Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie

Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie

18.01.2013 Aufrufe

propagierte Nicht-Architektur bereits existierte, und zwar versehen sogar mit großer Macht. Zudem handelte es sich bei der „Summer Study“ ausdrücklich um eine Bauaufnahme –, doch steckt hinter dem Fokus auf dem Baulichen und Architektonischen schon der Beginn einer Theorie, welche in den folgenden Jahren zum Vorschein kommen soll. Angesichts der Berliner Mauer, deren Verlauf und bauliche Erscheinung an den verschiedenen Abschnitten (manchmal frei stehend, manchmal von Bebauung umgeben, manchmal ignorant gegen den Kontext, manchmal devot usw.) von Koolhaas genau dargelegt wird, realisiert er nach eigener Auskunft zum ersten Mal, dass im konkurrierenden Verhältnis zwischen Architektur und Stadt der Architektur nicht zu trauen ist. Weil die Architektur der Mauer, ihr Dasein als Objekt, offenbar so „marginal“ war, während ihre Bedeutung so „schwer“ wiegte, weil also architektonische Form und Bedeutung nicht das geringste miteinander zu tun haben müssen, hat in Koolhaas’ Analyse die „Berliner Mauer als Architektur“ etwas zweideutiges und spezifisch hinterhältiges, das nicht auf Anhieb zu durchschauen ist. Erst nachdem er sich damit auseinandergesetzt hat, ist er nach eigenen Worten „ein ernster Student“ geworden. Koolhaas macht demzufolge am Anfang seiner Karriere als Architekt angesichts der 225 Kilometer langen Mauer, welche den westlichen Teil der Stadt Berlin „umzingelt“, die Erfahrung eines Schocks, der nicht von ihren politischen Implikationen ausging (von denen er selbst ja auch nie betroffen war), sondern in erster Linie von ihrer provozierenden Nicht-Architektur, die diese schwerwiegenden politischen Implikationen ermöglichte. Sein Hauptangriff richtet sich aber vor allem gegen die romantischen Träumereien seiner Lehrer (und damit implizit auch gegen Constant), die glauben, mit dieser Art von Nicht-Architektur Freiheit für die ganze Gesellschaft erlangen zu können. Die Berliner Mauer so Koolhaas, beweise das Gegenteil. [Bild 3: Exodus] Hier trifft Koolhaas auch auf einen seiner ersten zentralen Begriffe: void, die Leere, aber nicht im Sinne von Abwesenheit, Mangel, sondern als etwas, was Potential hat, das erstaunliche Verhaltensweisen hervorrufen kann (davon abgeleitet seine bekannteste These, nach der Architektur die Verhinderung von Ereignissen sei, während die Leere Möglichkeiten schaffe). Daraus ergibt sich sein Projekt Exodus, seine Diplomarbeit an der AA, unverkennbar beeinflusst von der Mauer, aber auch von den immer pessimistischer werdenden Projekten der italienischen Gruppe Superstudio, die mit ihren Megastruktur-Entwürfen das Irrationale an scheinbar rationalen Strukturen aufdecken wollen. [Bild 4: New York] Delirious New York Koolhaas ergattert anschließend ein Stipendium an Peter Eisenmans Institute for Architecture and Urban Studies (IAUS) in New York, außerdem studiert er weiter bei O. M. Ungers an der Cornell University, Ithaca.

Das Stipendium nutzt er für sein theoretisches Hauptwerk (das ist es bis heute) Delirious New York, das 1978 erscheint. Zuvor sind schon Teile veröffentlicht worden. Koolhaas beginnt, sich einen Namen zu machen; sein Büro, Office for Metropolitan Architecture, wird 1975 gegründet. Diesem gehören auch an: seine damalige Frau Madelon Vriesendorp und Elias und Zoe Zenghelis, mit denen er sich später aber völlig zerstreitet. [Bild 5: DNY Inhalt] AUFBAU DNY ist genauso wie SMLXL nicht nur einfach ein Buch, in dem sich die Theorie findet, sondern das Buch und seine Gestaltung, sein formaler Aufbau sind selber auch Teil dieser Theorie. DNY ist wie die Stadt Manhattan, wie das Raster, folgendermaßen aufgebaut: Episodisch: es gibt Hauptkapitel, die wie einzelne größere Episoden gelesen werden können (unabhängig von den anderen): über Coney Island, Rockefeller Center, über Le Corbusier und Salvador Dalí, Zusammenhängend ergeben sie vage eine Geschichte von der Kindheit und den Traumata bzw. infantilen Wünschen (Coney Island) bis zum Höhepunkt des Erwachsenenlebens (Rockefeller Center) und dem vorzeitigen Greisenzustand. Jedes Kapitel ist noch einmal in Blöcke eingeteilt, die ebenfalls kleine Episoden, Themen, Aspekte des großen Kapitels aufnehmen. Diese Aufteilung entspricht dem Raster Manhattans. [Bild 6: Das Koordinatensystem Manhattans] Manhattan Manhattan ist der ideale theoretische Ausgangspunkt für Koolhaas, da dort alle (europäischen) humanistischen Theorien über lineare Ursache-Wirkung-Beziehungen, über Archetypen und Urgründe in phantastischer Weise konterkariert und überrannt werden. Manhattan ist “das Produkt einer nie formulierten Theorie”, eine sich ständig selbst perpetuierende Modernisierungsmaschine, die Träume, Bedürfnisse und Lüste erfüllt, bevor man sich ihrer überhaupt bewusst ist, d.h. Manhattan produziert Ergebnisse und Beweise für nie erstellte Aufgaben und Hypothesen. Deshalb ist in Manhattan das Neue immer präsent, und zwar in seiner rohesten und unmittelbarsten Form. Zur gleichen Zeit etwa, da in Europa Le Corbusier sein Do-mino-Modell vorschlägt, Malewitsch sein schwarzes Quadrat auf weißem Grund malt, de Stijl die ‘Weltformel’ präsentiert, entsteht in New York, der “Arena für das Endstadium der westlichen Zivilisation”, die eigentliche Moderne, ohne jede Theorie, ohne Vorankündigung, unbewusst. Bezeichnenderweise besorgt die Nachlieferung dieser Theorie nun ein Europäer, das “retroaktive Manifest für Manhattan”. Und tatsächlich sieht Koolhaas in Manhattan eine Art Geheimformel oder -übereinkunft am Werk, der er den Namen “culture of congestion” gibt, die zwar eine “schamlose” Architektur hervorbringt und oft verrückt erscheint, aber dennoch rationalen Methoden gehorcht; und zwar nicht nur solche der amerikanischen Modernisierung, sondern auch der

propagierte Nicht-Architektur bereits existierte, und zwar versehen sogar mit großer<br />

Macht. Zudem handelte es sich bei <strong>der</strong> „Summer Study“ ausdrücklich um e<strong>in</strong>e<br />

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Angesichts <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er Mauer, <strong>der</strong>en Verlauf und bauliche Ersche<strong>in</strong>ung an den<br />

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umgeben, manchmal ignorant gegen den Kontext, manchmal devot usw.) von <strong>Koolhaas</strong><br />

genau dargelegt wird, realisiert er nach eigener Auskunft zum ersten Mal, dass im<br />

konkurrierenden Verhältnis zwischen Architektur und Stadt <strong>der</strong> Architektur nicht zu<br />

trauen ist. Weil die Architektur <strong>der</strong> Mauer, ihr Dase<strong>in</strong> als Objekt, offenbar so „marg<strong>in</strong>al“<br />

war, während ihre Bedeutung so „schwer“ wiegte, weil also architektonische Form und<br />

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<strong>Koolhaas</strong> macht demzufolge am Anfang se<strong>in</strong>er Karriere als Architekt angesichts <strong>der</strong> 225<br />

Kilometer langen Mauer, welche den westlichen Teil <strong>der</strong> Stadt Berl<strong>in</strong> „umz<strong>in</strong>gelt“, die<br />

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provozierenden Nicht-Architektur, die diese schwerwiegenden politischen Implikationen<br />

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Se<strong>in</strong> Hauptangriff richtet sich aber vor allem gegen die romantischen Träumereien<br />

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Nicht-Architektur Freiheit für die ganze Gesellschaft erlangen zu können. Die Berl<strong>in</strong>er<br />

Mauer so <strong>Koolhaas</strong>, beweise das Gegenteil.<br />

[Bild 3: Exodus]<br />

Hier trifft <strong>Koolhaas</strong> auch auf e<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>er ersten zentralen Begriffe: void, die Leere, aber<br />

nicht im S<strong>in</strong>ne von Abwesenheit, Mangel, son<strong>der</strong>n als etwas, was Potential hat, das<br />

erstaunliche Verhaltensweisen hervorrufen kann (davon abgeleitet se<strong>in</strong>e bekannteste<br />

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immer pessimistischer werdenden Projekten <strong>der</strong> italienischen Gruppe Superstudio, die<br />

mit ihren Megastruktur-Entwürfen das Irrationale an sche<strong>in</strong>bar rationalen Strukturen<br />

aufdecken wollen.<br />

[Bild 4: New York]<br />

Delirious New York<br />

<strong>Koolhaas</strong> ergattert anschließend e<strong>in</strong> Stipendium an Peter Eisenmans Institute for<br />

Architecture and Urban Studies (IAUS) <strong>in</strong> New York, außerdem studiert er weiter bei O.<br />

M. Ungers an <strong>der</strong> Cornell University, Ithaca.

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