr Freiheit zu erlangen und unerforschte Potentiale freizulegen. In Koolhaas’ Interpretation von Manhattan verschmelzen beide Bewegungen, indem er die amerikanische Ökonomisierung des architektonischen oder städtebaulichen Plans gleichstellt mit seiner eigenen methodischen Lesart der Stadt, die sich auf die manifestartigen Radikalisierungen der europäischen Architekten- und Künstleravantgarde bezieht. Le Corbusiers Domino-Modell und die Idee vom freien Grundriss, der freien Fassade und den zurückgesetzten ‘Pilotis’ war nicht einfach nur ein konkreter konstruktiver Vorschlag für Wohnungsbau in Stahlbeton, es enthält auch die erste formulierte Theorie, die abstrakte Fläche als reales Potential (und nicht als geheimes geometrisches Schema) zu betrachten. Ob es sich um ein architektonisches Potential handelt, mag vorerst eine offene Frage bleiben, in Manhattan jedenfalls handelt es sich zunächst um ein programmatisches Potential. Erst die neutrale und nüchterne Rationalität der Pläne erlaubt die brodelnde Wildheit von Manhattan, wobei allerdings nur die einfachste, unmittelbarste und roheste Form von Rationalität (die auch nur in dieser Form präzise ist) wirksam sein kann. Jede Differenzierung auf zweiter und dritter Ebene, jede bewusste Übertheoretisierung würde das Potential wieder zunichte machen, würde Aktionen kanalisieren und einengen. Abstraktion bedeutet hier nicht ideelle Überhöhung, sondern das Zurückführen und Verallgemeinern von Strukturen und Plänen auf einfachste, neutrale Muster, die ungefähr dieselbe Funktion haben wie der iambische Trimeter für das griechische Epos oder der 4/4-Takt für die Musik – sie rhythmisieren das ‘Stück’ mit einem simplen und durchgängigen Takt, der in Trance versetzen kann und soll. Diese Muster sind zum Teil aus den Plänen der Stadt direkt zu lesen, zum anderen ‘erfindet’ sie Koolhaas in analytisch-hypothetischer Weise. Dabei geht er sogar weiter als Le Corbusier, indem er reine abstrakte Schnitte vornimmt, die die konventionelle architektonische Bezeichnung Grundriss, Ansicht, Quer- und Längsschnitt nicht mehr benötigen, da diese immer noch zu viel ‘architektonische’ Information enthalten. Wie ein Pathologe seziert er nach einem simplen rationalistischen Verfahren den Körper Manhattans: jeweils zwei Horizontal- und Vertikalschnitte bringen das ‘Koordinatensystem’ Manhattans ans Licht. (zwei vorgegeben, zwei erfunden) Der erste Horizontalschnitt identifiziert das Raster Manhattans. Er ist noch scheinbar konventionell und wird gewöhnlich Grundriss oder Stadtplan genannt. Jedoch interessiert sich Koolhaas nicht für dessen gestalterische Informationen, die Beziehungen zwischen Gebäudemassen und öffentlichen Räumen, sondern er lenkt den Blick auf das neutrale Flächenmuster des Rasters selbst, das lediglich aus einer

episodischen Aufreihung von beliebigen Flächen mit jeweils unabhängigem Programm besteht. Den zweiten Horizontalschnitt nennt Koolhaas ‘Lobotomie’. Dieser Schnitt beschreibt die grundsätzliche, profane Trennung von innen und außen, die jede herkömmliche humanistische Problematisierung dieses Verhältnisses ignoriert. Der erste Vertikalschnitt wiederum ist das ‘zoning law’, das die möglichen Umrisse jedes einzelnen Wolkenkratzers als ‘mathematische’ Verordnung festlegt, somit ausschließlich deren Ratio, aber nicht die Gestaltung definiert. WOLKENKRATZER Der zweite Vertikalschnitt bekommt von Koolhaas ebenfalls einen erfundenen Namen: ‘Schisma’ identifiziert die reale Trennung der Funktionen auf den einzelnen Geschossen der Wolkenkratzer, so als ob die anderen nicht existierten; Funktionsmischung als angeblich fundamentales Prinzip städtischen Lebens wird ausgeschlossen. (WOLKENKRATZERTHEOREM Programm) All diese Schnitte haben nun eines gemeinsam: sie identifizieren – mathematisch ausgedrückt – diskrete, geometrische Elemente: reine Flächen, Volumen oder Linien, die voneinander getrennt und jeweils autonom sind. Gälte dies auch für die Programme, die jeweils auf ihnen oder in ihnen stattfinden, so könnte wohl kaum von einer ‘culture of congestion’ die Rede sein, sondern vielmehr von dem braven europäischen Traum der Funktionstrennung (oder -mischung). Dann gälte nur die naive Formel: Plan + Programm, und das alte Missverständnis, das ‘Leere’ mit stützenfreiem Raum übersetzt, auf dem das Leben und die bunten Ereignisse toben sollen, wäre erneut bekräftigt. Doch was für den Plan gelten kann (Neutralität), kann nicht für das Verhältnis zwischen Plan und Programm gelten. Es muss also noch etwas hinzu kommen, was das Verhältnis zwischen beiden dynamisiert: die Erzählstruktur, die Bewegung, die Zeit. OPERATION Drehbuch Der Fahrstuhl wird in ‘Delirious New York’ zum offenkundigen Sinnbild der modernen Zivilisation: 80 oder mehr aufeinander gestapelte Geschosse (die neutralen Flächen) – jedes mit einem eigenen, von den anderen potentiell verschiedenen Programm –, durch die hoch und runter Lifte rasen, auf jedem Stockwerk Leute ausspuckend und wieder aufnehmend. Eine reale Maschine – die unsichtbare Hand? – und nicht eine formale Maschinenmetapher hält den modernen Wolkenkratzer, die moderne Stadt, die modernen Geschäfte, die modernen Leute am Leben und in Bewegung, gleichzeitig ist sie nicht nur selber Sinnbild für Bewegung, sondern produziert sie auch. [Bild 7: Culture of Congestion] Film Montage Wolkenkratzer Was aber erzeugt das Phantastische? Wie entsteht das Unvorhergesehene, das noch nie Gesehene? Wie erzeugt man Wünsche und Begierden?

episodischen Aufreihung von beliebigen Flächen mit jeweils unabhängigem Programm<br />

besteht.<br />

Den zweiten Horizontalschnitt nennt <strong>Koolhaas</strong> ‘Lobotomie’. Dieser Schnitt beschreibt<br />

die grundsätzliche, profane Trennung von <strong>in</strong>nen und außen, die jede herkömmliche<br />

humanistische Problematisierung dieses Verhältnisses ignoriert.<br />

Der erste Vertikalschnitt wie<strong>der</strong>um ist das ‘zon<strong>in</strong>g law’, das die möglichen Umrisse<br />

jedes e<strong>in</strong>zelnen Wolkenkratzers als ‘mathematische’ Verordnung festlegt, somit<br />

ausschließlich <strong>der</strong>en Ratio, aber nicht die Gestaltung def<strong>in</strong>iert. WOLKENKRATZER<br />

Der zweite Vertikalschnitt bekommt von <strong>Koolhaas</strong> ebenfalls e<strong>in</strong>en erfundenen Namen:<br />

‘Schisma’ identifiziert die reale Trennung <strong>der</strong> Funktionen auf den e<strong>in</strong>zelnen Geschossen<br />

<strong>der</strong> Wolkenkratzer, so als ob die an<strong>der</strong>en nicht existierten; Funktionsmischung als<br />

angeblich fundamentales Pr<strong>in</strong>zip städtischen Lebens wird ausgeschlossen.<br />

(WOLKENKRATZERTHEOREM Programm)<br />

All diese Schnitte haben nun e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>sam: sie identifizieren – mathematisch<br />

ausgedrückt – diskrete, geometrische Elemente: re<strong>in</strong>e Flächen, Volumen o<strong>der</strong> L<strong>in</strong>ien,<br />

die vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> getrennt und jeweils autonom s<strong>in</strong>d. Gälte dies auch für die Programme,<br />

die jeweils auf ihnen o<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihnen stattf<strong>in</strong>den, so könnte wohl kaum von e<strong>in</strong>er ‘culture of<br />

congestion’ die Rede se<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n vielmehr von dem braven europäischen Traum <strong>der</strong><br />

Funktionstrennung (o<strong>der</strong> -mischung). Dann gälte nur die naive Formel: Plan +<br />

Programm, und das alte Missverständnis, das ‘Leere’ mit stützenfreiem Raum übersetzt,<br />

auf dem das Leben und die bunten Ereignisse toben sollen, wäre erneut bekräftigt.<br />

Doch was für den Plan gelten kann (Neutralität), kann nicht für das Verhältnis zwischen<br />

Plan und Programm gelten. Es muss also noch etwas h<strong>in</strong>zu kommen, was das<br />

Verhältnis zwischen beiden dynamisiert: die Erzählstruktur, die Bewegung, die Zeit.<br />

OPERATION<br />

Drehbuch<br />

Der Fahrstuhl wird <strong>in</strong> ‘Delirious New York’ zum offenkundigen S<strong>in</strong>nbild <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Zivilisation: 80 o<strong>der</strong> mehr aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gestapelte Geschosse (die neutralen Flächen) –<br />

jedes mit e<strong>in</strong>em eigenen, von den an<strong>der</strong>en potentiell verschiedenen Programm –, durch<br />

die hoch und runter Lifte rasen, auf jedem Stockwerk Leute ausspuckend und wie<strong>der</strong><br />

aufnehmend. E<strong>in</strong>e reale Masch<strong>in</strong>e – die unsichtbare Hand? – und nicht e<strong>in</strong>e formale<br />

Masch<strong>in</strong>enmetapher hält den mo<strong>der</strong>nen Wolkenkratzer, die mo<strong>der</strong>ne Stadt, die<br />

mo<strong>der</strong>nen Geschäfte, die mo<strong>der</strong>nen Leute am Leben und <strong>in</strong> Bewegung, gleichzeitig ist<br />

sie nicht nur selber S<strong>in</strong>nbild für Bewegung, son<strong>der</strong>n produziert sie auch.<br />

[Bild 7: Culture of Congestion]<br />

Film Montage Wolkenkratzer<br />

Was aber erzeugt das Phantastische? Wie entsteht das Unvorhergesehene, das noch<br />

nie Gesehene? Wie erzeugt man Wünsche und Begierden?

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